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Wladimir Kaminer – Über die „Hermannisierung“ der Russlanddeutschen und das „Experiment Heimat“

Darüber was Herkunft und Heimat für den Schriftsteller Wladimir Kaminer bedeuten sprechen wir mit dem gebürtigen Moskauer und Wahlberliner in dieser Folge. Kaminer hat 1990 die Sowjetunion verlassen und ist in Deutschland für seine zahlreichen Bücher, Kolumnen und TV-Auftritte bekannt. Weil er von der breiten Öffentlichkeit als bevorzugte Expertenstimme für Menschen mit einem (post-)sowjetischen Migrationshintergrund geschätzt wird, geht es im Gespräch auch um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen russlanddeutschen Aussiedler*innen und jüdischen Kontingentflüchtlingen.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Edwin: Unser heutiger Gast bezeichnet sich selbst als beruflicher Heimatloser. Wladimir Wiktorowitsch Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren. 1990 kam er in die damalige DDR und lebt seitdem in Berlin. Er ist Schriftsteller und Kolumnist. Seine Erzählbände „Militärmusik“ und „Russendisko“ machten ihn deutschlandweit und auch außerhalb Deutschlands bekannt. Er schreibt seine Texte in deutscher Sprache und nicht in seiner Muttersprache Russisch.

Ira: Aktuell ist Kaminer auch für 3sat zum Thema Heimat in Österreich, Schweiz und Deutschland unterwegs. In mehreren TV-Beiträgen zeigt er, wie sich die Vorstellung von Heimat von Land zu Land unterscheiden. Was für ihn Heimat bedeutet, darüber sprechen wir heute.

Edwin: Eine Woche lang wird Wladimir Kaminer im Rahmen des Projektes „Experiment Heimat“ in Detmold verbringen und dabei die Lipper und insbesondere das Hermannsdenkmal unter die Lupe nehmen. Am 26. Juni 2021, am Tag der Veröffentlichung dieser Folge, wird eine Lesung mit ihm am Hermannsdenkmal zu seinem aktuellen Buch „Der verlorene Sommer. Deutschland raucht auf dem Balkon“ stattfinden. Am Montag darauf wird es eine Podiumsdiskussion geben.

Ira: Jetzt starten wir mit einem Geschenk.

Edwin: Man kommt ja nicht mit leeren Händen. Wir haben einen besonderen Wein für dich mitgebracht. Wir haben uns nämlich schon 2001 kennengelernt. Das war in Weikersheim, im Club W71. Da warst du mit der Russendisko da.

Wladimir Kaminer: Das ist ein grandioser Club. Mit dem Buch meinst du jetzt, nicht mit der Tanzveranstaltung?

Edwin: Mit dem Buch. Die Tanzveranstaltung hatten wir dann mehr oder weniger zusammengemacht, weil dein Kollege Yuriy Gurzhy nicht dabei war und Norbert Bach, der Betreiber dieses Clubs, mich gebeten hatte, ein paar CDs aus meiner Sammlung mitzubringen. Ich habe auch ein sehr schönes Bild von dir bei dieser Veranstaltung gefunden.

Wladimir Kaminer: Beim Weintrinken?

Edwin: Das war Quittenschnaps.

Wladimir Kaminer: Ich habe als Gage zwei Flaschen Quittenschnaps bekommen. Ich war dort mit meinem Freund und Kollege Helmut Höge, der auf solche Feldforschung wie in Weikersheim absolut steht und das war eine große Geschichte. Wir sind schwarzgefahren und haben uns ein bisschen verlaufen.

Edwin: In der Geschichte hast du zum Schluss geschrieben, dass du dir überlegst einen Roman über Quittenschnaps zu schreiben. Ist aus der Idee irgendwas geworden?

Wladimir Kaminer: Na, verschiedene Schnäpse kommen gelegentlich in meinen Werken vor. Aber so einen ganzen Roman über Quittenschnaps – nein, das habe ich nicht geschafft. Der von Weikersheim war aber viel besser als Quittenschnäpse zum Beispiel aus Freiburg.

Edwin: In dem Buch schreibst du: „Je kleiner der Ort, umso überzeugter waren die Bewohner, dass sie im einzig wahren Deutschland leben“. Das Buch heißt „Mein deutsches Dschungelbuch“ und ist 2003 erschienen. Was verstehen denn die Deutschen unter „wahres Deutschland“?

Wladimir Kaminer: Es gibt so etwas wie Regionalpatriotismus. Etwas sehr Nachvollziehbares für mich auch viel besser nachvollziehbar als dieser schwammige Begriff Heimat. Ich habe selbst seit zwölf Jahren ein Haus auf dem Land in einem Brandenburger Dorf. Ich weiß, dass die Menschen dort Probleme ihrer Ortschaft sich sehr zu Herzen nehmen. Sie fühlen sich dafür zuständig und verantwortlich. Sei es nun die Straßenbeleuchtung oder die Straßen oder die zwischenmenschlichen Beziehungen. In einem kleinen Ort sind sie gezwungen, sich das zu Herzen zu nehmen und das zu klären. Anders als in einer großen Stadt, wo Menschen anonym ziemlich nivelliert leben. Gerade in unserer Zeit, wo die Welt zumindest vor der Pandemie so global zu sein schien, verliert man das Gefühl für Zuhause. Wenn du dir die heutige moderne Architektur anschaust oder diese Wohnungseinrichtungen, die gerade im Trend liegen: das sieht alles nach einem Hotel aus. Man will sofort sein Badetuch auf den Boden schmeißen. Das ist in kleinen Orten nicht so. Da ist noch der Bezug zu dem Ort, der spielt noch eine sehr wichtige Rolle. Ich merke, ich bin selbst anders, wenn ich draußen auf dem Land lebe, denke und handele ich anders als hier in Berlin.

Ira: Du bist 1990 nach Berlin, damals noch in die DDR, gekommen. Wie hat sich Deutschland oder auch Berlin in deiner Wahrnehmung seitdem verändert?

Wladimir Kaminer: Kaum bin ich aus der Sowjetunion, ist diese Sowjetunion gegen die Wand gefahren und verschwunden. Als könnte sie ohne mich nicht weiterleben. Ich komme in die DDR, ein paar Monate später geht die DDR vor die Hunde. Ich dachte schon, ich habe eine glückliche Hand für Staatlichkeiten. Kaum betrete ich ein Territorium oder verlasse ein Territorium dann geht es kaputt. Aber das hat mir auch gezeigt, wie zerbrechlich, wie unsicher diese scheinbar stabilen Staaten in Wahrheit sind. Berlin hat sich in den 30 Jahren schon so viele Male und so krass verändert. Das ist eine ganz andere Stadt als die, die ich damals mit den Augen eines sowjetischen Bürgers gesehen habe. Aber das ist der normale Lauf des Lebens. Deswegen wird behauptet: Früher war alles besser. Weil Menschen das Früher kennen und das Heute nicht verstehen und Angst vor dem, was morgen kommt, haben. Aber dieser Lauf ist unaufhaltsam. Egal, was wir davon halten. Die Welt wird nie so bleiben wie sie war.

Edwin: Hast du den Eindruck, dass die Deutschen, also dass die Mehrheitsgesellschaft einen ganz speziellen Zugang hat zum Begriff Heimat? Dass die Deutschen im Allgemeinen Heimat anders wahrnehmen als zum Beispiel jemand, der in der Sowjetunion groß geworden ist oder in Russland? Und wenn es schon so regional ist, was ist denn dann das Spezielle in den Regionen? Gibt es einen Unterschied zwischen Ost und West zum Beispiel?

Wladimir Kaminer: Natürlich, das ist eine ganz andere Vorgeschichte. Die Menschen leben in einer anderen Tradition. Wir müssen zuerst definieren, was für uns Heimat ist. Für mich ist Heimat ein Ort, wo man geboren und aufgewachsen ist. Wo man als Kind sozialisiert wurde. Man sagt zwar, dass Menschen als fertige Personen bereits auf die Welt kommen. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube, man hat schon Eltern, die auf einen einwirken. Und das ist auch die Gegend, da wo man aufwächst. Du kannst diese Gegend hassen, aber du liebst sie trotzdem. Du trägst sie in deinem Herzen weiter. Das ist wie mit den Eltern, wie mit Mama. Wir lieben unsere Eltern nicht für irgendwelche besonderen Eigenschaften. Dass sie toll singen können oder gut aussehen, sondern Mama ist Mama und damit ist alles gesagt. Sie muss sich nicht beweisen. Sie kann dabei ein sehr schwieriger Mensch sein und man möchte auch so schnell wie möglich wegfahren, also nicht bei Mama dann ein Leben lang bleiben. Das ist auch nicht normal, wenn ein Mensch, zum Beispiel ein erwachsener Mann mit vierzig, noch immer bei Mama wohnt. Dann werden die Nachbarn wahrscheinlich schräg gucken und sagen, bei dem stimmt was nicht. Also ist diese Heimat eine Substanz, die man ohne eigene Einwilligung ein ganzes Leben lang mit sich schleppt. Das ist die Heimat. Wenn du mich fragst. So ist diese Sowjetunion meine Heimat. Ich finde die Sowjetunion weder großartig noch zukunftsweisend. Aber das ist meine Heimat und ich bin jemand, der ein Teil dieses sehr merkwürdigen Landes wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug mit sich schleppen wird. Ich vergleiche auch alles mit der Sowjetunion, ich schreibe hin und wieder über die Sowjetunion, obwohl es sie seit dreißig Jahren nicht gibt. Das ist einfach so.

Ira: Wie schmeckt denn Heimat für dich? Oder wie riecht Heimat?

Wladimir Kaminer: Meine Heimat roch sehr stark nach verbranntem Gummi. Das waren diese U-Bahnzüge. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was genau da so gerochen hat, aber man hatte immer das Gefühl, dass sie eigentlich viel schneller fahren wollten, aber ungewollt bremsten. Wir wurden ständig ausgebremst. Dieses Land sollte ja eigentlich schon längst für die sozialistische Idee die ganze Welt beherrschen. Aber wir wurden von bösen Kräften ausgebremst. Deswegen hat es so nach verbranntem Gummi gerochen und nach kalten Pelmeni. Weil auf dem Weg zur Schule ich immer an so einer Cafeteria vorbeigehen musste, wo diese Pelmeni lagen, die immer dann rausfielen aus der Teighülle.

Edwin: Also, wir haben in einem Land gelebt, das immer ein bisschen gekokelt und geraucht hat und nach verbranntem Gummi gerochen hat.

Wladimir Kaminer: Ja, wir sind verbrannte Kinder eines verbrannten Landes. Ist doch schick!

Edwin: Wobei der größte Spaß in der Kindheit war es Reifen zu verbrennen. Wir haben selbst zu diesem verbrannten Geruch beigetragen.

Wladimir Kaminer: Man hat mich mit acht Jahren bei der Polizei wegen eines Brandsatzes angezeigt. Obwohl noch in der Grundschule, waren wir schon sehr revolutionär, dissidentisch eingestellt und wir wollten tatsächlich einen privaten Parkplatz mit Autos anzünden. Wir haben Dachpappe abgerissen, angezündet und über den Zaun geworfen. Da war plötzlich ein Riesenzaun, der über Nacht direkt vor meinem Haus entstanden war. Und wir waren gegen Zäune. Mein Nachbar und Freund Sergej war sehr schnell weggelaufen und ich war nicht so schnell und nicht so schlau. Ich musste dann dafür geradestehen.

Edwin: Was mir nach dem Umzug nach Detmold aufgefallen ist, dass diese Stadt süß riecht. Es hat sich rausgestellt, dass es die Zuckerfabrik in einem Nachbarort ist. Und wenn die produzieren, dann riecht es nach Zuckermelasse.

Wladimir Kaminer: Eine Zuckerfabrik. Also, ich freue mich sehr über dieses Experiment. Ich möchte, versuchen mich in Detmold heimisch zu fühlen.

Edwin: Was erwartest du von Detmold? Was hast du vor bei diesem Experiment zu unternehmen?

Wladimir Kaminer: Na, das ist eine Stadt, in der ich noch nie war. Was schon für mich sehr komisch klingt, weil ich dachte, ich war überall in Deutschland. Aber gut, jetzt mit Detmold wird es wahrscheinlich schon überall sein. Über die ich aber immer wieder, und zwar in ganz merkwürdigen Kontexten gehört habe. Ich habe überhaupt keine Vorstellung. Ich möchte ganz unvorbereitet und frisch mit den Augen eines Reisenden auf diese Stadt schauen,dort mit Menschen reden. Ich werde versuchen, zu verstehen, was die Lebensgrundlage in Detmold ist.

Edwin: Du beschäftigst dich auch mit dem Hermannsdenkmal.

Wladimir Kaminer: Ich habe einmal in einem russischen Magazin aus Kaliningrad über die sogenannte „Hermannisierung“ gelesen. Ich habe das Wort nie gehört. Anscheinend ist das tatsächlich ein Thema in Russland, dass Russlanddeutsche, die nach Deutschland gehen, dann extra germanisiert wurden. Was das auch sein mag: magisch! Russen stehen auf solche esoterischen Begriffe. Dass diese Menschen extra in der Nähe des Hermannsdenkmals angesiedelt wurden, damit dieser Prozess der Germanisierung beschleunigt werden kann. Ich möchte das am eigenen Leib ausprobieren. Was strahlt dieser Hermann denn so aus? Vielleicht gibt es das tatsächlich, diese Hermannisierung.

Ira: Bezieht sich dieser Mythos auf die 1990er Jahre?

Wladimir Kaminer: Ja, also wie sehr können sich die Menschen ändern? Der Autor dieses Artikels meinte, bevor die Russlanddeutschen aus Kaliningrad nach Deutschland gefahren sind, lebten sie russische Traditionen, russische Sitten, russische Kultur. Auch wenn sie Deutsche heißen und das Land Deutschland heißt, würden sie sich niemals in einem anderen Land heimisch fühlen. Dann besucht er sie nach einigen Monaten und findet, je nachdem, wo sie angesiedelt wurden, Riesenunterschiede. Je näher zum Hermannsdenkmal, umso deutscher werden sie. Welche Rolle Hermann als Mensch, als Figur, als Stück Stein dabei spielt, das möchte ich alles dann in Detmold herausfinden.

Edwins: Erstens ist das Hermannsdenkmal ein Superlativ und zweitens ist es eine Figur, die als Ausdruck für die deutsche Nation errichtet wurde. Und zwar ist das Hermann der Cherusker, ein mythischer germanischer Anführer, der zwei römische Legionen im Jahre 9 nach Christus geschlagen hat. Das hat es in der römischen Geschichte davor und danach nicht gegeben. Ab dem 16. Jahrhundert wurde er als nationaler Held wiederentdeckt und schließlich im 19. Jahrhundert hat man ihm ein Denkmal gesetzt, weil man meinte, dass die Schlacht bei Detmold stattgefunden hat. Und natürlich macht man sich dann an diesem Ort auch Gedanken darüber, was das alles bedeutet und man macht sich vielleicht mehr Gedanken darüber, was die deutsche Nation ist. Um als Aussiedler aufgenommen  zu werden mussten Russlanddeutsche zuerst beweisen, dass sie Deutsche sind; hier hat die Bevölkerung ihnen dies in Abrede gestellt. Und so kommt der eine oder der andere dazu sich Zugänge zur Nation zu suchen und vielleicht auch über diese mythischen Helden. Wir haben im Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte eine Ausstellung zu dem Werk des russlanddeutschen Künstlers Jakob Wedel, der aus Kirgisien nach Deutschland. Dort war er ein anerkannter Systemkünstler und hier versuchte er sich als Künstler zu etablieren. Durch seine Auseinandersetzung mit der Figur des Künstlertitans Ernst von Bandel, dem Erschaffer des Hermanndenkmals, hat er sich so seine Zugänge gesucht. Die Ausstellung „Kunst – Mensch - System“ ist im Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte zu sehen.

Ira: Wie siehst du das insgesamt: Du bist 1990 hergekommen, ich bin 1992 nach Deutschland gekommen. Wir haben unterschiedliche Geschichten, unterschiedliche familiäre Hintergründe und auch unterschiedliche Aufnahmebedingungen hier in Deutschland vorgefunden. Wir werden aber von der Mehrheitsgesellschaft trotzdem als eine Gruppe wahrgenommen – als eine russischsprachige Gruppe, die aus der Sowjetunion kommt. Wie wichtig ist es, dass wir trotzdem zeigen, dass wir unterschiedlich sind und unterschiedliche Geschichten haben? Manche Russlanddeutsche reagieren sensibel, wenn sie in einen Topf mit allen russischsprachigen Migranten geworfen werden. Anderen wiederrum ist das egal. Wie wichtig ist für dich, dieses Wissen zu verbreiten?

Wladimir Kaminer: Ich gehe davon aus, dass die Menschen das wissen. Ich habe an verschiedenen Ecken dieses Landes Russlanddeutsche kennengelernt, die aus solch unterschiedlichen Orten kommen. Da habe ich welche in Baden-Württemberg aus der Nähe vom Polarkreis kennengelernt. Menschen, die wahrscheinlich aus Stahl gebaut sind. Die können alles machen, es passiert ihnen nichts. Aus dem Süden, aus dem Norden, aus dem Osten, Westen, aus allen möglichen Orten dieses riesengroßen Landes. Unsere Sowjetunion war das größte Land der Welt. Das bleibt sogar die Russische Föderation nach wie vor. Natürlich hatten sie sehr wenig miteinander zu tun, sahen einander nicht ähnlich und hatten sehr unterschiedliche Sprachkenntnisse, was zum Beispiel Deutsch betrifft und auch was Russisch betrifft. Ich hatte solche Geschichte tausendmal bei der Russendisko. Wenn ich mit meinem Kollegen Yuriy Gurzhy über etwas sprach, kamen „meine Landsleute“ und fragten: Sagt mal, habt ihr jetzt Russisch gesprochen? Warum habe ich nichts verstanden? Das ist ein großes Land. Viele Dialekte, viele unterschiedliche Ohren und Zungen. Ich finde das normal, dass die Gesellschaft die Russlanddeutschen als eine Einheit sieht, liegt daran, dass man diese Klischees und Schubladen braucht. Man sucht immer die einfachste Brille. Du kannst nicht für jeden Buchstaben eine neue Brille aufsetzen, das ist einfach zu umständlich. Die Welt ist kompliziert und wird immer komplizierter. Wir erleben diese täglich steigende Diversität jetzt live. Wir haben fast täglich neue Gender, neue Klimaziele, neue Berufe. Das ist die Welt im Wandel.

Edwin: Du selbst bist ja kein Russlanddeutscher.

Wladimir Kaminer: Wir sind Juden aus Österreich aus der k.u.k-Monarchie. So kann ich das zumindest halb sicher nachvollziehen, aber genau weiß ich das nicht. Nach allem was ich weiß, von meiner Verwandtschaft und von diesen Familiengeschichten, war das so, dass sie als Juden aus Spanien nach Österreich kamen, weil der damalige Kaiser sie willkommen hieß und dann irgendwann nicht mehr. Und dann sind sie über Ungarn in die Ukraine, oder über Armenien in die Ukraine gegangen und am Schwarzen Meer waren sie. Da habe ich viele Verwandte kennengelernt. Und meine Eltern haben sich in Moskau kennengelernt. Die sind aber beide aus Odessa. Ich kenne Leute, die total darauf stehen, ihre Wurzel zu erforschen, Stammbäume zu bauen, im Internet in 3D mit riesigen Formaten.

Ich habe ein paar Mal solche Begegnungen gehabt. Einmal habe ich eine Österreicherin kennengelernt, die in einem Archiv über das jüdische Wien von früher, von vor dem Krieg arbeitete und die hat gefragt: Soll ich mal nach deinen Verwandten oder nach deinen Namensvettern suchen? Ich konnte einfach aus Höflichkeit nicht „nein“ sagen. Dann kam ein Kaminer, ein zweiter Kaminer, dritter, zehnter, zwanzigster. Dann hatte ich innerhalb von einer Woche vierzig neue Verwandte bekommen. Ich wusste gar nicht mehr, wohin mit der ganzen Mischpoke.

Ira: Das heißt, Herkunft ist für dich nicht so wichtig?

Wladimir Kaminer: Heutzutage ist es ein großer Trend, irgendwelche fremdländischen Wurzeln zu haben. Das kenne ich von meinen Kindern. Das war, als sie noch im Gymnasium waren. So als hundertprozentige deutsche Kartoffel wollte niemand gemobbt werden. Da musstest du mindestens irgendeine Oma aus Peru haben, um dich so als Weltmensch vorstellen zu können.

Ira: Deine Kinder sind wahrscheinlich in den Nullerjahren in die Schule gegangen. Das ist ein Unterschied: In den Neunzigern war es so: Entweder bist du Deutscher oder du bist Ausländer. Heute sind wir zum Glück ein bisschen weiter. Heute musst du nicht entweder-oder sein. Du kannst auch eine Bindestrichidentität, eine Mischung aus verschiedenen Kulturen und Identitäten haben.

Wladimir Kaminer: Wir waren eigentlich schon immer Aliens. Wir gehörten sogar in dieser Sowjetunion, die nicht nur eine totalitäre Diktatur, sondern auch ein freiwilliges Bündnis von sehr vielen verschiedenen Völkern war, die sich alle zusammengeschlossen hatten, um das neue moderne Konzept einer sozialistischen Welt aufzubauen. Alle diese Menschen hatten ihre Quoten. Sie hatten ihre Theaterhäuser, ihre Schriftsteller, ihre Dichter und ihre Denker. Man hat sehr genau aufgepasst. Die Juden hatten irgendwo in Sibirien so ein kleines Eck, aber das war nicht so präsent. Eigentlich waren wir Aliens, die Juden in der Sowjetunion. Und wir waren die ersten, die ausreisen durften. Durften die Russlanddeutschen auch in den 1970ern auswandern?

Edwin: Deutschland hat sie aufgenommen, aber die Sowjetunion hat sie nicht rausgelassen.

Wladimir Kaminer: Bei den Juden war das so, dass die dann ohne Arbeit und ohne Geld sehr lange sitzen mussten. Das war eine ähnliche Geschichte. Aber früher oder später sind sie doch ausgereist.  Die Russlanddeutschen hatten zumindest ein klares Ziel. Niemals im Leben wären die auf die Idee gekommen – wenn sie schon ausreisen konnten – statt nach Deutschland nach Frankreich zu gehen zum Beispiel oder nach Spanien. Und bei den sowjetischen Juden, die offiziell nach Israel auswanderten, war Israel eigentlich auf dem vorletzten Platz. Als Notvariante. Wenn nichts mehr geht, wenn Amerika und England nicht klappen. Wenn Österreich nicht gelingt. Dann na gut.

Ira: Warum hatte Israel so ein schlechtes Image oder warum wollte man da nicht hin?

Wladimir Kaminer: Naja, es ist so ein kleines südliches Land. Es ist sehr heiß, komische Menschen. Sie fühlten sich zu dieser hebräischen Kultur gar nicht hingezogen. Das waren auch keine gläubigen Menschen. Bei uns war dieses Judentum in der Sowjetunion keine Religion, sondern eine Nationalität. Das stand im Pass. Das waren gar nicht so viele, also zumindest in meinem Umkreis, die das Wort „Jude“ im Pass hatten. Und das diente uns auch in gewisser Weise, um anzugeben. Ein Mensch, Roman hieß er, der hat mir dann seinen Pass gezeigt. Bei ihm stand „Bergjude“.

Sein Vater war wahrscheinlich von irgendeinem Berg heruntergekommen und der hat diese Zeile im Pass vom Vater geerbt. Wahnsinn. Alles Mögliche haben die da reingeschrieben. Und dann kam ich nach Deutschland. Und hier in der Bundesrepublik bekamen wir diese Alien-Pässe. Fremdenpass. Da stand auf Englisch: Alien-Pass. Und mit diesem Alien-Pass habe ich mindestens fünfzehn Jahre hier gelebt. Das war super cool. Wir sind die Aliens. Uns geht es nichts an. Keine Heimat. Nirgends.

Edwin: Hat es dich in den staatsbürgerlichen Rechten eingeschränkt? Konntest du wählen? Oder hast du mit dem Pass Visa für andere Länder bekommen?

Wladimir Kaminer: „For all countries” stand da. Ich konnte für jedes Land ein Visum beantragen und bekommen oder eben nicht bekommen. Und wählen konnte ich nicht, glaube ich. Jetzt kann ich wählen. Aber dieses Jahr weiß ich überhaupt nicht, wen ich wählen soll.

Edwin: Hier kannst du aber wählen. In der Sowjetunion hattest du nur eine Partei, die du wählen konntest. Hast du in der Sowjetunion gewählt?

Wladimir Kaminer: Ob ich in der Sowjetunion zur Wahl war? Lustige Frage. Ja, einmal in der Armee. Wir mussten. Wir haben das natürlich auch boykottiert. Aber in der Armee wirst du quasi in Reih und Glied aufgestellt. Und dann sagen die: Und jetzt gehen wir wählen. Ich sage: Ne, wir gehen nicht wählen. Aber dann kriegt man auch kein Mittagessen.

Edwin: Wie hat es denn ausgesehen? Gab es ein Wahllokal? Gab es genauso eine Wahlurne? Hat man was angekreuzt?

Wladimir Kaminer: Wahllokal im Klub (Offizierscasino), eine Urne, ja mit Schlitz. Ne, ankreuzen musstest du nichts.

Es war nur eine Person,  ein Mann in Uniform. Irgend so ein Oberst. Den haben die gewählt. Frag mich nicht, wofür. Sicher für was Gutes.

Edwin: Hattest du damals schon in der Sowjetunion Russlanddeutsche wahrgenommen? War das für dich irgendwie so ein Begriff?

Wladimir Kaminer: Ja, doch. Ich bin also zum Sport gegangen. Ich war Ruderer. Mit mir ist einer gerudert, der war ein Russlanddeutscher, wie man das heute sagt.

Edwin: Ich hatte eine Erfahrung: und zwar ich hatte eine Mitschülerin Rosa Saraweisskaja – das war noch in Alma-Ata. Sie hatte mich zu ihrem Geburtstag eingeladen. In der Küche habe ich ihre Mutter und ihre Großmutter reden gehört. Die haben ein Deutsch gesprochen, was ich sehr seltsam fand. Ich dachte, das sind irgendwelche Russlanddeutschen, die nochmal irgendeinen anderen Dialekt haben. Es hat sich rausgestellt, dass sie Jiddisch gesprochen haben. Das war meine erste persönliche Begegnung mit jüdischen Leuten, die sogar noch Jiddisch gepflegt haben. Das war Anfang der Neunzigerjahre. Soweit ich weiß, gibt es das jetzt in den postsowjetischen Staaten eigentlich nicht mehr, oder?

Ira: Wurde das auch bei euch gesprochen?

Wladimir Kaminer: In meiner Familie? In Odessa, wenn du dann bei Oma und Opa warst. Aber gesprochen so untereinander haben sie das nicht. Wenn sie irgendwelche Lieder gesungen haben, das war mehr so Folklore, glaube ich. Oder bestimmte Worte haben sie benutzt, aber hauptsächlich Schimpfworte. Geschimpft haben sie auf Jiddisch, ja.

Edwin: Zusammenfassend: Wir sprechen von ungefähr 3,5 Millionen Menschen, die hier in Deutschland leben, die diese postsowjetische Vergangenheit haben. Das sind etwa 2,5 Millionen, die als russlanddeutsche Aussiedler gekommen sind, bzw. hier leben und ungefähr 220.000 jüdische Kontingentflüchtlinge oder bzw. ihre Kinder. Und zwar nachzulesen, und das ist mein Buchtipp, bei Jannis Panagiotidis „Postsowjetische Migration in Deutschland“. Das Buch ist im letzten Jahr erschienen. Hast du den Eindruck, dass Deutschland osteuropäischer geworden ist oder sind diese Menschen deutsch geworden?

Wladimir Kaminer: Ich glaube auf jeden Fall, dass diese Einwanderung für Deutschland eine große Bereicherung war und ist. Weil nach meinem Gefühl, als ich 1990 zum ersten Mal auf Deutschland traf, war das ein ziemlich hinterwäldlerisches Land. Ob im Osten oder im Westen. Die hatten irgendwie so wenig Ahnung von der Welt da draußen. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, woran das lag. Aber diese Enge merkte man überall. Hier in Berlin – gut in Ostberlin -  da wussten sie nicht mal, was grüner Tee ist und warum der Tee jetzt grün sein soll. Sie hatten Vorstellungen von der Welt, die voller Ängste und Unsicherheiten waren. Und Angst und Unsicherheit sind schlechte Ratgeber. Es waren sehr wichtige und richtige Schritte, dass die Russlanddeutschen kamen. Für beide Seiten. Dass die die sowjetischen Juden aufgenommen haben. Eine gegenseitige Bereicherung. Nur auf diese Weise kann eine Gesellschaft überleben, ob es uns gefällt oder nicht.

Ira: Den meisten bist du ja als Schriftsteller bekannt. Mich persönlich interessiert, wie du zum Schreiben gekommen bist und um was es in deinem neuen Roman geht.

Wladimir Kaminer: Ich habe gestern einen Mann kennengelernt, der sein Kurzeitgedächtnis verloren hat. Der muss alles aufschreiben, weil er sonst Angst hat, dass er sich an nichts mehr erinnert. An seine Frau nicht, an sein Kind nicht und so weiter. Aber wie kann man so etwas aufschreiben? Ein ganzes Leben. Du musst dann solche Formulierungen finden, bei denen man auch Lust hat, sie immer wieder zu lesen. Dieses Schreiben ist ein Lauf gegen die Zeit. Der einzig wirksame Kampf gegen den Tod. Das Aufgeschriebene bleibt, vorausgesetzt, das wird gut und spannend erzählt, dass die anderen Menschen auch Lust haben sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Das liegt in deiner Hand. Ich glaube, dieses Schreiben ist eine sehr menschliche Geschichte. Und die Welt ist kein geschlossenes Konstrukt. Wir sehen, dass es sich ständig verändern kann und uns wenigstens die Hoffnung gibt, dass wir die Welt verändern können. Sonst würden wir nur zuhause sitzen und nichts tun. Und deswegen fahren Menschen hin und her und machen irgendwas. Und mein neues Buch. Ich schreibe über die Pandemie. Nicht über die Viren, sondern über die Menschen, die in dieser veränderten Welt nach ihrem alten Leben suchen. Das ist total rührend.

Ira: Gibt es für dich ein Learning, dass du aus der Corona-Zeit mitnimmst?

Wladimir Kaminer: Ich habe das Gefühl, ich bin durch diese Pandemie noch erwachsener geworden als früher. Ich habe viel mehr Verständnis entwickelt, vor allem für junge Leute. Früher haben wir uns viel öfter gestritten. Also ich und die Kinder. Und die sind durch die Pandemie so viel stärker geworden. Mein Sohn spielt jetzt Schach. Früher habe ich gedacht, er spielt im Internet gegen irgendwelche achtjährigen Amerikaner, die gerade gelernt haben, wie man mit dem Pferd einen Zug macht. Nein, der spielt wirklich großartig – so wie ich.

Ira: Vielen Dank, dass wir heute mit dir das Gespräch führen durften. Und viel Spaß in Detmold dann beim „Experiment Heimat“.