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Melitta L. Roth und Dr. Hans-Christian Petersen: Schweigen und Sprechen über 80 Jahre Deportation der Russlanddeutschen

80 Jahre nach der Deportation der Russlanddeutschen in der ehemaligen Sowjetunion verstummen die Stimmen der Zeitzeuginnen und -zeugen allmählich. Eine neue Generation meldet sich zu Wort. Sie möchten an ihre Großeltern und Eltern erinnern und sucht ihren eigenen Zugang zu diesem schmerzvollen Kapitel russlanddeutscher Geschichte. 

In dieser Spezialfolge in Kooperation mit Dekoder sprechen wir mit dem Historiker Dr. Hans-Christian Petersen über die Fakten und den Forschungsstand zur Deportation der Russlanddeutschen. Die Autorin und Bloggerin Melitta L. Roth teilt mit uns, welche Ereignisse die Geschichte ihrer Familie in der Kriegszeit bestimmten und wie das Erlebte bis heute fortwirkt. Zentrale Fragen dieser Folge sind auch das Gleichgewicht zwischen dem Opfer- und Täternarrativ in Zusammenhang mit der Deportation der Russlanddeutschen sowie der Platz der russlanddeutschen Geschichte im bundesdeutschen Erinnern. 

Diese Folge entstand in Kooperation mit www.dekoder.org 
und ist auch hier zu finden: nemcy.dekoder.org

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Edwin: Heute wollten wir uns wieder einem historischen Thema widmen, denn es gibt einen besonderen Anlass: Am 28. August 2021 jährt sich zum 80. Mal die Deportation der Russlanddeutschen. Darüber sprechen wir heute mit der Autorin und Bloggerin Melitta L. Roth und dem Historiker Dr. Hans-Christian Petersen.

Ira: Wir wollen uns heute in dieser Spezialfolge, die wieder in Kooperation mit Dekoder entsteht, vier Kernthemen widmen. Was bedeutet der Begriff Deportation und vor allem die Deportation der Russlanddeutschen? Hier möchten wir zum einen die Fakten checken. Dafür ist unser Historiker Hans zuständig. Auf der anderen Seite möchten wir unsere persönlichen Erlebnisse mit einweben. Edwin, Melitta und ich haben russlanddeutschen Hintergrund und werden darüber erzählen, was wir über die Geschichte der Deportation in unseren Familien wissen.

Edwin: Wir wollen auch über das Erzählen erzählen. Also, wie erzählt man diese Geschichte jenseits von Opfernarrativen? Und wie wurde bisher über die Erfahrungen der Russlanddeutschen im Zweiten Weltkrieg erzählt? Was wurde erzählt und warum wurde es erzählt?

Ira: Wichtig ist die Frage, inwiefern das Erlebte unserer Großeltern und unserer Eltern uns und unsere Leben beeinflusst? Welche Folgen sind heute noch von dieser Erfahrung spürbar? Und wie dürfen, können wir darüber sprechen?

Edwin: Wir werden auch eine Aussicht auf den zukünftigen Umgang mit diesem Thema machen, über aktuelle Tendenzen oder aktuelle Projekte sprechen, die sich damit beschäftigen.

Ira: Herzlich willkommen Hans-Christian Petersen. Er ist Historiker mit dem Schwerpunkt östliches Europa. Er ist Mitarbeiter am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg und hat derzeit eine Gastprofessur für Migration und Integration der Russlanddeutschen am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück inne. Er gehört zum Forschungsverband „Ambivalenzen des Sowjetischen“.

Edwin: Willkommen auch an die Autorin und Journalistin Melitta L. Roth. Sie wurde im sibirischen Omsk geboren und kam 1980 in die Bundesrepublik. Ihre Prosa kreist um Themen wie Identität, Transkulturalität und die Übergabe von Traumata. Sie wurde in diversen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Daneben entstand unter www.scherbensammeln.wordpress.com ein Blog mit Beiträgen aus ihrer Aussiedler-Parallelwelt, wie sie selbst sagt. 2020 erschien ihr Erzählband „Gesammelte Scherben“ im Ostbook-Verlag.

Ira: Hans, warum ist der 28. August für die Russlanddeutschen ein relevantes Datum? Was geschah vor 80 Jahren an diesem Tag?

Hans-Christian Petersen: Am 28. August 1941 erschien ein Erlass des Obersten Sowjet der UdSSR, in dem zunächst einmal die deutsche Bevölkerung im Wolgagebiet, wo es zu diesem Zeitpunkt ja noch die deutsche Wolgarepublik (Autonome sowjetische sozialistische Republik der Wolgadeutschen) gab, pauschal und kollektiv der vermeintlichen Kollaboration mit NS-Deutschland bezichtigt wurde, das wenige Wochen vorher die Sowjetunion überfallen hatten. Es wurde dann zur Grundlage für die gewaltsame Umsiedlung fast aller Deutschen nach Sibirien und Kasachstan, die zu dem Zeitpunkt an der Wolga lebten. Das ging einher mit der Konfiszierung des Vermögens. Die Menschen durften nur ein paar Lebensmittel, Schlafsachen und Kleidung mitnehmen.

Dies bildete den Auftakt für die Zwangsumsiedlung deutschsprachiger Bevölkerung aus weiteren Gebieten. Das geht dann über die Krim und die Wolga hinaus. Von der Ukraine, nur die ganz östlichsten Gebiete, Kaukasus, Transkaukasus und die Metropolen beziehungsweise ihr Umland, darunter auch Leningrad. Das waren insgesamt rund 900.000 Menschen. Rund 350.000 von ihnen wurden dann dort in die „Trudarmija“, also in die Arbeitsarmee, eingegliedert. Sie mussten Zwangsarbeit verrichten. Und soweit wir das heute noch wissen, haben rund 150.000 Menschen das mit ihrem Leben bezahlt. Das ist kein Prozess, der nur die Deutschen betroffen hatte. Die Zahlen machen deutlich, warum das für die Russlanddeutschen so ein schmerzhaftes Ereignis ist.

Hans-Christian Petersem, Quelle: privat

Edwin: Was sind denn überhaupt Deportationen? Was unterscheidet sie von einer Umsiedlung oder eine Evakuierung?

Hans-Christian Petersen: Zwangsumsiedlungen, also die gewaltsame Umsiedlung von Menschen, war ein grundlegendes Mittel stalinistischer Politik. Das lateinische „deportare“ bedeutet Wegbringen oder Fortschaffen und steht für die gewaltsame, massenhafte Umsiedlung von größeren Bevölkerungsgruppen in der Regel durch den Staat. Und das ist genau das, was wir hier haben.

Edwin: In der Wahrnehmung vieler bezieht sich dieses Ereignis auf die Wolgadeutschen, aber so ist es ja nicht. Wenn wir einen Blick in die Familienbiografien werfen, waren weder Melittas, noch Iras, noch meine Familie 1941 von diesen Deportationen betroffen. Dennoch gab es hinterher Maßnahmen, die in verschiedensten Arten alle betroffen haben. Wie ging es dann weiter für die Menschen, die deportiert wurden?

Hans-Christian Petersen: Das Ganze hat eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte. Wenn wir mal in der sowjetischen Zeit nach 1917 beginnen, dann haben wir ab 1934 – da befinden wir uns bereits in der Zeit der gewaltsamen Industrialisierung und Kollektivierung, also Stalinismus – eine zunehmende nationalistische Wendung dieser Politik, die sich gegen bestimmte ethnische Minderheiten richtet. Ab 1937 geht es ganz klar gegen Polen, Finnen, Koreaner, aber eben auch Deutsche. Die sogenannten nationalen Operationen 1937/38 mit sehr vielen Opfern spielen da eine wichtige Rolle. Der 28. August 1941 ist dann erst einmal der negative Höhepunkt in dieser Entwicklung. Aber damit hört es nicht auf. Erstens gibt es diese Zwangsumsiedlungen deutscher und anderer Minderheiten, so auch der Inguschen, der Tschetschenen dann bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Dann gibt es im Fall der Russlanddeutschen, aber auch anderer, die sogenannte Sonderkommandantur bis 1955, also dass die Menschen weiterhin unter einer rigiden politischen Aufsicht in den Orten, in den Lagern standen, in die sie deportiert wurden und dort weiterhin schwere körperliche Arbeit verrichten mussten. Erst danach gibt es eine sukzessive Rehabilitierung, wenn auch keine vollständige. Dieser 28. August 1941 ist nur das Symbol, weil mit diesem Erlass diese großflächigen Zwangsumsiedlung begonnen haben.

Ira: Melitta, hat der 28. August in deiner Familie eine Bedeutung und inwiefern wurde über die Deportation in deiner Familie gesprochen? Was ist mit deinen Eltern und Großeltern in dieser Zeit passiert?

Melitta L. Roth: Ein Teil meiner Familie kommt aus dem Schwarzmeerraum. Die Vertreibungen von der Wolga betreffen sie gar nicht, sondern als die deutschen Truppen diesen Raum besetzten, sind sie in Trecks in den Westen gezogen. Sie sind vor der Roten Armee geflohen. Sie wurden umgesiedelt in Gebiete in Polen, wo die NS-Regierung die Menschen vertrieben hat. Sie sind über Środa Wielkopolska nach Ostdeutschland in die Stadt Dahme/Mark gekommen. Zumindest meine Großmutter. Da hat sie mit ihren Kindern gelebt. Mein Großvater wurde in die deutsche Armee aufgenommen. Er war zuerst bei einem SS-Offizier und dann in der Wehrmacht.

Nach dem Krieg haben sie das erlebt, was die „Repatriierung“ genannt wird, was natürlich nicht zurück in die Heimat in die Dörfer ans Schwarze Meer bedeutete, sondern eine Verschleppung in Sondersiedlungen. In einer Konferenz haben die Alliierten Kriegsgefangene ausgetauscht und in dieser Folge sind die Russlanddeutschen unter die Räder gekommen und wurden zurück in den Osten verschickt. Mein Großvater ist in Sibirien gelandet und meine Großmutter im Ural. Ich weiß nicht, wie sie übereinander erfahren haben, wo sie waren, aber auf abenteuerliche Weise haben sie es geschafft, sich in einer Sondersiedlung wiederzufinden. Mein Großvater hat es geschafft, seine Frau und die Kinder irgendwie zu sich zu holen. Dort mussten sie lange im Wald arbeiten und später waren sie in der Landwirtschaft eingesetzt. Bis 1955 haben sie in Sibirien gelebt. Dieses zentrale Datum der Russlanddeutschen war nicht unbedingt für meine Familie ausschlaggebend. Obwohl Deportationen und Repatriierung, alles zum Gleichen führte, dass die Leute dort weit hinter der Front, Frauen wie Männer gleichermaßen, in ganz unwirtlichen Gegenden sowas wie Zwangsarbeit leisten mussten.

Ira: Wann hast du erfahren, was die Geschichte deiner Familie ist?

Melitta L. Roth: In der Sowjetunion wusste ich nur, dass wir Deutsche waren. Über die Schwere des Schicksals habe ich erst erfahren, als wir in Deutschland waren, aber selbst da war ich ein Kind. In Deutschland hat mein Vater angefangen, sich damit künstlerisch auseinanderzusetzen und hat viele Storys erzählt. Manchmal waren es harmlose Kinderstreiche, wie sie zum Beispiel Holz auf Schienen gelegt haben und ihre Väter wurden dann der Sabotage angeklagt. Es ist zwar glimpflich ausgegangen, aber solche Storys kamen immer mal wieder. Verkleidet durch Familiengeschichten brach immer wieder sowas raus, was eigentlich nicht für Kinderohren gehörte. Wie zum Beispiel, wenn es um Tod ging. Das hat dazu geführt, dass ich irgendwann mich davon abgewandt und erst viel später angefangen habe, mir das wieder anzueignen und zu recherchieren.

Ich kann nicht sagen, dass bei uns viel darüber geschwiegen wurde. Dass mein Opa, als er nach Deutschland kam in der Wehrmacht war, war ein Punkt, der nicht besonders groß behandelt wurde. Ich glaube nicht, dass es bei den meisten so war, dass sie freiwillig und im vollen Bewusstsein mitgegangen sind. Was ich später gelesen habe, ist, dass Züge und Autos durch die Ukraine gefahren sind, die die Leute eingebürgert und Männer im wehrfähigen Alter sofort eingeteilt haben. Sie konnten entweder in die Wehrmacht oder in die SS. Und ich glaube nicht, dass die meisten da eine Wahl hatten. Vielleicht waren einige glühend dabei, aber solche gibt es immer und überall.

Melitta L. Roth, Quelle: Tankred Tabbert

Edwin: Ira, kennst du auch die Erzählungen von der Trudarmee, also vom Arbeitslager oder Sondersiedlung? Wie wurde darüber erzählt?

Ira: Im Grunde nur von den Zweitzeugen, meinen Eltern, oder älteren Angehörigen. Aber mit meinen Großeltern oder beispielsweise mit Verwandten, die selbst im GULAG oder in der Trudarmee waren, konnte ich nicht darüber sprechen. Ich habe mal eine Tante interviewt, die sich noch an die Deportation 1936 aus der Westukraine nach Kasachstan erinnern konnte. Ansonsten weiß ich aus Erzählungen, dass mein Großvater im GULAG war, dass viele Geschwister meiner Großeltern in der Trudarmee waren. Mein Großvater, der neun Jahre im GULAG war, wurde erst im Januar 1991 rehabilitiert: fast 20 Jahre nach seinem Tod und auch nur auf Nachfrage meiner Mutter hin. Sie hat sich einen Kampf mit verschiedenen Archiven gegeben, damit wir dieses Blatt Papier bekommen, wo steht, dass er zu Unrecht verurteilt worden war.

Edwin: Eine Frage an Hans: Wir haben jetzt ein paarmal von der „Arbeitsarmee“, „Trudarmee“ gesprochen. Was kann man aus historischer Sicht darüber sagen? War das nur ein Arbeitseinsatz im Hinterland?

Hans-Christian Petersen: Das waren häufig Großbaustellen des Stalinismus und Teile des GULAG-Systems. Ein Kennzeichen des Stalinismus ist, dass Menschen aus ganz verschiedenen Gründen, in dem Fall aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit aber auch aus politischen Gründen, in Zwangsarbeitslager gebracht wurden, die sich zum Großteil in Sibirien befunden haben und die nicht selten mit Industrialisierung und Kollektivierung verbunden waren. Da sollte die Gesellschaft mit Gewalt auf Kosten der Menschen ökonomisch „nach vorne“ gebracht werden. Und in diesem Zusammenhang würde ich auch die Arbeitsarmee sehen. Also Zwangsarbeit, um bestimmte Flächen zu erschließen oder um Industrieprojekte voranzubringen. Das besondere Merkmal daran ist dieser Kriegszusammenhang und dass sie dorthin gekommen sind, weil sie in diesem Fall Deutsche, Polen, Finnen oder andere waren. Nach ethnischem Merkmal.

Edwin: Bei uns stand das Thema Trudarmee im Zentrum der Erinnerung an diese Zeiten. Meine Familie wurde nicht deportiert. Sie lebte schon seit „Kaiserszeiten“ in Sibirien. Aber meine Großväter wurden in diese Arbeitsarmeen einberufen. Zum Teil hatten sie jüngere Geschwister, die beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Wehrdienst geleistet hatten. Sie waren Sowjetbürger und mussten auch Wehrdienst leisten. Bis Juni 1941 waren sie an der Front. Aber dann kam für die deutschen Männer die Abberufung von der Front. Sie wurden als erste in die Arbeitsarmeen eingefahren. 1942 im Winter kam dann auch der Befehl an meinen Großvater. Er war bis 1946 in Krasnoturjinsk, einer Industriestadt im Ural. Da wurde ein Werk wieder aufgebaut, was kurz davor in der Ostukraine demontiert wurde und weiter weg von der Front gebracht wurde. Es war ein Aluminiumwerk und wichtig für die Rüstungsindustrie. Ohne Einsatz von Technik, sondern nur unter Einsatz menschlicher Kraft, musste es in kürzester Zeit wieder aufgebaut werden, was unglaublich große menschliche Verluste mit sich brachte. Die Unterbringungskonditionen waren so miserabel, dass in den ersten Monaten viele gestorben waren. Mein Großvater hatte eine schwere Erkrankung gehabt und durfte ins Lazarett. Danach durfte er „einfachere Arbeiten“ verrichten, die darin bestanden, dass er jeden Morgen die Baracken von Leichen gesäubert hat. Von den 70 Männern aus seinem Dorf, die einberufen wurden, sind angeblich nur zehn wieder zurückgekommen.

Sein Dilemma war: Er wusste nicht, warum es ihm passiert ist. Er wäre wahrscheinlich auch an die Front gegangen. Er war Patriot seiner sowjetischen Heimat, aber er hat nicht verstanden, warum das ihm passiert ist. Bis in die 1980er Jahre hat er mit kaum jemandem darüber gesprochen. Als meine Eltern in der Perestroika-Zeit die ersten Begegnungsabende veranstaltet haben, wollte mein Vater ein Foto von meinem Großvater zeigen, was er im Lager mit seinen Kameraden aufgenommen hat. Am Abend davor hat mein Großvater dieses Foto verbrannt, weil er Angst hatte, dass die Öffentlichkeit erfährt, dass er ein Lagerinsasse war. Diese Angst verfolgte ihn bis zu seinem Lebensende. Das war das prägendste Ereignis in seinem Leben.

Hans-Christian Petersen: Das ist tatsächlich eine Besonderheit des russlanddeutschen Schicksals im Zweiten Weltkrieg, weil die zwischen die Fronten geraten sind. Es ist diese Rolle von den Russlanddeutschen in der Roten Armee, die bisher kaum erforscht ist. Viele sind entweder in die Trudarmija gekommen oder in deutsche Gefangenschaft und haben dann nicht selten später auf der anderen Seite gekämpft. Das gibt es eben auch. Und gleichzeitig sieht man daran, und das unterscheidet sie dann von anderen Gruppen, die genauso repressiert wurden, sie werden pauschal der einen oder der anderen Seite zugeschlagen und laufen immer Gefahr des Verrats bezichtigt zu werden. Wenn du in der Roten Armee gekämpft hast und dann in deutsche Kriegsgefangenschaft gerätst, kann das auch sehr gefährlich werden. Und andersherum wird das als Vorwand für die Zwangsumsiedlung genommen. Bevor die deutsche Armee Großteile der Gebiete erreicht hat. Das ist vielleicht ein Spezifikum dieser Gruppe.

Edwin: War denn der Verdacht berechtigt, dass die Deutschen kollaborieren? Es gab ein Memo an Stalin, in dem geschrieben wurde: In den deutschen Dörfern wurde der abrückenden Roten Armee in den Rücken geschossen.

Hans-Christian Petersen: Ja, das Memo gibt es. Es hat vielleicht auch diese Fälle gegeben. Aber da müssen wir jetzt zwei Sachen klar auseinanderhalten. Zunächst einmal völlig unabhängig davon, was einzelne Menschen getan haben, die zwangsweisen Umsiedlungen sind durch nichts gerechtfertigt, weil sie pauschal und kollektiv erfolgten. Der Vorwurf der Sabotage und der Kollaboration zu einem Zeitpunkt, als die Wehrmacht sich noch in der Ukraine befindet, entbehrt jeder Grundlage. Unabhängig von der Frage, wieviel russlanddeutsche Tätergeschichte – und die gibt es auch – rechtfertigt in gar keiner Weise das, was unter Stalin passiert ist. Da würde ich keinen Zusammenhang sehen. Das entspringt der Logik des Stalinismus. Das haben wir auch schon in der vorstalinistischen Zeit. Im Ersten Weltkrieg werden aus den frontnahen Gebieten deutsche und polnische Bürger des Zarenreichs auch umgesiedelt, weil sie als potenzielle Verräter gelten. Das greift der Stalinismus nur wieder auf. Im Gegensatz zum Zarenreich macht er das mit wesentlich radikaleren Mitteln. Aber da gibt es ganz viele Wissenslücken.

Die Herausforderung russlanddeutsche Geschichte und das Erinnern irgendwie vollständig abzubilden, besteht darin, diese beiden Teile in irgendein Verhältnis zu bringen. Und das ist schwierig, weil wir hier einerseits über eine ganz klare Opfergeschichte und Stalinismus reden.  Da werden schwarzmeerdeutsche, wolgadeutsche Gemeinden, die es seit Ende des 18. Jahrhunderts oder Anfang des 19. Jahrhunderts gegeben hat, einfach zerrissen. Da werden Familien auseinandergerissen. Das ist hochgradig schmerzlich. Auf der anderen Seite gibt es eben eine Beteiligung in Form des sogenannten Volksdeutschen Selbstschutzes an Verbrechen von Ukrainedeutschen oder Russlanddeutschen unter deutscher Besatzung, die kaum aufgearbeitet ist, über die in der offiziellen Erinnerung auch nicht gesprochen wird. Und das ist auch problematisch.

Ira: Du hast erwähnt, dass ganz unterschiedliche Gruppen unter Stalin deportiert wurden. Was ist das Besondere bei den Russlanddeutschen und welche Folgen hat dieses Besondere für diese Gruppe auch in der heutigen Bundesrepublik?

Hans-Christian Petersen: Vieles daran ist nicht besonders. Und es wird Zeit, sowohl in der Forschung als auch in der Erinnerungspolitik, das in einen breiteren Kontext zu setzen. Wir reden hier über die Gewaltpolitik des Stalinismus und es ließen sich viele weitere Gruppen aufzählen, die gleichsam gewaltsam auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg zwangsumgesiedelt wurden. Gleichzeitig gibt es Besonderheiten. Die bestehen in der zugeschriebenen Verbindung mit dem Aggressor, mit dem Deutschen Reich. Zugeschrieben deswegen, weil das lange nicht den Realitäten entsprochen hat. In den Quellen vorher gibt es „Schwarzmeerdeutsche“, „Kolonisten“ und andere, aber nicht „Russlanddeutsche“.

Einerseits war die deutschsprachige Bevölkerung bis in den Ersten Weltkrieg hinein darauf bedacht, ihre Sprache, Konfessionen und Kulturen zu bewahren. Gleichzeitig war sie sehr loyal zu den Zaren und Zarinnen, bis hin zu den 350.000 Menschen, die im Ersten Weltkrieg in der zaristischen Armee gegen das Deutsche Reich gekämpft haben. Sowohl von russisch-nationalistischer Seite als auch von der deutsch-völkischer Seite wurde immer gesagt: Ihr gehört doch eigentlich zum Deutschen Reich. Das deckt sich aber nicht mit dem Selbstverständnis der Menschen.

Auch in den 1920er Jahren gibt es noch die Wolgarepublik. Die ist in die Ideologie der Sowjetunion klar eingebettet, aber da gibt es immerhin deutschsprachige Theater, deutschsprachige Presse und so weiter. Und mit dem deutschen Überfall und mit dem Stalinismus, der diese Feindbilder benutzt, kommt dann diese klare Feindzuweisung: „Ihr seid Faschisten.“ Und das macht dann die Besonderheit aus. Ihr seid ja „Feinde im Inneren“. Wobei es das auch später für die jüdische Bevölkerung in der Sowjetunion mit dem Konnex zu Israel gibt.

Das ist dann das „Kriegsfolgenschicksal“, das die Grundlage bildet, auf der die Menschen heute hier sind: also die gesetzliche Annahme, dass die Menschen bis zum Ende der Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs als Deutsche gelitten haben. Und deswegen, wenn sie ihre, so heißt es im Gesetz, „Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum“ nachweisen können, dann als Deutsche anerkannt werden und auch die Staatsbürgerschaft verliehen bekommen. Es ist ganz entscheidend für alle – für eure Familien – weil das die rechtliche Grundlage ist, auf der die Menschen hier sind.

Ira: Hans aus deiner Sicht als Historiker: Wie beurteilst du die Opferperspektive unter den Russlanddeutschen?

Hans-Christian Petersen: Ich arbeite zu Karl Stumpp, dem „Patriarchen“ der russlanddeutschen Forschung und Geschichtsschreibung – ein Stück weit auch bis heute. Er war eindeutig überzeugter und aktiver Nationalsozialist und prägt bis heute die Grundlagen der Geschichtsschreibung durch seine Daten, die vor allem aus der damals besetzten Ukraine kamen. Es gibt Forschungen zu dieser Frage: Was passierte in der Ukraine? Die gibt es schon in den 1980ern, deutschsprachige von Meir Buchsweiler oder Ingeborg Fleischhauer. Dann in den 1990ern auch von ein paar ukrainischen Kollegen und vor allem aus dem englischsprachigen Bereich. Gleichzeitig wissen wir vieles darüber noch nicht. Und dass das schwierig ist, in ein Verhältnis zu bringen, das verstehe ich völlig. Vor allem auf einer individuellen oder familiären Ebene. Ich rede hier als Forscher. Das ist nochmal etwas anderes, als wenn es wie bei Melita um die eigene Familiengeschichte geht.

Ich würde davor warnen, nur in diesen Täter-Opfer-Kategorien zu denken. Das ist zu starr. Es gibt Biografien, da haben wir beides. Das ist nicht selten und vor allem ist die russlanddeutsche Geschichte viel vielfältiger. Es gibt Migrationen schon Ende des 19. Jahrhunderts aus dem europäischen Teil Russlands nach Sibirien. Es gibt die weitere Migration nach Nord- und Südamerika, vor allem mennonitische, die geht gar nicht nach Deutschland, sondern nach Amerika. Das ist eine globale Migrationsgeschichte. Gewichtige Teile der Gruppe haben diese stalinistischen Umsiedlungen nicht miterlebt. In Amerika reden wir schon 1940 über mehr als eine Million Menschen, die als Russian Germans in Nord- und Südamerika leben. Was hält die Gruppe noch zusammen? Deswegen würde ich nicht nur über Täter und Opfer reden wollen.

Aber einen Punkt möchte ich machen: Und zwar aus einer eurer letzten Folgen mit Kornelius Ens, dem Direktor des Museums für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. Ich finde, er hat sehr überzeugend deutlich gemacht, zum einen wie wichtig Erinnern ist: Erinnern verleiht uns Würde, sagt er, und dann erwähnt er auch dieses eine Narrativ, was für alle gelten soll. Das führt zu Problemen bei den Menschen, die sich darin nicht wiederfinden. Weil sie das Gefühl haben, eine ganz andere Geschichte zu haben. Aber darf ich die jetzt überhaupt erzählen oder nicht? Ich wäre da für eine Öffnung, ohne dass deswegen irgendwas von dem Schrecken dieser Zwangsumsiedlungen verloren geht.

Edwin: Melitta, du verfolgst auch die Literaturszene. In deinem Blog kann man viele wertvolle Informationen zu aktuellen und alten Erscheinungen finden. Hast du den Eindruck, dass in der Literatur und in der Wahrnehmung der russlanddeutschen Gemeinschaft dieser Opfergang eine zentrale Rolle einnimmt? Und wenn ja, fehlt dir da nicht manchmal die andere Perspektive?

Melitta L. Roth: Die Werke, die uns erhalten geblieben sind, stammen oft von Menschen, die damals Kinder waren und später geschrieben haben. Denn die Schriftsteller der Zwischenkriegsjahre sind meist gar nicht dazu gekommen, zu schreiben oder haben Lyrik geschrieben, wie zum Beispiel Dominik Hollmann. Oder deren Bücher sind verloren gegangen. Das heißt, über dieses Thema geschrieben haben oft Leute, die Deportation, die Repatriierung und die Sondersiedlungen als Kinder erlebt haben. Es ist Teil ihres Erlebens und natürlich haben sie das in ihre Geschichten eingeflochten.

In Russland war das unmöglich, darüber zu sprechen oder zu schreiben. Es gab zwar deutsche Zeitschriften und Texte. Die Leute haben geschrieben, auch auf Deutsch, aber sie durften bestimmte Worte wie „Wolga“, bestimmte Themen überhaupt nicht berühren. Die Leute, die nach Deutschland gekommen sind, aus ihnen ist das natürlich herausgebrochen. Die haben darüber geschrieben, manchmal mit wenig Abstand und manchmal auch so, dass sie gar nicht mehr gehört werden wollten. Auch von unseren eigenen Leuten nicht, die gesagt haben: „Oh, das ist mir zu schwer. Ich möchte daran nicht erinnert werden.“ Aber es sind notwendige Zeugenberichte. Es sind Dinge, die in unsere Erinnerungskultur gehören und deshalb haben sie ihren Wert und ihre Berechtigung. Solange der Opfer nicht gedacht wird, solange sie unter den Teppich gekehrt werden, hat dieses Thema auch eine Brisanz. Ich glaube, das muss mal ausgesprochen werden, damit es von uns abfällt, damit es nicht mehr so auf uns lastet. Deshalb nochmal doppelt so wichtig darüber zu schreiben und zu sprechen.

Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig ist die Tätergeschichten zu thematisieren. Nicht nur, weil es sich um Angehörige handelt, sondern weil dieses große Trauma der Verschleppung und der Deportation darauf beruht, das Deutsche kollaboriert haben. Deshalb: Wie willst du darüber reden und gleichzeitig sagen: „Aber wir hatten damit nichts zu tun.“ Diese Trennung wurde gar nicht vollzogen, dass Stalin die Leute willkürlich verschleppt hat und in Sippenhaft genommen hat, weil er wollte, dass sie für ihn arbeiten. Und auf der anderen Seite dieses Tatsächliche, dass es vielleicht doch ein paar Mitläufer gegeben hat und eben diese ungefähr 7.000 Leute, die in die Wehrmacht oder SS eingezogen worden sind.

Da fallen mir zum Beispiel Romane von Markus Berges ein, der „Die Köchin von Bob Dylan“ geschrieben hat. Er ist in Deutschland aufgewachsen und hatte eine schwarzmeerdeutsche Großmutter und schreibt über die Zeit während des Krieges und über die Verwicklungen der deutschen Siedler unter der Besatzungsmacht. Und auch Eleonora Hummel streift das Thema in ihren Romanen immer wieder. Aber die meisten Geschichten bleiben natürlich bei einem Opfernarrativ, weil es auch so drängend ist, möglicherweise.

Als ich herausgefunden habe, dass mein Großvater in der Wehrmacht war und möglicherweise verwickelt war in irgendwelche Täterschaften, da kam mein Freund auf mich zu und sagte: Willkommen in der Mitte der Gesellschaft, weil es für die deutsche Gesellschaft zu der Verarbeitung der Vergangenheit einfach dazugehört.

Edwin: Hans, du hast in einer Arbeit von dir die Erinnerungsnarrative der Verbände und der einschlägigen Historiker, die diesen Verbänden nahestanden, also zivilgesellschaftliche Organisationen der Deutschen aus Russland und ihre politischen Vertreter, untersucht. Du hattest herausgearbeitet, dass sie sich über Jahrzehnte auf dieses Opfernarrativ fokussiert hatten. Was waren für dich die Gründe dafür?

Hans-Christian Petersen: Ich sehe drei Hauptgründe für die Dominanz dieses Opfernarrativs. Das eine ist die sowjetische Erfahrung, die Erfahrungen der Zwangsumsiedlungen und das fortdauernde Stigma „nemcy-faschisty“, also alle Deutschen seien Faschisten. Ich würde denken, dass es hier noch etwas zu erforschen gibt: Ob das in allen Kontexten immer so war? Die Menschen haben in den dreißig Jahren, die zwischen dem Tod Stalins liegen und dem Beginn von Perestroika und Glasnost unter Gorbatschow auch „normale“ sowjetische Leben geführt. Das ist das Thema unseres Forschungsverbunds. Aber es gab auch diese fortdauernde Diskriminierung.

Das Zweite ist, die Anerkennungspraxis des bundesdeutschen Staates, die das natürlich befördert, weil sie auf dem Kriegsfolgenschicksal beruht und nur dann die Anerkennung erfolgen kann. Damit bringe ich die Menschen dazu, ihre Familiengeschichte daraufhin zu fokussieren.

Und das Dritte ist die Geschichte. Wenn wir über die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland reden, über ihre Geschichte wohlgemerkt, da gibt es inzwischen ja auch deutliche Eröffnungsprozesse. Aber von wem wurde sie gegründet? Sie wurde – sie kann ja nur gegründet worden sein – von denjenigen gegründet, die mit der sich zurückziehenden deutschen Armee aus den Schwarzmeergebieten erstmal in die Besatzungszonen und dann in die entstehende Bundesrepublik gekommen sind, die nicht gewaltsamen von den Sowjets repatriiert wurden.

Das waren ungefähr 70.000 Menschen, von denen ging ein Teil nach Nordamerika. Die, die blieben, und die Landsmannschaft gründeten, waren die gleichen Aktivisten, die wir schon in der Zwischenkriegszeit haben. Und die haben in Abstufungen alle mehr oder weniger eine NS-Geschichte. Natürlich haben die kein Interesse, darüber zu reden. Diese beiden Dinge sind zu trennen. Das, was Russlanddeutschen im Stalinismus passiert ist, ist durch nichts zu rechtfertigen. Ich plädiere nur dafür, dass das Bild deutlich unvollständig ist und dass sich ganz viele Russlanddeutsche darin nicht wiederfinden, weil es nicht ihre Geschichten sind.

Ich würde hier aber auch die gesamtdeutsche Mehrheitsgesellschaft in der Pflicht sehen. Meine beiden Punkte, die ich gerne machen würde, sind Anerkennung und Öffnung. Anerkennung ist: Wir haben seit dem unseligen „Fall Lisa“ eine Vielzahl von fundierten Online-Informationsangeboten wie auch euren Podcast. Die gab es vorher nicht. Trotzdem ist das Wissen um die russlanddeutsche Geschichte nach wie vor erschreckend gering und kaum in den Schulcurricula vorhanden. Es gibt eine deutliche „Bringschuld“ der Mehrheitsgesellschaft, das zur Kenntnis zu nehmen. Diese russlanddeutschen Geschichten, inklusive der Geschichte, dass Deutsche Täter und auch Opfer sein konnten, ist nämlich wenig bekannt. Das ist frustrierend. Ohne Anerkennung wird es auch keine Öffnung geben, glaube ich. Deswegen ist auch sowas wie die Einrichtung des Museums in Detmold so wichtig als Ort, zumindest der Anerkennung und des Austausches. Wegen der fehlenden Anerkennung sind viele Russlanddeutsche auch verbittert. Ich habe die Beiträge von Eleonora Hummel und Felix Riefer und eure Schweigeminuten gesehen. Für mich spricht da sehr viel Verbitterung raus. Und das kann ich als jemand, der nicht zur Gruppe gehört, nachvollziehen.

Und gleichzeitig kritisiere ich Historiker, die das Feld nach wie vor oder lange dominiert haben: Wenn man weiter nur auf die eigene Gruppe guckt und nur die Opfergeschichte der eigenen Gruppe als einzigartig immer fortschreibt, dann bietet man auch keine Anknüpfungspunkte für die Mehrheitsgesellschaft und für das gesamtdeutsche Erinnern. Dann wird man immer unter sich bleiben mit einer zu engen Interpretation. Da sehe ich eine deutliche Notwendigkeit der Öffnung.

Edwin: Was wäre da konkret ein Beispiel für eine Öffnung?

Hans-Christian Petersen: Ich finde den X3-Podcast genauso interessant, wie euren Podcast, weil er nämlich unter dem Label postsowjetisch läuft. Ich glaube, dass das weiterführend ist. Es bedeutet, Russlanddeutsche in einen breiteren Kontext zu stellen mit den sowjetisch-jüdischen Menschen, die aus dem Postsowjetischen oder aus der Sowjetunion kommen, bis hin zu tschetschenischen Geflüchteten oder allen auch russischsprachigen Menschen, die hier leben. Diese Menschen haben, was ihre Familie angeht, große Unterschiede. Die russlanddeutsche Geschichte ist eine andere. Sie haben aber auch etwas gemeinsam. Das bedeutet in keiner Weise Gleichmacherei, sondern es ist Einbettung, um dann auch die Besonderheiten wieder sehen zu können. Dieses Postsowjetische und Migrationsgeschichte halte ich für eine Möglichkeit, an aktuelle Debatten in der Bundesrepublik anzuschließen.

Podcast Steppenkinder

Ira: Melitta, wie wirken die Erlebnisse unserer Eltern und Großeltern noch fort in uns und dürfen wir darüber sprechen?

Melitta L. Roth: Wir dürfen nicht nur darüber sprechen, wir müssen darüber sprechen. Es kann sein, dass es den jüngeren, den kommenden Generationen etwas leichter fällt. Natürlich muss man das auch mit einem liebenden Auge betrachten, mit Empathie, sensibel an die Themen rangehen und nicht einfach nur sagen: Ach, diese Opferrolle, das ist mir alles ein bisschen zu viel. Es ist schwer dafür Worte zu finden und es braucht eine Sprache, die es auch einer nicht betroffenen Gesellschaft zugänglich macht. Was nicht so einfach auszuführen ist, aber ich habe die Hoffnung, dass je größer die Distanz ist, und je freier die Menschen damit umgehen können, die darüber schreiben, malen, Theater oder Musik machen, desto leichter das verständlich und annehmbarer ist.

Ira: Warum ist das denn so wichtig, dass wir darüber sprechen? Hat das auch etwas mit dem Thema Traumata-Weitergabe zu tun?

Melitta L. Roth: Dass Traumata weitergegeben werden, auch ohne Worte, manchmal sogar durch Marker in der DNS, das ist lange erforscht. Es ist nicht so einfach mit Ursache und Wirkung: Trauma hier, also passiert das und das, sondern das ist sehr individuell und schwierig zu fassen. Und es betrifft bei weitem nicht alle, auch nicht alle Nachkommen. Meistens sind das nur 10 bis 14 Prozent. Und bei dem Thema ist es mir vor allem wichtig, dass das nicht aufgepfropft wird auf alle. Dass man niemanden zwingt, sich mit diesen Themen zu befassen. Sondern nur diejenigen das machen, die das wirklich wollen, die psychisch stark genug sind oder die den Leidensdruck haben, die die Neugier oder die Distanz haben.

Ich glaube nicht, dass allein durch die Auseinandersetzung eine Heilung geschieht. Aber es hilft mir mich persönlich in manchen Situationen zu verstehen. Oder es hilft mir, mein Leben oder meine Entwicklung einzuordnen. Zum Beispiel im Diskurs um die Kriegskinder oder die Kriegsenkel. Die beschreiben das so wie einen Nebel, der sich auf alles legt und der Leute am Fortkommen hindert. Und ich glaube, wenn du einmal verstehst: Das ist nicht meins, das habe ich nur übernommen, gerade weil es auch unausgesprochen weitergegeben wurde, das ist ungeheuer erleichternd. Es kann den Druck von der Seele nehmen, wenn du weißt, wo das hergekommen ist. Und ein anderer Grund, warum wir unbedingt an dem Thema dranbleiben müssen, ist dass, wenn in den kommenden Generationen Menschen auf der Suche sind, wenn sie ihre Identität finden wollen, dass sie Zugänge haben über Bücher oder über Blogs, über andere Medien da einzutauchen, und dass sie sich ein Stück wiederfinden. Ich glaube, das ist sehr wertvoll.

Edwin: Ich finde es wichtig, dass wir uns darüber Gedanken machen. Denn wir sind jetzt in der Zeit nach den Zeitzeugen. Es gibt in der Theorie zur Erinnerungskultur den Begriff der kommunikativen Erinnerung. Das heißt, die Erinnerung, die man mit lebenden Menschen teilen kann. Aber mittlerweile sind diejenigen, die das erlebt haben, alle, wenn sie noch leben, über 90. Das heißt, wir können nicht mehr die Zeitzeugen als Zeugen dieser Zeit befragen. Unsere Generation stellt jetzt neue Fragen, die für sie selbst persönlich wichtig sind und die vielleicht weniger die Zeitzeugen betreffen. Melitta, was sind denn die Aspekte, mit denen sich die heutige Generation auseinandersetzt bei diesem Thema?

Melitta L. Roth: Es ist nicht nur so, dass unsere Zeitzeugen und Zeitzeuginnen langsam gehen und auch, dass sie früher, als sie gelebt haben, oft abgewunken haben und gar nichts erzählt haben. Der Zugang der jetzigen, kommenden und späteren Generationen zu diesem Thema ist ein anderer. Da geht es auch um die Wirkung auf die eigene Person. Aber es geht auch darum: Wie können wir diese Mikrogeschichte in die allgemeine deutsche oder europäische Geschichte einbinden, dass es nicht mehr so ein Schattendasein führt? Welche Zugänge gibt es über das Schweigen, über Generationenkonflikte, die Aufarbeitung der Vergangenheit zu sprechen, die ja auch verschiedene europäische Völker gemeinsam haben? Wie passt das in einen geschichtlichen Kanon? Wir wollen uns nicht isolieren. Wir wollen mit unserer Geschichte nicht allein bleiben. Manchmal denke ich: Die Geschichte ist wie ein Spiegel, der im Krieg zerbrochen wurde. Eine Scherbe ist die Geschichte der Russlanddeutschen. Sie ist unters Sofa gefallen und war dann lange Zeit aus dem Fokus. Aber sie ist dennoch ein Stück von diesem Spiegel und sollte auch betrachtet werden.

Diese Aspekte sind zentral bei unserem Projekt „Schweigeminuten“. Wir haben Autorinnen und Autoren aus der nächsten und der übernächsten Generation versammelt und sie aus ihrer eigenen Perspektive erzählen lassen, was sie mit der Deportation verbinden. Es geht nicht nur darum, die Geschichte anders zu erzählen, sondern überhaupt darüber zu sprechen. Wie können wir mit unseren Themen, mit dem Erlebten, mit dem Schatz unserer Geschichte in das große Geschichtsbild hier andocken? Und ich finde, das ist uns sehr gut gelungen.

Edwin: Es handelt um kurze Lesungen exklusiver Texte, die Autor:innen für dieses Projekt geschrieben haben. Wir haben Autorinnen und Autoren eingeladen, die jetzt nicht nur belletristisch oder lyrisch unterwegs sind. Mit Christina Pauls haben wir eine Soziologin, mit Felix Riefer einen Politologen, der über juristische, historische Aspekte reflektiert. Wir haben Eleonora Hummel, mit ihr wurde die Reihe auch eröffnet und Melitta L. Roth hat auch ein Beitrag beigesteuert. Vielleicht kann sie ein bisschen spoilern. Dann haben wir noch Artur Rosenstern, den Autor und Verleger und wir haben den Journalisten Viktor Funk, der bei uns mit seinem Roman bereits in der Sendung war.

Melitta L. Roth: Wie der Titel schon sagt, „Der Feind im Innern. Von der fünften Kolonne Hitlers zur Fünften Kolonne Putins“, geht es bei meinem Text darum, dass Stalin eine ganze Volksgruppe pauschal als Spione und Diversanten gebrandmarkt hat und dadurch die Handhabe hatte, sie alle zu deportieren. Und ich muss sagen, während des Schreibprozesses hatte ich einige schwere Phasen. Ich hatte manchmal mit Wut zu kämpfen und ich habe versucht, das so neutral wie möglich darzustellen, aber an einigen Stellen hat dieser Text doch sehr meinen Gerechtigkeitssinn getriggert. Das Gemeine an diesem Narrativ ist, dass es sich fast bis heute so unhinterfragt durchzieht. Und genau die gleichen Leute, die bezichtigt wurden, zu der fünften Kolonne Hitlers zu gehören, heute in den Medien als fünfte Kolonne Putins bezeichnet werden.

Edwin: Mir ist wichtig, dass russlanddeutsche Kultur und Geschichte irgendwann mehrheitsgesellschaftlich wird. Da müssen wir schauen, dass wir Anknüpfungspunkte an allgemeine Erzählungen finden, sodass wir in den allgemeinen historischen Diskursen einen Platz haben. Ich bin gespannt auf die nähere Zukunft, weil es gerade einen Umbruch-Moment gibt, wegen der Generation nach den Zeitzeugen, die jetzt sprachfähig wird und eine eigene Herangehensweise findet, um über diese Sachen zu sprechen.

Und ein Veranstaltungshinweis: Wir werden mit Hans, also mit dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte im östlichen Europa und der Beauftragten für Kultur und Medien, dem Kulturforum östliches Europa, dem Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold und dem Kulturreferat zusammen, am 25. August in Berlin im Deutschen Historischen Museum eine Veranstaltung zu diesem Thema organisieren und durchführen mit dem Titel Deportation und Erinnerung. 80. Jahrestag der Zwangsumsiedlung der Russlanddeutschen 1941. Es wird einen Mitschnitt von dieser Veranstaltung auf dem YouTube-Kanal des Kulturforums geben.

Edwin: Melitta und Hans, möchtet ihr noch etwas ergänzen?

Melitta L. Roth: Was mir noch wichtig ist: Wir haben viel über die politischen Seiten, über Deportationen und die Auswirkungen gesprochen. Aber wir haben noch nicht über die Trauer gesprochen. Bisher wurde eher in den Familien getrauert, für sich ganz privat. Natürlich gab und gibt es auch öffentliche Veranstaltungen, verschiedene Gedenksteine durch die ganze Republik, aber es gibt keinen zentralen Ort für uns, keinen geschützten Raum für die Trauer. Wenn wir über die Zukunft der Erinnerungskultur nachdenken, dann würde ich mir genauso einen Raum wünschen. Einen zentralen Punkt, wo diese Themen ihren Ort haben. Und vielleicht gelingt es uns als Gruppe dann auch leichter, uns für diese Gesellschaft zu öffnen und etwas von der Bitterkeit, von der Wut und Kränkung abzulegen. Weil ich merke, dass die uns eher behindern und isolieren.

Hans-Christian Petersen: Das würde ich auch definitiv unterstützen, das hatte ich vorhin auch gemeint mit dem Begriff Anerkennung. Ob das jetzt vielleicht ein weiterer Gedenkstein sein sollte oder vielleicht lieber etwas Interaktives im Sinne von Austausch –das ist dann der nächste Schritt. Auf jeden Fall mangelt es daran. Ganz persönlich: Ich beschäftige mich jetzt mit russlanddeutscher Geschichte seit sieben Jahren. Seit sieben Jahren bin ich nämlich an diesem Bundesinstituts und habe hier den Schwerpunkt auf russlanddeutscher Geschichte. Interessanterweise bin ich eingestellt worden als jemand, der sich vorher nie mit den Russlanddeutschen beschäftigt hat, nämlich als Osteuropahistoriker, der sich ganz viel mit Russland beschäftigt hat.

Da dachte ich am Anfang, es wäre ein Makel von mir. Also, was qualifiziert mich eigentlich dazu? Dann habe ich gesehen, das ist eben leider typisch, weil so viele Menschen, die sich wissenschaftlich mit Osteuropa beschäftigen, nichts über die Russlanddeutschen wissen. Und das ist ein beiderseitiges Problem, an dem wir etwas ändern sollten. Ich sage auch ganz offen, für mich war der Gegenstand am Anfang sperrig. Also, ich als jemand, der bundesdeutsch sozialisiert ist, mit einem starken Fokus auf Aufarbeitung des Nationalsozialismus, fremdelte ich mit Formulierungen wie dem „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“ deutlich. Ich habe viel gelernt in diesen sieben Jahren über meine eigenen Vorurteile. Heute schätze ich die russlanddeutsche Geschichte und ihre Vielfalt sehr.

Edwin: Mir ist auch die weibliche Perspektive bei diesem Thema wichtig. Wenn ich persönlich an diese Zeit denke, dann denke ich natürlich an meinen Großvater, aber ich denke genauso viel an meine Großmutter, die ihre Familie durchbringen musste und nicht nur ihre Familie, sondern auch die Familie ihrer Schwester. Während die Männer als psychische und körperliche Wracks zurückgekommen sind, haben es die Frauen geschafft, diese Familien dann durchzukriegen. Und das ist für mich ein sehr wichtiges Thema und das wird viel zu selten gewürdigt.

Ira: Bei mir ist es auch so, dass wenn ich an die Deportationen in meiner Familie denke, dann denke ich vor allem an die starken Frauen in meiner Familie, die das Überleben derjenigen, die noch da waren, gesichert haben. Denn die Männer waren ja weg. Die wurden entweder erschossen, waren im Gulag oder später in der Trudarmee.

Hans-Christian Petersen: Das ist sehr sowjetisch, würde ich sagen. Die ganze sowjetische Geschichte wird viel stärker von Frauen getragen, als es sichtbar ist in der Erinnerung und ich würde auch sagen im postsowjetischen Russland bis heute.