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Dr. Katharina Dück: Я schwätzaju Hochdeutsch – das sprachliche Gepäck der Russlanddeutschen

Was ist Muttersprache? Wie hat das Russische, Kasachische oder Georgische die Sprache der deutschen Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion beeinflusst? Welche russlanddeutschen Dialekte gibt es und werden sie noch immer gesprochen? Was ist das „Aussiedlerisch“? Über diese Fragen sowie ihre Forschungen zum Kaukasiendeutschen sowie ihrem künstlerischen Schaffen sprechen wir in dieser Folge mit Dr. Katharina Dück, Künstlerin, Wissenschaftsphilosophin und Sprachwissenschaftlerin am Leibniz-Institut für deutsche Sprache in Mannheim. Zweiter Gast ist Dr. Heinrich Siemens: Als ein Sprecher und Förderer des Plautdietschen gibt er einen Überblick über diese in Deutschland geschützte Minderheitensprache und ihre Sprecher*innen weltweit.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Edwin: Ira, was ist deine Muttersprache? 

Ira: Schwierig zu sagen. Die erste Sprache, die ich gelernt habe, war Deutsch, noch damals in Kasachstan. Erst im Kindergarten habe ich Russisch gelernt. Im Deutschen fühle ich mich sehr sicher. Das Russische ist aber trotzdem meine Herzenssprache geblieben. Wenn jemand mit mir Russisch spricht, dann ist das irgendwie eine andere emotionale Ebene. Wie ist es denn bei dir?

Edwin: Es gibt ja verschiedene Vorstellungen darüber, was eine Muttersprache ist. Aber meine erste Sprache war wie bei dir auch Deutsch. Wobei nicht nur das Hochdeutsch, sondern auch die wolgadeutsche Mundart. Unsere heutige Gästin ist Spezialistin für Sprachfragen: Dr. Katharina Dück ist Wissenschaftsphilosophin und Sprachwissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit und der Zusammenhang zwischen Sprache und Identität. Sie wurde an der Universität Heidelberg im Fach Philosophie promoviert. Derzeit lehrt sie an der Universität Mannheim und untersucht am Leibniz-Institut für deutsche Sprache unter anderem den Dialekt der Kaukasiendeutschen. Außerdem malt sie, schreibt Gedichte und ein Roman wartet auch schon auf eine Veröffentlichung. Katharina Dück ist Vize-Vorständen im Kunstverein Neustadt, Mitgründerin des Heidelberger-Dichter-Kollektivs KAMINA sowie des Neustädter Autorennetzwerks Textur. 

Ira: Katharina, du bist so vielseitig. Wir werden heute versuchen, zu allen deinen Leidenschaften mit dir zu sprechen. Uns und hoffentlich auch unsere Zuhörerinnen interessiert deine Forschungen zu den sozio-linguistischen Aspekten der Russlanddeutschen, zu Themen wie Sprache und Identität, Sprachvarietäten, Sprachverlust, Zweisprachigkeit und vielem mehr. Natürlich möchten wir auch wissen, inwiefern deine russlanddeutsche Herkunft aus der Steppe Zentralkasachstans und die Migrationserfahrung eine Rolle für dein künstlerisches Schaffen spielt. Hier im Leibniz-Institut für deutsche Sprache untersuchst du unter anderem die Mundart der Kaukasiendeutschen und bist dazu 2017 nach Georgien und Aserbaidschan gereist, um Sprecher dieses seltenen Dialekts zu finden. Wie hast du sie aufgespürt und welche Geschichten haben sie dir erzählt?

Dr. Katharina Dück ist Wissenschaftsphilosophin und Sprachwissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit und der Zusammenhang zwischen Sprache und Identität. Derzeit lehrt sie an der Universität Mannheim und untersucht am Leibniz-Institut für deutsche Sprache unter anderem den Dialekt der Kaukasiendeutschen.

Katharina Dück: Aufgespürt habe ich sie mithilfe von zwei Kaukasiendeutschen, die ich nach Georgien und Aserbaidschan begleitet habe. Sie haben mich dort und hier in Deutschland mit vielen Kaukasiendeutschen bekannt gemacht. In Georgien und Aserbaidschan sind wir in ehemalige deutsche Siedlungen gereist. Wir waren in den ehemaligen deutschen Vororten von Tiflis, Alexanderdorf, Neu-Tiflis und Katharinenfeld, heute Bolnissi. Und dort habe ich über die Evangelisch-Lutherische Kirche, die die Schwaben einst dort gegründet hatten, den Kontakt bekommen. So habe ich innerhalb von zehn Tagen 15 Probanden mitten im Kaukasus gefunden.

Ira: Und was hast du von ihnen erfahren? Wie klang denn die Sprache?

Katharina Dück: Sie haben mit mir Deutsch, beziehungsweise Kaukasusschwäbisch gesprochen. Das Kaukasusschwäbisch ist eine besondere Form des Schwäbischen, weil die Schwaben im Kaukasus sehr für sich gelebt haben im Gegensatz z. B. zu den deutschen Sprachinseln an der Wolga. Die, die in diesen kaukasischen Dörfern zurückgeblieben waren, waren meist Mischehen eingegangen und wurden nicht deportiert oder durften nach der Vertreibung zurückkehren. Die Geschichten, die sie mir erzählt haben, sind sehr traumatisch. Sie handeln von Verfolgung, von Verschleppung, von Tod

Edwin: Eine bekannte Kaukasiendeutsche ist die Dichterin Nora Pfeffer. Sie hat vor ihrer Deportation in Tiflis gelebt. Über ihr Schicksal gibt es viele interessante, tragische Sachen auch zu erfahren. Im Vorgespräch hast du erzählt, dass du die meisten Träger dieser Mundart hier in Deutschland gefunden hast und gar nicht so weit von hier. 

Katharina Dück: Viele der Kaukasienschwaben sind in ihre ursprünglichen Gebiete, aus denen ihre Vorfahren ausgewandert sind, wieder hingezogen. Also, die beiden aus dieser Community, die ich vorhin erwähnt habe, die sind tatsächlich in das Dorf gezogen, aus dem ihre Vorfahren auch ausgewandert waren.

Edwin: Bereits deine Vorgängerin hier am Institut, Professorin Nina Behrend hat zu den russlanddeutschen Mundarten geforscht. Kannst du uns etwas über die verschiedenen Mundarten und Varietäten der Russlanddeutschen erzählen?

Katharina Dück: So komplex die Geschichte der Deutschen der Sowjetunion und ihrer Folgenstaaten ist, so komplex sind auch diese gesprochenen Varietäten des Deutschen. Wir haben im Prinzip alle Großtypen deutscher Dialekte, die wir hier in Deutschland haben, auch unter den Deutschen aus der Sowjetunion. Wir haben niederdeutsche Dialekte, also ost-niederdeutsche Varietäten wie Plautdietsch, die sogenannte Mennoniten-Mundart. Wir haben mitteldeutsche Varietäten, also west-mitteldeutsche mit Pfälzisch und auch Varietäten aus Elsass-Lothringen. Natürlich Hessisch. Wir haben ost-mitteldeutsche Varietäten, das sogenannte Wolhyniendeutsch. Und auch die oberdeutschen Mundarten, Westoberdeutsch, Südfränkisch und Schwäbisch und Ostoberdeutsche, also Nord-Bayerisch. Im Wolgagebiet haben sich Dialekte vermischt. Man hat vor allen Dingen eine hessisch-pfälzische Varietät, die kleinere Varietäten verschluckt hat.

Edwin: Von welcher Mundart kann man denn sagen, dass sie noch vital ist? 

Katharina Dück: Sehr vital, weil sie sehr stark über all diese Zeit der Deportationen, der Umsiedlung, der Kommandantur und der Remigration erhalten sind, sind vor allem die mennonitendeutschen Mundarten. Auch das kaukasische Schwäbisch ist sehr gut erhalten. Allerdings alle diese Sprachen oder Varietäten, die heute mehr oder minder gut erhalten sind, haben Sprachkontaktphänomene zum Russischen oder beispielsweise Georgischen. Gerade die ältere Generation, die noch in den ehemaligen deutschen Dörfern gelebt hat, beherrscht meistens bis heute eine Mundart. Das nimmt über die Generationen aber ab. 

Edwin: Weil du das Plautdietsche angesprochen hast: Dazu haben wir ein Interview geführt mit Dr. Heinrich Siemens. Er ist der Vorsitzende des Plautdietsch Freunde Vereins. Das ist ein Verein, der sich der Pflege dieser Mundart verpflichtet hat. Und er ist Betreiber des Tweeback-Verlags, das ist weltweit der einzige Verlag, in dem Übersetzungen und Originale in dieser Mundart erscheinen. Heinrich Siemens ist auch Vertreter im Bundesrat für Niederdeutsch. Denn Niederdeutsch wird in Deutschland gesetzlich geschützt.

Interview mit Dr. Heinrich Siemens

Dr. Heinrich Siemens ist Vorsitzender des Plautdietsch Freunde Vereins und betreibt den Tweeback-Verlag, den weltweit r einzigen Verlag, in dem Übersetzungen und Originale auf Plattdeutsch erscheinen.

Edwin: Woher kommt das Plattdeutsch der russlanddeutschen Mennoniten und wer waren ursprünglich seine Sprecher?

Henrich Siemens: Das Plautdietsche kommt vom östlichsten Rand des Niederdeutschspektrums, im früheren Königlich Preußen um die Stadt Danzig herum. Dort wohnten damals Mennoniten. Sie kamen aus Friesland und aus Flandern und siedelten dann im Verlauf des 16. Jahrhunderts da an und gingen dann aber sehr bald zum Niederdeutschen über, die östliche Varietät des Niederdeutschen, die da in der Gegend gesprochen wurde. Damals war das überhaupt keine von einer Glaubensgemeinschaft oder auf eine Glaubensgemeinschaft beschränkte Sprachvarietät. Alle dort in der Gegend sprachen das. Erst dadurch, dass am Ende des 18. Jahrhunderts Polen aufgeteilt wurde und dieser Teil an Preußen kam, sind in der Folge sehr viele Mennoniten nach Russland auswanderten. Es wurde dann zu einer Sprache, die sehr stark mit den Mennoniten assoziiert ist. Diejenigen, die da in Königlich Preußen erstmal wohnen blieben, kamen zum Teil nach dem Zweiten Weltkrieg mit dieser Sprache nach Deutschland als Flüchtlinge. Sie haben diese Sprache aber schnell aufgegeben. So dass alle diejenigen, die heute Plautdietsch sprechen, Nachfahren derjenigen sind, die im 18. und 19. Jahrhundert ans Schwarze Meer ausgewandert sind.

Edwin: Von Wissenschaftlern wird ja immer wieder betont, dass von allen russlanddeutschen Sprachvarietäten das Mennonitenplatt wahrscheinlich am vitalsten ist. Wie viele Sprecher*innen gibt es?

Henrich Siemens: Ich stimme zu, dass höchstwahrscheinlich das Plautdietsche die vitalste der russlanddeutschen Varietäten ist, was aber vor allem daran liegt, dass am Ende des 19. Jahrhunderts – als Alexander II. viele der ursprünglichen Privilegien aufhob – sehr viele Plautdietschsprecher*innen ausgewandert sind. Zunächst nach Nordamerika und dann ab den 1920er Jahren weiter nach Lateinamerika. So dass die allermeisten Sprecher des Plautdietschen heute gar nicht mehr in Europa und auch nicht mehr in Nordamerika wohnen, sondern in Lateinamerika. Also, vor allem Mexiko und Bolivien. Die wohnen relativ isoliert, so dass die Sprache nicht gefährdet ist. Sie lehnen moderne Konzepte wie Autos oder Strom ab. Vor allem lehnen sie Familienplanung ab, was dazu führt, dass die Familien sehr groß sind und die Anzahl der Sprecher wächst. In Mexico und Bolivien könnte man inzwischen von ungefähr jeweils 100.000 Sprecher*innen ausgehen. In Deutschland spricht man häufig von 200.000. Die Tendenz in Deutschland ist, dass die Sprecherinnenzahl abnimmt, während sie in Lateinamerika wächst. 

Edwin: Gibt es in Russland und Kasachstan noch Sprecher*innen? 

Henrich Siemens: Ein paar Tausend gibt es wohl noch in Sibirien. Aber die allermeisten Plautdietschsprecher*innen aus Russland sind inzwischen nach Deutschland und zum Teil dann auch von Deutschland aus weiter in andere Länder ausgewandert.

Edwin: Für die Bedeutung des Plautdietschen hier in Deutschland spricht auch der Umstand, dass du und dein Kollege Peter Wiens die Plautdietschsprechenden im Bundesrat für Niederdeutsch vertretet. Was ist das für ein Gremium?

Henrich Siemens: Vor knapp 30 Jahren hat der Europarat die Sprachencharta verabschiedet. In dieser Sprachencharta wird die Bedeutung des kulturellen Erbes der Vielsprachigkeit Europas hervorgehoben und den Sprecher*innen dieser verschiedenen Varietäten Rechte zugebilligt. Das heißt also, man hat ein Recht in dieser Sprache unterrichtet zu werden oder Gerichtsverhandlungen durchgeführt zu bekommen. Deutschland hat diese Sprachencharta anerkannt. Als Bund und acht Bundesländer. Und in diesem Bundesrat für Niederdeutsch sind diese acht Bundesländer vertreten, um dann darauf zu achten, dass die Versprechungen, die in der Sprachencharta unterzeichnet wurden, auch erfüllt werden. Wir als Plautdietsche sind in diesem Bundesrat vertreten. Vertreten sind auch die Friesen, Sorben, Dänen und Sinti und Roma.

Edwin: Bedeutet das, dass das Plautdietsche mehr als eine Mundart ist?

Henrich Siemens: Das ist der Unterschied zwischen Plautdietsch und den anderen russlanddeutschen Varietäten. Die anderen russlanddeutschen Dialekte sind Varietäten des Hochdeutschen, während das Plautdietsche als eine eigene Regionalsprache anerkannt ist. 

Edwin: Welche Projekte in dieser Hinsicht gibt es noch?

Henrich Siemens: In meinem Verlag, dem Tweeback-Verlag, werden Bücher mit Bezug zum Plautdietschen schwerpunktmäßig angeboten. Das heißt also, es gibt für diejenigen, die die Sprache noch nicht so gut können oder die die Sprache zwar von Zuhause aus kennen, die sie in der Familie gesprochen haben aber wenig Erfahrung mit der Schriftsprache Plautdietsch haben, für die gibt es zweisprachige Bücher. Wir haben auch Klassiker wie Shakespeare oder Puschkin ins Plautdietsche übersetzt. Darüber hinaus gibt es auch sehr viel Originalliteratur. Es gibt auch den Verein Plautdietsch Freunde, der sich seit über 20 Jahren um die Belange des Plautdietschen in Deutschland kümmert.

Edwin: Du bist 1964 in Lettland auf die Welt gekommen – was eher untypisch ist für Russlanddeutsche. Du bist bestimmt mit vielen Sprachen ins Leben gestartet. Was ist deine Muttersprache?

Henrich Siemens: Plautdietsch. In Lettland gab es eine relativ kleine Plautdietsch-Community. Wir sprachen untereinander alle Plautdietsch. Hochdeutsch war die Sprache der Lutherbibel und der Gottesdienste. In der Schule hatte ich Lettisch und Russisch. Aber das Plautdietsche ist ganz klar die wichtigste von diesen Sprachen, weil das die Sprache ist, die wir in der Familie sprachen.

Ira: Katharina, kannst du uns aus wissenschaftlicher Perspektive erklären: Was ist eigentlich eine Muttersprache?

Katharina Dück: Aus wissenschaftlicher Sicht ist Muttersprache ein schwieriger Begriff, da er sehr missverständlich ist. Im Prinzip ist die Muttersprache eine vom Sprecher in der frühen Kindheit ohne formalen Unterricht erlernte Sprache. Mit dem Begriff Muttersprache meint man meist die Erstsprache. Wir haben aber auch rund um den Begriff Muttersprache noch andere wie Primärsprache, L1, Familiensprache, Herkunftssprache, Erbsprache. Sie sind alle in ihrer Bedeutung ein bisschen anders, je nachdem, was man erfahren möchte. 

Edwin: Wenn sich eine Sprachdiaspora ausbildet, steht sie meist zwischen zwei Einflusssprachen. Wie hat sich das bei den Russlanddeutschen entwickelt?

Katharina Dück: Tatsächlich haben wir bei den Deutschen aus Russland schon immer ein mehrsprachiges Verhältnis gehabt. In manchen Regionen hat man mehr Kontakt nach außen gehabt, in manchen weniger. In der Schule hat man nicht selten eben das (Hoch-)Deutsche kennengelernt oder später die zweite Generation – dann in Kasachstan, Kirgisien usw. – häufig an der Hochschule, dann auch Deutsch gelernt. Oder an den Schulen konnte man schon Deutsch als Fremdsprache nehmen. Ja, und dann eben Russisch oder Kasachisch oder Georgisch. Die Schwaben haben zum Beispiel ganz alte Wörter, die man heute nicht mehr hat im Schwäbischen, weil es modernere Formen gibt. Die sagen „Zwel“ für Handtuch oder für Krautwickler nehmen sie das georgische „Dolma“. Es gibt unterschiedliche Mehrsprachigkeitskonstellationen, die sich eben durch Sprachkontakte, auch durch die Deportation, gebildet haben.

Ira: Das Russische hat je nach Generationen immer auch eine unterschiedliche Rolle gespielt. Meine Großmutter beispielsweise hat Russisch erst nach der Deportation aus der Ukraine gelernt. Welche Bedeutung hat für diese Generation das Russische? Wie war das dann bei unseren Eltern und wie bei uns? 

Katharina Dück: In meinen Interviews habe ich das versucht einzubauen: Wie stehen die Menschen selbst zu den Kontaktsprachen, mit denen sie in Berührung gekommen sind? Die Ergebnisse sind erstaunlich. Die zweite Generation, also diejenigen, die jetzt etwa 70 sind und für die Russisch häufig die Erstsprache war, bewerten das Russische positiv. Sie sagen: „Das ist die Sprache meiner Jugend, meiner Kindheit.“ Bei der ersten Generation, also diese Großelterngeneration, sagen zwei Drittel: Entweder ist ihnen das Russische völlig egal oder sehen es als eine Nutzsprache. Man darf nicht vergessen, dass sie mit dem Russischen eventuell auch traumatische Erlebnisse verbinden. Die jüngste Generation, die mitgebrachte Generation, oder auch hier Geborene, ist da zweigeteilt. Es kommt auf die Kontaktintensität an und wie sehr das von den Eltern gefördert wurde. Wichtig ist auch die Wahrnehmung von außen, das hat auch etwas mit Identität zu tun. Werden diese Kinder hier in Deutschland stigmatisiert als Russen, wenn sie Russisch können? Verbinden sie eventuell negative Emotionen damit? Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Ein Drittel findet es positiv, ein Drittel negativ und einem Drittel ist es egal.

Ira: Zum Begriff Spracheinstellung: Ein Faktor ist auch, wie eine Sprache von außen bewertet ist. Also wie sexy ist denn das Russische in Deutschland? Gibt's dazu auch Untersuchungen?

Katharina Dück: Ja, auch hier am Institut für deutsche Sprache. Die Sprachen, die besonders attraktiv sind, sind vor allen Dingen Französisch und Englisch, genauso auch im Akzent. Das Russische ist die unbeliebteste Sprache in Deutschland, der russische Akzent auch. Jedoch bewerten Menschen unter 30 Russisch eher positiv.

Ira: Das hat sich ja in den vergangenen Jahren auch ziemlich verändert. Ich habe kürzlich mit einer Deutschen aus Russland gesprochen, die in den Nullerjahren nach Deutschland gekommen ist, und sie meint, für sie war und ist das ganz normal, Russisch auch in der Öffentlichkeit zu sprechen. Wenn ich das vergleiche mit den Neunzigern, als wir hergekommen sind, da hieß es: Auf gar keinen Fall Russisch in der Öffentlichkeit sprechen, weil das sehr stigmatisiert war. Und klar, dass dann eben die Rückwirkung ist, dass man als Kind sich dafür schämt und diese Sprache gar nicht mehr sprechen möchte. 

Edwin: Wobei das gebrochene Deutsch ja dann natürlich wieder ein Indiz für die Herkunft war. Und da möchte ich anknüpfen: an das Verhältnis zwischen Identität und Sprache. Denn für viele Aussiedler, also nicht nur die Deutschen aus Russland, das Gleiche betraf auch Aussiedler aus Polen, war diese wahrscheinlich politisch gewollte Erwartung, dass da Deutsche nach Deutschland kommen. Die Gesellschaft war aber nicht darauf vorbereitet. Denn unter den Deutschen verstanden sie im Allgemeinen Menschen, die Hochdeutsch sprachen. Nun kamen die Aussiedler zum größten Teil ohne Kenntnisse des Hochdeutschen, mussten vor den Behörden aber beweisen, dass sie Deutsche sind, haben es offiziell bewiesen, kamen hierher und die Gesellschaft stellte ihnen das Deutschsein dann in Abrede. Das führte zu einer doppelten Fremdheitserfahrung. Damit man sich vorstellen kann, was mit diesen Menschen damals passiert ist: Im Aufnahmeverfahren als Aussiedler musste man ein sogenanntes „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“ ablegen. Dazu gehörte ein Gespräch in einer Mundart mit einem deutschen Beamten. Und der deutsche Beamte hat darüber befunden, ob diese Person diese Sprache zu Hause gelernt hat oder ob sie diese Sprache bei Sprachkursen erworben hat. Und so wurde die Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis nachgewiesen.

Ira: Wo hat dieses Gespräch dann stattgefunden?

Edwin: Anfangs hier in Deutschland. Später musste man diese Tests drüben im Herkunftsland machen.

Ira: Und wie ist das im Moment? 

Edwin: Wenn man Aussiedler in eigener Person werden will, dann muss man nachweisen, dass man familiär vermittelte Sprachkenntnisse hat. Das heißt, man spricht beispielsweise Wolgadeutsch oder Plattdeutsch. Und darüber befindet ein deutscher Beamter, der wahrscheinlich kein Sprachwissenschaftler ist.

Katharina Dück: Ja, das ist auch das Hauptproblem: Viele Deutsche aus Russland sind mit einer gewissen Erwartungshaltung hergekommen. Dort wurden sie als Deutsche wahrgenommen aber hier in Deutschland nicht. Die Situation der Gruppe vor der Migration ist den meisten hier nicht bekannt. Und da ist man sehr schnell in einem inneren Konflikt. Was bin ich dann, wenn ich kein Deutscher bin? Ich kann zwar Deutsch, aber hier spricht keiner dieses Deutsch. Und ich verstehe auch nicht alles hier. Ich kann mich an eine Situation erinnern, wo ich einen Mann aus der ersten Generation zum Arzt begleiten musste, weil der Arzt ihn nicht verstand. Und er sagte: „Ich verstehe nicht, wieso versteht mich der Arzt nicht? Ich spreche mit ihm Deutsch.“ Und dann habe ich ihn gefragt: „Was haben Sie denn dem Arzt gesagt?“ Und er sagte: „Ich habe ihm gesagt, dass ich auf de bol‘nica war und dort han ich mit einem vrač gsproche.“ Aber der Arzt versteht nicht, was bol‘nica (Krankenhaus) oder vrač (Arzt) ist. Diese einzelnen Wörter werden von dieser Generation gar nicht mehr als fremd empfunden. Sie gliedern sie in die Sprache ein, auch grammatisch und lexikalisch. Diese doppelte Fremdheitserfahrung müssen sie also auch sprachlich überwinden.

Edwin: Der Verlust der deutschen Sprachkenntnisse und der sprachlichen Identität war erzwungen. Denn bis 1941, gab es zum Beispiel in der Wolgarepublik ein offizielles und durchgehendes deutschsprachiges Bildungssystem. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieg war die deutsche Sprache in der Sowjetunion stigmatisiert. Es gab zwar keine Sprachverbote, aber man hat sich als Deutscher nicht mehr getraut, Deutsch zu sprechen. 

Ira: Du hast eben beschrieben, der ältere Herr hat von vrač und bol‘nica gesprochen. Dieses Phänomen gibt's ja auch umgekehrt: dass Worte aus einer Fremdsprache in die Sprache, die man im Alltag nutzt, mit einfließen. Ich weiß, als wir nach Deutschland gekommen sind, da hat man beispielsweise von „schwarzowat‘“ gesprochen, also Schwarzarbeit machen. Wurde dieses Phänomen schon untersucht?

Katharina Dück: Ja, die Phänomene treten vor allem bei der zweiten Generation auf. Sprachmischungen sind ganz typisch für die Deutschen aus Russland. Ich habe ein paar Beispiele mitgebracht: „Ja budu hin und her rennen.“ Also, das ist halb Russisch, halb Deutsch, also Aussiedlerisch. Oder „Ja ne budu sebja Gedanken delat.“ Das ist sogar eine Übersetzung von „Sich Gedanken machen“. Da ist schon der Assimilierungsprozess in der deutschen Sprache sehr weit fortgeschritten, weil man anfängt deutsche Sprichwörter zu übersetzen und sie in den russischen Satz einzufügen. Man spricht so in der Community.

Ira: Wie ist es mit russlanddeutschen Familien in Deutschland, die ihren Kindern das Russische nicht weitergeben: Wie kann man diese Einstellung der Eltern erklären? Und wenn man sich dafür entschließt, Kinder zweisprachig zu erziehen, was sind Vorteile, was die Nachteile? 

Katharina Dück: Dazu habe ich eine Studie verfasst. Der Titel ist „Als mein erstes Kind geboren wurde, hatte ich wieder Lust, Russisch zu sprechen“. Für viele dieser dritten Generation stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Russischen häufig erst, wenn man Kinder bekommt. Je positiver meine Einstellung gegenüber dem Russischen ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich diese Sprache auch an meine Kinder weitergebe. Interessanterweise haben Eltern, die das Russische weitergeben, dieselbe Begründung wie Eltern, die die Sprache nicht weitergeben: Man möchte, dass die Kinder es später leichter haben und besser auf das Berufsleben vorbereitet sind. Von denen, die ich interviewt habe, geben zwei Drittel das Russische weiter

Ira: Haben die Kinder Nachteile oder Vorteile davon? 

Katharina Dück: Viele Studien weisen nach, dass es Vorteile bringt, wenn man zwei oder mehrsprachig aufwächst. Es fällt Kindern tatsächlich später leichter weitere Sprachen zu lernen. Es werden auch andere kognitive Bereiche im Gehirn stimuliert, wie räumliches oder logisches Denkvermögen. Allerdings muss ein Kind auch Talent haben für Sprachen. Es muss auch ein gewisses Interesse vom Kind da sein. Da können auch Großeltern unterstützend wirken.

Ira: Du bist nicht nur Wissenschaftlerin, du bist auch Künstlerin. Du malst und du schreibst Gedichte und hast auch schon einen Roman geschrieben. Spielt deine Herkunft eine Rolle in deinem künstlerischen Schaffen?

Katharina Dück: Ganz lange hat meine Herkunft gar keine Rolle in meinem künstlerischen Schaffen gespielt. Nach unserem Vorgespräch habe ich immer wieder überlegt: Wann war der Zeitpunkt, dass ich angefangen habe, das doch einzuflechten und Gedichte über meine Heimatstadt zu schreiben?

Ira: Was ist deine Heimatstadt?

Katharina Dück: Meine Heimatstadt ist die Stadt, in der ich gerade lebe: Neustadt an der Weinstraße. Aber man schreibt trotzdem Texte über die Stadt, in der man geboren wurde, in der man gelebt hat, und über Begegnungen und auch Gedichte über Heimat. Man versucht sich in der Welt zu verorten. Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Ich versuche das mittels Sprache. Und am Anfang hat es eben keine Rolle gespielt. Mein Mann meint, es ist, seitdem ich angefangen habe, diese Interviews zu führen mit den Deutschen aus Russland. Dass ich all diese Geschichten aufgesogen habe und mir immer häufiger Fragen über mich selbst gestellt habe. Und wie war das eigentlich bei meiner Familie? Diese Fragen habe ich schon immer meinen Eltern gestellt. Ich bin doch in Kasachstan geboren, wieso bin ich keine Kasachin? Und so weiter. Vor vier Jahren habe ich angefangen, intensiv diese Interviews zu führen und gleichzeitig über meine Herkunft zu schreiben.

Edwin: Ohne zu wissen, wo du genau herkommst, habe ich es fast erraten, nachdem ich auf YouTube einen Auftritt von dir gesehen habe mit einem wunderbaren Gedicht, was mir richtig Gänsehaut verursacht hat, weil ich so eine Ahnung hatte, von welcher schwarzen Stadt da sprichst.

Ira: Vielleicht hören wir uns das Gedicht mal an.

Katharina Dück: Die schwarze Stadt: Fest halte ich die Hand meines Vaters/ Wir stehen und warten für Zucker und Mehl/ Die Falte zwischen den Augen meines Vaters/ kenne ich nicht/ Schließe enge den Tal’on/ Wir sind in der schwarzen Stadt Geburtsort meines Vaters/ Hier gibt es Kaugummi und grüne Limonade/ Wenn es anfängt zu regnen, schenkt mein Vater mir/ den roten Regenschirm mit bunten Punkten. 

Ira: Und welche Stadt ist es?

Katharina Dück: Es handelt sich um Karaganda. Sie heißt wohl auch schwarze Stadt aufgrund des hohen Kohlevorkommens dort. Ich kenne das tatsächlich nur von Bildern. Ich habe in einem Vorort von Karaganda gewohnt. Für mich war das immer ein Erlebnis, wenn wir nach Karaganda gefahren sind und in den Zirkus oder in den Park. Dort gab es Fontänen und es ist die Stadt von Kaugummi und grüner Limonade. In der Erinnerung sind der Smog und die schlechten Straßen ausgeblendet. Heute leben dort nur ganz wenige Deutsche.

Edwin: Karaganda und das Gebiet drum herum war ein einziger großer Gulag, der KarLag. Da sind sehr viele Menschen damals eingepfercht gewesen. Wie sind deine Großeltern hingekommen?

Katharina Dück: Das kann ich gar nicht sagen. Mütterlicherseits waren die in Semipalatynsk, also auch nicht gerade eine herrliche Erholungsgegend. Es war eine zutiefst atomverseuchte Region. Da gab's ab und zu mal ein Kalb, das zwei Köpfe hatte, und man hat sich keine Gedanken gemacht, wie gefährlich das ist. Mein Großvater, dessen Vorfahren Mennoniten waren, hat eine Schwäbin geheiratet aus dem Hoffnungsthaler Kirchenspiel in der Ukraine. Der andere Großvater kam aus Baltzer von der Wolga und er hat eine Krimdeutsche geheiratet.

Edwin: In einer Kurzgeschichte beschreibst du die Ankunftszeit hier in Deutschland. Die Geschichte heißt „Frau Numrich“. Was war dir in dieser Geschichte wichtig?

Katharina Dück: Es sind vor allem meine Kurzgeschichten, die sich mit dieser Zeit beschäftigen. Wichtig ist mir, dass ich als Mädchen, ich bin ja mit sechs Jahren hierhergekommen, immer wieder auf wunderbare Menschen gestoßen bin, die mich unterstützt haben, diese Frau Numrich zum Beispiel. Das war unsere Vermieterin und sie hat mich einkaufen geschickt und mir als Belohnung ein paar Mark für ein Mickymausheft gegeben. Das war für mich eine wahnsinnige Anerkennung. Ich war nicht das russische Mädchen für sie. Und genau davon handeln meine Geschichten. Man macht nicht nur negative Erfahrungen.

Ira: Wer übrigens deine Geschichte nachlesen möchte: „Der Kaugummiautomat“ ist im Almanach der russlanddeutschen Autoren von 2020. Hast du Erinnerungen an die Steppe?

Katharina Dück: Ganz, ganz viele und ganz gute. Ich bin regelmäßig ausgerissen in die Steppe. Bei uns hat die Steppe direkt hinter der Haustür angefangen und meine Eltern mussten jedes Mal das halbe Dorf mobilisieren, um mich zu suchen. Aber ich fand es spannend, diese Weite und diese Ferne.