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Dilek Güngör und Viktor Funk – Die Heimat der anderen

Jeder fünfte Mensch in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte mit zum Teil individuellen oder auch gruppenspezifischen Vorstellungen von Heimat und Identität. Noch sind deren Ansichten in Literatur, Kultur und in den Medien unterrepräsentiert. Warum es so ist, und was bewegt diese Menschen, sprachen wir mit der Schriftstellerin Dilek Güngör und dem Autor Viktor Funk.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Ira: Wenn man in Deutschland Edwin, Irina, Dilek oder Viktor mit Vornamen heißt, dann hört man häufig die Frage: Woher kommst du eigentlich wirklich? Das Thema Herkunft scheint in diesem Land eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Das ist auch ein Thema, mit dem sich unsere zwei Gäst*innen sehr intensiv beschäftigen.

Edwin: Mit dem Thema Herkunft ist auch das Thema Heimat verbunden. Wir sind eine Migrationsgesellschaft. Es kommen Menschen mit neuen Perspektiven, mit neunen Ansichten über Heimat, über Identität, über Herkunft. Deswegen machen wir die heutige Sendung zum Thema Ansichten von Menschen mit einer Migrationsgeschichte in unserer Gesellschaft und Literatur. Diese Folge ist eine Kooperation mit dem Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe in Detmold anlässlich unserer Lesung mit Dilek Güngör und Viktor Funk, die am 27. Juni 2021 in Detmold stattfinden wird und die ein Beitrag zum „Experiment Heimat“, einem Projekt der Literaturbüros in Westfalen, ist.

Ira: Dazu heißen wir Dilek Güngör herzlich Willkommen. Sie ist Journalistin und lebt in Berlin. Geboren wurde sie in Schwäbisch Gmünd und ihre Eltern sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert.

Edwin: Unser Gast ist Viktor Funk. Er ist als Jugendlicher aus Kasachstan in einer Familie von Aussiedlern nach Deutschland gekommen.

Ira: Und auch er ist Journalist. Beide sind Autor*innen und beschäftigen sich in ihren autobiographischen Romanen beide mit ihrer Herkunft und auch mit ihrem Streben nach Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft. Es gibt viele Parallelen in ihren Biografien. Über diese sprechen wir heute. Vor allem sprechen wir auch über unseren Platz in dieser Gesellschaft als Menschen mit Migrationsgeschichte und auch über unsere Position in postmigrantischen Diskursen.

Edwin: Dilek, was verstehst du unter dem „einfachen“ Begriff Heimat?

Dilek Güngör: Ich habe schon so oft über Heimat gesprochen oder versucht zu definieren, was das für mich ist. Und jedes Mal fällt es mir schwer, es in einem Satz zu beantworten. Es ist vielleicht einfacher es aus der anderen Perspektive zu beantworten, dass man immer dachte, meine Heimat muss irgendwo woanders sein. Als ich Kind in Schwäbisch Gmünd war, konnte das unmöglich sein, dass das meine Heimat ist. Alle Leute wussten immer: Die wohnen zwar hier, aber das ist doch nicht ihre Heimat. Auch als Erwachsene und schon längst in Berlin wohnend sagte ich, ich fahre in den Sommerferien nach Hause, worauf mich Leute fragten: Fährst du in die Türkei? Daran merkt man die Breite des Begriffs von Zuhause, von Heimat, von Zugehörigkeit. Ich finde, der umfasst so vieles, dass ich mich eine ganze Zeit lang einfach nur auf dieses Gefühl von Zuhause fokussiert habe. Meine Heimat? Ich wusste nicht, wo die Heimat ist. Die Türkei sollte es angeblich sein. Da war ein Ort, den ich als Kind immer in den Sommerferien mit den Eltern besucht habe. Aber da fühlte ich mich nicht besonders beheimatet. Ich wusste dieser Ort, also Schwäbisch Gmünd, wo ich groß geworden bin, der ist es auch nicht, weil er für die anderen nicht meine Heimat war. Das Zuhause bei meinen Eltern war meine Heimat.

Ira: In deinem Roman „Ich bin Özlem“ beschreibst du, welche Kraft es dich gekostet hat, dich in einer Gesellschaft zu behaupten, die besessen ist von der Frage nach Zugehörigkeit. Deine Heldin wollte immer genauso sein wie die Bundesdeutschen ohne Migrationsgeschichte. Wie wichtig ist es dir heute, was andere über dich denken? Hast du das Gefühl, du gehörst dazu?

Dilek Güngör: Ich glaube, es wird einem weniger abverlangt, so zu sein wie die anderen. Vielleicht nur ein Perspektivwechsel, weil ich jetzt eben auf die fünfzig zugehe und nicht mehr neunzehn bin. Mir wird zunehmend weniger wichtig, was andere denken. Aber ich vermute, dass ich trotzdem unbewusst noch ganz viele Verhaltensmuster habe, bei denen ich insgeheim trotzdem versuche zu gefallen und einem vermeintlichen Ideal nacheifere. Ich denke, dass wir alle einem Ideal nachstreben und wie die anderen sein wollen. Aber bei uns ist es einfacher das an Merkmalen festzumachen.

Ira: Was waren das für dich für Merkmale in deiner Kindheit und Jugend?

Dilek Güngör: Als Kind sind es ja ziemlich offensichtliche und ziemlich schlichte Dinge, wie zum Beispiel: Was haben die anderen auf ihrem Vesper in der Schule oder was haben die an oder was machen die am Wochenende und wie sprechen die und wie sehen die aus und was haben die für Kaffeetassen? Ich habe das an ganz vielen sehr offensichtlichen Dingen festgemacht. Das Verheerende ist aber, dass man diesem Denken verhaftet bleibt. Es kostet mich Anstrengung, diese festgefahrenen Denkweisen wegzuschieben. Ich meine immer noch, ich erkenne jemanden an der Art, wie er spricht oder wie er gekleidet ist oder was er auf sein Brot macht oder was er nicht auf sein Brot macht.

Dilek Güngör im Gespräch mit den Steppenkindern. Rechte: Ira Peter

Edwin: Viktor, in deinem Roman „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ geht es ja auch um einen jungen Menschen, der nach Deutschland kommt und seine Zugänge in die Gesellschaft sucht. Zum Teil ist dein Roman auch autobiografisch. Ging es dir auch so ähnlich wie Dilek?

Viktor Funk: Ja, ich hatte gerade ganz viele Erinnerungen. Unter anderem als das allererste Mal drei deutsche Freunde zu mir nach Hause kamen. Da war ich bereits siebzehn und hatte schon fünf Jahre in Deutschland gelebt. Das war 1995. Mir war es damals wichtig, dass zu Hause nicht irgendwas komisch ist. Ich habe meine Eltern und meine Schwester weggeschickt. Hauptsache: da ist niemand, der peinlich sein könnte. Und ich glaube, gerade in diesem Bemühen, alles möglichst so zu machen, wie das sein soll, ohne zu wissen, wie das sein soll, habe ich wahrscheinlich übertrieben. Meine Mutter hatte viel Kuchen gebacken. Es gab zu viel zu essen und wir wollten einfach nur zusammen einen Film gucken. Alle diese Menschen sind bis heute in meinem Leben Freunde geblieben. Von daher, glaube ich, war das alles nicht ganz so peinlich und schlimm. Ich hatte tatsächlich starken Anpassungsdruck oder besser gesagt, einen “Nichtauffallensdruck“. Ich war ein Kind und wir reden von Anfang der 1990er Jahre. Da war der Anspruch, seine eigene Identität auch zu behalten oder leben zu können – so wie das heute vielleicht stärker schon in die Gesellschaft durchgedrungen ist – noch überhaupt nicht da. Dazu war die Gruppe der Spätaussiedler auch eine, die sich als deutsch begriff oder auch dem Papier nach als ethnisch deutsch galt. Und auch dann entsprechend von sich aus tendenziell, sich eher stärker an das Land anpassen wollte, was sie meistens als ihre alte Heimat begriffen haben oder auch bis heute begreifen. Bei mir waren die ersten Jahre auf jeden Fall davon geprägt, eher nicht aufzufallen, nicht komisch zu sein. Das setzt eine eigenartige Dynamik in einem frei, eine Art vorausschauendes Vermeiden von möglichen Konfliktpunkten. Erst zum Schulende hin ging das in ein Ausleben der Individualität über. Erst da machte ich mich frei von dem Druck, der auf einem lastete. Der Druck kam natürlich nicht nur von der Schule oder von der Gesellschaft im Sinne von Nachbarschaft oder Umgebung, in der man lebte, sondern natürlich auch von Zuhause, wo die Eltern versuchten auch irgendwie klarzukommen mit der neuen Situation.

Edwin: Was macht diese Unterdrückung der eigenen Identität mit einer Persönlichkeit?

Viktor Funk: Es kommt drauf an, wie man sowas verarbeitet. Es gibt Familien, in denen das auch mal thematisiert und besprochen werden kann. Nach meiner Beobachtung wird in Familien, die aus eher konservativeren, patriarchaleren, weniger demokratischen Gesellschaften oder Strukturen stammen, wenig über so etwas geredet. Und wenn, dann eher im Sinne von: Was sollen die anderen über uns denken? Wir hatten ein bisschen Probleme mit älteren Nachbarschaften. Wir waren in einem kleineren Haus die ersten mit Spätaussiedlerhintergrund. Dann hieß es in der Nachbarschaft gleich: Oh, Gott, die Russen sind da! Bis wir uns kennengelernt haben, dann war alles natürlich entspannt. Aber solange du diesen Druck spürst und ihn gegen dich richtest, dann ist das langfristig gesehen nichts Gesundes. Das bricht irgendwann auf und kann sich über Aggressionen gegen sich selbst, gegen andere oder über eine ganz radikale Ablehnung von dem Neuen hier entladen. Das merkt man zum Beispiel gerade in der Spätaussiedlercommunity, wo es ja welche gibt, die plötzlich ein ganz großes Herz für Russland, Kasachstan oder was auch immer entdecken, wobei es absolut klar ist, dass sie es überhaupt nicht können, weil sie viel zu jung waren, als sie hierherkamen. Da wird die Vergangenheit idealisiert. Bei anderen gibt es eine totale Idealisierung des Neuen und eine negative Ablehnung des Alten. Das finde ich bedenklich. Ich sehe das als ein Riesengewinn, wenn man in der Lage ist, weder das eine noch das andere für die eine Wahrheit zu halten, sondern versucht das Positive aus verschiedenen Welten zu sehen und auch nichts zu leugnen.

Ira: Hast du dich für deine Herkunft auch geschämt?

Dilek Güngör: Ja, ich glaube Scham ist ein zentrales Thema. Ich glaube auch, dass Verdrängen an sich problematisch ist. Wir verdrängen, weil wir uns schämen. Wir verdrängen etwas, was wir nicht zeigen wollen. Wir glauben, unser Essen stinkt. Wir glauben, unsere Klamotten sind komisch. Wir glauben, unsere Wohnung ist komisch eingerichtet. Ich erinnere mich an einen Moment, wie ich nach Hause komme und da sitzt ein Junge aus der Parallelklasse mit seinem Vater bei uns auf dem Sofa. Meine Eltern hatten einen Teppich, den sie verkaufen wollten und der Vater dieses Jungen hatte ein Teppichgeschäft. Und da sitzt dieser Junge und sieht, wie wir wohnen. Mir war das so peinlich! Dabei gab‘s ja gar nichts zu schämen. Aber ich glaube, als Kind schämt man sich für so vieles.

Viktor Funk: Gleichzeitig merkt man, wenn man jetzt selbst Kinder hat, dass es etwas Normales ist und dass das wenig mit Migrationshintergrund zu tun. Diese Scham hat sehr viel mit Unsicherheit zu tun: Genüge ich jetzt dem, was diese Gesellschaft eigentlich von mir will?

Edwin: Was ich sehr interessant fand, an deinem Roman war auch die Art, wie dein Protagonist mit Gewohnheiten umgeht, also wie er ein Stück Heimat in die Gewohnheiten reinbringt. Dein Hauptprotagonist ist leidenschaftlicher Angler und ich hatte den Eindruck, dass er gerade in dem Angeln seine Identität sieht.

Viktor Funk: Da ist auf jeden Fall was dran. Es ist jedenfalls ein Ort oder auch eine Umgebung oder ein Hobby, das sehr verbindend ist. Ich habe durch diverse Angelvereine, in denen ich in Deutschland war, sehr viele Menschen kennengelernt. Dort hatte ich auch die Erfahrung gemacht, dass viel auf „die Russen“ geschimpft wurde, die die Teiche leerfischen. Und wenn ich dann so nebenbei fallen ließ, woher ich komme, dann war oft erstmal: Oh, naja, du bist anders. Und dann aber im zweiten oder dritten Schritt, dann doch schon solche Fragen: Und wie macht man das dort? Oder auch mal wirklich Interesse an dir selbst. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass man in diesen ganzen Identitätsdebatten nie vergisst miteinander zu reden. Was mir nicht gefällt ist, dass man sehr schnell zu einem Kommunikationsabbruch geht, wenn bestimmte Ansichten nicht passen.

Edwin: Es gibt also einen Unterschied zwischen dem Nachbohren „Woher kommst du eigentlich her?“ und Empathie?

Viktor Funk: Ja, absolut. Es gibt zum Beispiel relativ viele schwarze Menschen in Frankfurt, die auch hier geboren worden sind und da kann ich schon verstehen, dass diese Menschen echt genervt sind, wenn sie ihr Leben lang gefragt werden, wo sie herkommen. Die sind hier geboren, wurden hier sozialisiert. Andererseits kann die Frage, je nachdem wie sie gestellt wird, auch ein Gespräch eröffnen und Menschen zueinander bringen. Es ist doof, so eine Frage gleich am Anfang zu stellen, aber es ist nicht unhöflich, wenn das wirkliches Interesse an einem Menschen ist.

Ira: Dilek, deine Romanfigur Özlem fragt sich: Was bin ich ohne das Türkische? Fragst du dich das auch?

Dilek Güngör: Ja. Ich habe gemerkt, dass mein ganzes künstlerisches Schaffen und auch meine Themen, die mich als Journalistin interessieren, sich immer in diesem Bereich bewegen. Und auch Romanthemen, die ich mir aussuche, sind ganz oft von meiner Erfahrung geprägt. Dieses sich fremd fühlen klingt so statisch. Man versteht darunter: man fühlt sich fremd und man fühlt sich für immer fremd. So ist es ja gar nicht.

Ira: Hast du Erfahrung mit Rassismus gemacht?

Dilek Güngör: Als ich klein war, klang Rassismus für mich, als wäre das ein ganz riesiges großes dämonisches Wort und hätte etwas mit körperlicher Gewalt zu tun. Aber inzwischen denke ich, dass Diskriminierung und Rassismus sich an viel kleineren Stellen bemerkbar machen. Das kann schon ein Naserümpfen sein, oder jemand setzt sich weg von dir, oder auch ein Ausgrenzen, weil man anders ist. Das sind für mich auch schon kleine Rassismen.

Ira: Rassismus hat als Thema in der Öffentlichkeit an Bedeutung in der Vergangenheit gewonnen und wird auch viel in Medien diskutiert. Nimmst du an diesem Diskurs teil? Wie empfindest du ihn auch von der Tonart?

Dilek Güngör: Ich bin mehr eine stille Beobachterin. Ich schaue mir das an, aber ich beteilige mich nicht an den Diskussionen. Ich mag eine konstruktive, energievolle Wut, die sagt: Jetzt hört doch mal zu! Oder: Jetzt möchte ich das klarstellen! Ich mag es nicht, wenn die Wut in so eine aggressive Wut umschlägt und auch anderen das Wort verbietet oder wenn man spitzfindig wird und jeden falsch benutzten Begriff im Mund umdreht. Die Begriffe ändern sich so schnell, wenn man jetzt allein auf meine Generation schaut: vom Gastarbeiterkind zum Ausländerkind, zum Emigranten, zum Deutschen mit Migrationshintergrund, doch nicht mit Migrationshintergrund, mit Migrationsgeschichte. Man hechelt diesen neuen Namen hinterher. Ich bin auch nicht immer auf dem neuesten Stand. Man muss alles erstmal lernen und das hat nichts mit Boshaftigkeit oder Ignoranz zu tun.

Edwin: Viktor, sind denn die Russlanddeutschen aus deiner Sicht auch von einem bestimmten Rassismus betroffen? Was beobachtest du aktuell an Debatten?

Viktor Funk: Das ist ein sehr weites Feld und hat zwei Seiten. Das Problem ist schon der Begriff Russlanddeutscher, weil viele in Deutschland Geborene uns als „Russen“ wahrnehmen. Es gibt Kolleg*innen, die spaßeshalber sagen: Ach, du als Russe müsstest das doch wissen. Das sind Floskeln und das ist nicht böse gemeint. Aber es passiert nach wie vor. Viele haben bis heute nicht verstanden, was das für eine Gruppe ist, die da zwischen hauptsächlich 1980er bis Ende 1990er Jahre zugewandert ist, und die eine, wenn auch sehr alte, Verknüpfung zu Deutschland hat. Es gibt definitiv so etwas wie einen antislawischen Rassismus. Ob er ein grundsätzlich anderer ist wie ein Rassismus gegen Schwarze oder Araber oder wen auch immer, das weiß ich nicht. Der hat etwas mit der Wertigkeit von bestimmten Gruppen zu tun. Die eine Gruppe ist weniger Wert als die andere. Gleichzeitig weiß ich auch aus vielen Diskussionen, Debatten innerhalb meiner Familie, Bekanntschaft und Verwandtschaft, dass es auch innerhalb der russlanddeutschen Gruppe Rassismen gibt. Die sind zum Teil mitgebracht und richten sich gegen Zentralasiaten oder gegen andere. Ich habe schon Anfang der 2000er Jahre mit der damaligen Spätaussiedlerbeauftragten in Niedersachsen in einem privaten Gespräch über Rassismen gegenüber Muslimen diskutiert. Das gibt es auch und das ist etwas, was ich innerhalb meiner eigenen Verwandtschaft leider auch manchmal feststellen muss. Das sind für mich recht traurige Momente, weil die Menschen sich selbst dabei nicht sehen. Sie sehen sich vielleicht selbst als Opfer. Aber sie sehen nicht, dass sie selbst eine Stigmatisierung gegen andere anwenden.

Edwin: In Deutschland hatte man angenommen, dass die Menschen, die nach Deutschland migriert sind, irgendwann auch wieder zurückgehen. Man glaubte, dass die Vorstellung über Deutschland und Heimat gleich bleibt. Nun sind die Menschen aber geblieben und Deutschland ist eine Migrationsgesellschaft geworden. Etwa jeder Vierte hat einen Migrationshintergrund und diese Menschen suchen ihre Heimat auch in Deutschland. Hast du eine Vorstellung darüber, wie sich denn so die Ansicht über Heimat hier in Deutschland dadurch wandeln wird?

Viktor Funk: Ich glaube, es gibt einen positiven Wandel von diesem Begriff und der entwickelt sich glücklicherweise weg von einem geographischen Begriff und dieser vermeintlichen Leitkulturdebatte hin zur Wertedebatte. Ich habe schon vor Jahren, als diese unsäglichen Sarrazin-Debatten liefen gedacht: Wir müssen nicht über irgendeine Art von Kultur reden, sondern über Werte. Ich würde mich gerne als Gesellschaft auf unantastbare Prinzipien verständigen: Keine Gewalt, keine Gewalt gegen Kinder, Gleichstellung von Mann und Frau und so weiter. Werte, auf die sich alle einigen können, die herkommen. Das wäre eine Basis, auf der alles andere ausdiskutierbar wäre. Bestimmte Prinzipien, die mit Demokratie und Gleichbehandlung zu tun haben, dürfen nicht in Frage gestellt werden. Da sehe ich schon eine positive Entwicklung. Dass es sehr laut wurde in letzter Zeit, auch im Zuge dieser ganzen Identitätsdebatten, das betrachte ich als etwas Positives. Jetzt wollen viel mehr Menschen mitreden, die vorher zu lange geschwiegen haben. Ich glaube, dass die jetzt auch einen gewissen Frustmoment erstmal abbauen müssen, um dann in einer konstruktiven Phase anzukommen. Ich bin da optimistisch.

Ira: Das ist vielleicht auch eine Generationenfrage, weil unsere Eltern, Großeltern sich nicht unbedingt als Migranten sehen, sondern teilweise als Heimkehrer. Wir Jüngeren haben aber das Bedürfnis da mitzusprechen. Wie nimmst du unsere Position da wahr? Haben wir überhaupt eine Berechtigung mitzusprechen bei Menschen, deren Eltern wie bei Dilek zum Beispiel aus der Türkei stammen?

Viktor Funk: Während du mir gerade die Frage gestellt hast, habe ich gemerkt: Das setzt voraus, dass ich ein Teil dieser Gruppe bin. Und da fängt es ja schon an: Auf dem Papier bin ich das. Aber durch die Sozialisation, die ich erfahren habe und die Freundschaften, die ich erfahren habe, habe ich sehr wenig Kontakt zu anderen Spätaussiedler*innen. Das ist erst in den letzten zwei, drei Jahren aufgekommen. Und vor allen Dingen dank euch und durch euch mit sehr positiven Erfahrungen, weil ich merke: Es gibt viel mehr Menschen unserer Generation, die als Kinder herkamen oder hier geboren wurden, die viel diverser denken, die auch viel politischer sind und auch nicht so verbissen sind, wie vielleicht die Generation unserer Eltern oder Großeltern noch. Und verbissen meine ich nicht negativ: Die mussten hier irgendwie zurechtkommen in einer deutlich stressigeren Phase des Lebens als wir. Ich glaube, wir können gerade dadurch, weil wir emotional an diesen ganzen Themen noch nah genug sind, ohne zu nah zu sein, dass es gleich radikal wird, ist unsere Stimme diejenige, die vielleicht etwas aufzeigen kann, was andere noch nicht so sehen. Ich glaube, wir sind in der Lage, ruhiger über viele Sachen zu reden. Ich glaube, dass sehr viele, die vieles gut meinen, mit der Art, wie sie das vortragen, etwas zerstören, weil die Gesprächsbereitschaft auf der anderen Seite dann eher sinkt. Weil die dann nicht bereit ist zuzuhören, sondern sich eher angegriffen oder verunsichert fühlt.

Edwin: In dem Essayband „Eure Heimat ist unser Albtraum“, der 2019 erschienen ist, gehen Autor*Innen den Begriff Heimat zentral an. Darin heißt es unter anderem, Zitat: „Heimat“ hat in Deutschland nie einen realen Ort, sondern schon immer die Sehnsucht nach einem bestimmten Ideal beschrieben. Einer homogenen christlichen, weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen.“ Eine große Sonntagszeitung meinte dazu: „Endlich schreiben die anderen“. Muss es denn so wütend und fundamental sein? Hört sonst niemand zu, Dilek?

Dilek Güngör: Ich tu mich immer schwer mit so Statements, die etwas so festnageln wollen. Ich glaube, dass es ganz viele Deutsche gibt, die sich gegen diesen Satz verwehren würden und sagen: Nein, das ist überhaupt nicht unser Begriff von Heimat gewesen oder dieses patriarchale System, wo der Mann das Sagen hat und die Frauen eben zu Hause sind.  Es kann gerne laut sein. Wenn man laut ist und was plakativ sagt, dann muss man vielleicht auch so ein bisschen holzschnittartig sein, dann kann man nicht so ins Detail gehen, dann trifft es vielleicht auch viele zu Unrecht. Es ist gut, wenn dann hinterher trotzdem nochmal Zeit ist für ein ruhiges Gespräch und für ein klares Miteinander. Ganz viele Autorinnen und Autoren, die bei diesem Band mit dabei sind oder auch Leute, die wir aus Kolumnen aus Zeitungen kennen, wenn wir die bei einer Lesung, bei so einer Interviewsituation erleben, sind das ganz freundliche, überlegte, reflektierte Menschen und man denkt: Diese Person hat diesen Artikel geschrieben? Ich glaube manchmal erfordern unterschiedliche Medien auch einen unterschiedlichen Ton. Deshalb würde ich mich da jetzt gar nicht so abschrecken lassen.

Ira: Ich möchte zum Ende nochmal auf eure zwei Romane zurückkommen. Viktor, dein Roman heißt ja: „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“. Edwin und ich haben schon in einigen unserer Podcastfolgen vom Bienenstichmoment gesprochen und freuen uns, dass du ihn uns heute erklärst und diese Stelle auch vorliest.

Viktor Funk: Dieser Bienenstichmoment beruht auf einer wahren Begebenheit. Als wir damals im Januar 1990 nach Wolfsburg kamen, gab es ein paar Tage später eine Art Begrüßung im Rathaus von Wolfsburg. Da saßen unzählige Menschen an kleinen Tischchen. Überall stand da ein Kuchen, das war ein Bienenstich. Das war mir sehr in Erinnerung geblieben. Und überhaupt, dieser Geruch nach Vanille und Mandeln… Und ich glaube, dass sinnliche Erfahrung mit bestimmten Dingen sehr viel mit Heimat zu tun haben und weniger geografische Verortungen. Ich weiß genau, wie es im Schrank meiner Großmutter im Wohnzimmer immer gerochen hat, weil da Gewürze und Zutaten waren.
[Hier folgt ein Auszug aus dem Roman „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“]

Ira: Vielen Dank für die Stelle aus deinem Roman. Dilek, hast du auch einen Bienenstichmoment? Hast du vielleicht bestimmte Gerüche, die du mit Heimat oder mit deiner Familie verbindest?

Dilek Güngör: Mir fällt eine Stelle vom Anfang meines Romans ein, wo die Heldin sich Sorgen macht, sie könnte nach Essen riechen. Mit Geruch verbinde ich tatsächlich eher unangenehme Erinnerungen. Dieses, man könnte nach Essen riechen in Verbindung mit Diskriminierungserfahrungen: Die Türken stinken.

Ira: Viktor, du, Edwin und ich sind ja mit zwei Kulturen aufgewachsen. Würdest du sagen Fluch oder Segen?

Dilek Güngör: Weder noch, weil man weiß ja nicht, wie es anders gewesen wäre. Ich frage mich ganz oft, was gewesen wäre, wenn meine Eltern damals nicht aus der Türkei nach Deutschland gegangen wären. Ob das ein besseres Leben gewesen wäre oder ein schlechteres, das weiß ich überhaupt nicht.

„Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ 2017 und „Ich bin Özlem“ 2019.

Ira: Herkunft und Heimat beschäftigen dich und auch deine Heldin. In deinem Roman gibt es einige Stellen, die die Zerrissenheit verdeutlichen. Hast du eine Stelle, die da jetzt ganz gut passen könnte?

Dilek Güngör: Ich habe eine Stelle aus der Mitte des Buches. Meine Heldin heißt Özlem und ist verheiratet mit Phillip und ich lese euch jetzt eine Stelle vor, wo sie auf die Frage antwortet, wo sie herkommt.
[Hier folgt ein Auszug aus dem Roman „Ich bin Özlem“]

Edwin: Ich würde gerne noch auf das Thema Last oder Segen – Aufwachsen in oder mit zwei Kulturen kommen. Viktor, wie stellt es sich für dich dar? Ist es jetzt ein Zugewinn oder ist es ein schweres Gepäck, das man mitschleppt?

Viktor Funk: Das ist ein Riesengewinn. Das heißt aber nicht, dass es kein schweres Gepäck dabei gibt. Ich glaube, auch daraus ergibt sich eine Wertschätzung für das alles. Ich habe erst durch das eigene Kind angefangen, mich mit diesem Thema Heimat zu beschäftigen. Weil mein Sohn auch zweisprachig aufwächst. Da fragt man sich schon, was vermittelt man ihm? Als was empfindet er sich dann und wo ist dann seine Heimat? Im Großen und Ganzen ist das ein Gewinn. Nur ist es auch wichtig, dass man dabei gute Begleitung hat. Seien es Eltern, seien es Lehrer oder das Umfeld. Es kann auch eine Last sein und das kann auch in etwas Destruktivem enden. Es kommt darauf an, welche Erfahrungen man macht und wer einen begleitet.

Edwin: Man hatte lange den Eindruck, dass die Stimmen der anderen Mitbürger*innen in der Gesellschaft und in der Literatur gar nicht vorkommen. So ein Begriff wie postmigrantische Literatur gibt es ja auch erst seit ein paar Jahren und die Stimmen werden immer vielfältiger. Könnt ihr aus eurer Beobachtung sagen, woran das liegt? Warum kommen jetzt die Stimmen und warum haben sie denn früher gefehlt?

Dilek Güngör: Ich unterhalte mich darüber oft mit meiner Freundin, die ist Britin. Ihre Eltern stammen aus Indien. Da hatte ich lange das Gefühl, Großbritannien ist uns da einen Schritt voraus. Aber ich glaube, ihr geht es ähnlich wie mir. Wir sind dieser Lüge aufgesessen, dass wir noch nicht gut genug sind, dass wir erst noch besser Deutsch lernen müssen, dass wir das und das noch können müssen. Ohne zu sehen, dass das System so darauf ausgelegt ist, dass in den Verlagen unsere Themen als Randthemen oder als Nischenthemen betrachtet wurden. Dass in den Verlagen auch niemand mit Migrationsgeschichte gearbeitet hat, dass man vermutet hat, es gibt gar kein Publikum für diese Themen. Und ich glaube aber, dass wir über diesen Schritt noch nicht hinweg sind. Ich habe eine afrodeutsche Freundin, die gerade jetzt ihr Buch herausbringt, zu der der Verlag gesagt hat: Naja, wir sind jetzt ein bisschen spät dran mit diesem Thema. Aber ihr auch das Gefühl gab, also wenn man dann ihr Buch, einer Afrodeutschen, gemacht hat, dann ist das aber auch erstmal gut. Dann können wir uns wieder den richtigen Themen zuwenden. Ich habe das Gefühl, die Verlagsbranche sieht das als eine Modeerscheinung und nicht als einen großen gesellschaftlichen Wandel.

Ira: Wie siehst du das, Viktor?

Viktor Funk: Es geht ja nicht nur um Literatur, sondern auch um die Zeitungsbranche. Da ist der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte etwa unter fünf Prozent. Gerade öffentlich-rechtliche Anstalten bemühen sich, das Ganze aufzubrechen. Sie sind wahrscheinlich auch diverser aufgestellt als private Medien. Aber es ist noch ein sehr langer Weg. Ihr habt es selbst vorhin gesagt, ein Viertel aller Menschen in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte und das spiegelt sich in den Medien nicht wider. Das spiegelt sich weder im Film noch in den Zeitungen noch in Büchern wider. Es sind vor allen Dingen so mutigere Kleinverlage, die in diese Richtung vorstoßen. Das war auch der Größenwahn-Verlag, bei dem ich den Bienenstich veröffentlichen durfte. Der Verleger hatte mir damals gesagt, wenn er irgendwo in einer Buchhandlung sagte: Das ist eine Geschichte mit Migration, dann hieß es sehr schnell: Oh, Migrantenliteratur, das verkauft sich ganz schlecht. Das ist ein Riesenproblem. Es ist noch ein langer Weg.

Ira: Dilek, schreibst du gerade an einem neuen Roman?

Dilek Güngör: Es wird im August einen neuen Roman geben Es ist ein Liebesbrief an den Vater, eine Vater-Tochter-Geschichte, wo es um viel Sprachlosigkeit geht. Einerseits tatsächlich unterschiedliche Sprachen und andrerseits unterschiedliche Milieus. Die Tochter ist, ähnlich wie ich, in ein ganz anderes Milieu gewechselt, spricht die Muttersprache nicht mehr so gut, der Vater spricht Deutsch nicht so gut und es ist aber auch so eine familiäre Geschichte, die im Weg steht. Da versuche ich durch den Text zu verstehen, was eigentlich zwischen den beiden los ist.

Ira: Viktor, wann wird es deinen nächsten Roman geben?

Viktor Funk: Ich habe ein Manuskript fertig. Da geht es um die Geschichte eines GuLag-Überlebenden. Das ist eine Geschichte, die mich seit meiner Magisterarbeit begleitet, weil ich Menschen interviewt hatte, die die sowjetischen Zwangsarbeitslager überlebt haben. Bei dem Menschen ist das Besondere, dass er knapp fünf Jahre vorher in verschiedenen deutschen Gefangenenlagern, unter anderem bei Leipzig war. Er wurde danach zur Strafe, weil er sich ergeben hatte, noch zu neun Jahre GuLag verurteilt. Das hat er alles überlebt. Das basiert auf einer wahren Geschichte. Nicht zuletzt dank der Hilfe und vieler Briefe seiner Frau bin ich der Frage nachgegangen: Was gibt den Menschen Kraft in sehr schwierigen Lebenslagen den Glauben an sich und den Glauben an andere Menschen nicht zu verlieren? Damit habe ich mich in dem Roman beschäftigt. Aber ich suche da noch einen Verlag.

Ira: Ich freue mich auf jeden Fall auf beide Romane von euch.

Edwin: Und ich hoffe, dass unsere Zuhörerinnen und Zuhörer Interesse für diese beiden Romane bekommen, die wir heute besprochen haben und dann vielleicht genauso wie wir Lust haben auch die anderen Sachen von Dilek Güngör und Viktor Funk zu lesen, die heute in unserer Folge Gäste waren, die in Kooperation mit dem Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe-Detmold entstanden ist.

Ira: Und jetzt abschließend die obligatorische Frage: Dilek, warst du schonmal in der Steppe?

Dilek Güngör: Ne, ich bin auch total neugierig.

Ira: Viktor, wie sieht es bei dir aus? Du bist Steppenkind.

Viktor Funk: Ich war seit 1992 leider nicht mehr in der kasachischen Steppe. Meine schönsten Kindheitserinnerungen haben sehr viel mit der Steppe und mit dem Balchaschsee zu tun und ich war sehr viel mit meinen Eltern, vor allen Dingen mit meinem Vater, dort. Ich habe auch eine sehr leckere Erinnerung von der Steppe. Es gibt so ein Kraut, das haben wir damals Hasenkraut genannt. Wenn es im Frühling blüht oder wächst, dann kann man das essen und es ist extrem saftig und schmeckt so leicht säuerlich.

Edwin: Ich kenne das.

Ira: Vielen Dank, Dilek und Viktor, dass ihr unsere Gäst*Innen heute wart und, alles Gute für euch.