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Sergej Lebedew: Memorial, ausländische Agenten und Russlands totalitäres Erbe

Der russische Schriftsteller Sergej Lebedew beschäftigt sich in seinen Romanen mit der Stalin-Zeit und mit ihren Folgen für das moderne Russland. Anlässlich einer Lesung im Kölner Lew Kopelew Forum sprach er mit uns über das drohende Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial in Russland, die Geschichte seiner teilweise russlanddeutschen Familie und seinen neuen Roman „Das perfekte Gift“. 

Diese Folge entstand in Zusammenarbeit mit dem Lew Kopelew Forum. Sie ist in zwei sprachlichen Varianten abrufbar. Einmal ohne deutsche Übersetzung und einmal in synchroner Übersetzung.

Übersetzung von Nika Mossessian und Kristina Ilina. 

Synchronisierung von David Du Bruyn.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

deutsche Version
russische Version

Edwin: Vor einigen Tagen hat die russische Staatsanwaltschaft die Auflösung der zivilgesellschaftlichen Organisation „Memorial“ beantragt. Sie sind politisch interessiert, waren früher auch politisch engagiert. Heute sind Sie vordergründig Autor, verfolgen aber die Prozesse und die Entwicklungen in Russland.

Können Sie einschätzen, woher diese staatlichen Repressionen gegen eine zivilgesellschaftliche Organisation kommen, die sich mit den staatlichen Verbrechen in der sowjetischen Zeit beschäftigt? Warum wird diese Organisation in Russland verfolgt? 

Sergej Lebedew: Erstens muss man wissen, dass zwei Organisationen gerade verfolgt werden, die den gleichen Namen tragen, und zwar einerseits die «Gesellschaft für historische Aufklärung Memorial», die sich um die Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der sowjetischen Zeit kümmert. Und andererseits die «Menschenrechtsorganisation Memorial», die sich um die Erinnerung an Verbrechen kümmert, die weniger weit zurückliegen: die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, in russischen Gefängnissen, usw. Diese beiden Organisationen unterstützen sich gegenseitig und haben Überschneidungen. «Die Menschenrechtsorganisation Memorial» wurde seit ihrer Gründung in den 1990er Jahren wiederholt angegriffen. Denn dem russischen Staat gefällt es gar nicht, dass Kriegsverbrechen in Tschetschenien erfasst und dokumentiert werden, dass sie überhaupt erst Verbrechen genannt werden, dass die Opfer politische Unterstützung bekommen, usw. Und gerade die «Menschenrechtsorganisation Memorial» wurde schon vor vielen Jahren zum ausländischen Agenten erklärt. Alles hat mit den Angriffen der Menschenrechtsorganisation angefangen.

«Die Gesellschaft für historische Aufklärung Memorial» hatte es eine Zeit lang geschafft, mit der russischen Staatsmacht zu koexistieren. Selbstverständlich bekam «Memorial» keine staatliche Unterstützung, die Organisation wurde im Gegenteil regelmäßig zur Zielscheibe für Angriffe, aber sie konnte noch, zumindest in den Zweitausender Jahren, ihre Arbeit fortsetzen. 

Ich glaube, dass der Wendepunkt die Annexion der Krim und Russlands Einmarsch in der Ostukraine waren. 

Unter anderem hat dies eine Instrumentalisierung und eine Art der Geschichtsrevision nach sich gezogen. Denn die sowjetische Geschichte selbst ist plötzlich zu einem Feld ideologischer Kriegsführung geworden, zum Ort, wo ein ideologischer Krieg ausgetragen wurde. Es wurde zum Beispiel erwähnt, dass die neue ukrainische Staatsmacht eine faschistische sei - das ist doch für einen postsowjetischen Menschen die schlimmste Beleidigung, die es geben kann. Oder dass die ukrainischen Unabhängigkeitskämpfer eigentlich eine Art Nazi-Unterstützer seien. 

Und gleichzeitig wurde seitdem logischerweise auch die Sowjetunion insgesamt immer mehr idealisiert und glorifiziert. Die Sowjetunion wird zunehmend als ein starker Staat dargestellt, wo Menschen bewusst Menschenrechte aufgeben, um diesen wunderbaren Staat zu haben, der uns alle schützt, der über das größte Übel des zwanzigsten Jahrhunderts gesiegt hat, und so weiter. 

Natürlich wird in so einem gesellschaftlichen Klima eine zivilgesellschaftliche Organisation, die sich um die Erinnerung an Repressionsopfer kümmert, immer unerwünschter. Es ist kein Zufall, des es neben Memorial ein staatliches Gulag-Museum gibt. Ich kann mir vorstellen, dass, wenn Memorial tatsächlich, was ich nicht hoffe, verboten wird, dieses Gulag-Museum in Moskau weiter bestehen wird, und dann zu so einer Art offiziellem, regimetreuem Ansprechpartner zu diesem Thema wird, völlig abhängig vom Staat. 

Memorial ist eine Organisation mit einer dreißigjährigen Tradition, eine unabhängige Organisation, die in den letzten Jahren der Perestroika gegründet wurde. Es ist unmöglich, über sie und ihre Tätigkeit zu bestimmen.

Memorial leistet eine bemerkenswerte aufklärerische Arbeit mit Schülern, mit Erwachsenen. Das Wichtigste ist, dass Memorial Daten gesammelt und eine Datenbank erstellt hat, diese Datenbank frei zugängig und benutzerfreundlich gemacht hat, und zwar eine Datenbank, die Opfer der politischen Repressionen in der Sowjetunion erfasst. Sie ist leider bei weitem nicht vollständig, vieles bleibt noch unbekannt. Aber wenn jemand Informationen über seinen erschossenen Urgroßvater finden will oder die Urgroßmutter oder Großeltern, kann er einfach ins Internet gehen und memo.ru eingeben. Und wenn man sich dann vorstellt, dass es diese Datenbank nicht mehr gibt – eine Datenbank, die Informationen aus Dutzenden regionalen Archiven bündelt, wird die Aufgabe, etwas über seinen Verwandten zu finden, der unter Repressalien gelitten hat, auch zehnfach schwieriger. Gerade deshalb, weil der Staat niemals eine alternative Datenbank erstellt hat. Der Staat beschäftigt sich im Gegenteil in den letzten Jahren damit, den Zugang zu solchen Archivbeständen zu erschweren. Beispielsweise werden unglaubliche Summen für das Kopieren von solchen Dokumenten gefordert. Der Zugang zu den Akten von denjenigen, die nicht rehabilitiert wurden, wird nicht erlaubt. Der Staat macht alles Erdenkliche, um so eine Recherche zu verkomplizieren. Und wenn wir uns vorstellen, dass die Memorial-Datenbank nun aus welchen Gründen auch immer verschwindet, dann verschwindet diese Tür, die Möglichkeit selbst, diese Vergangenheit zu betreten; in diesen Raum der Vergangenheit zu gelangen, wo der Staat diese Millionen und Abermillionen von Repressionsopfern und deren Strafakten auf diese Weise sozusagen bis heute immer noch gefangen hält, als sein Eigentum behandelt.  

Ira: Warum haben denn die russischen Behörden etwas dagegen, dass zum Beispiel ich etwas darüber erfahre, wie oder wo mein Großvater verurteilt wurde? Er war neun Jahre im Gulag. Warum konkret wollen sie, dass man keinen Zugang mehr zur Geschichte hat?

Sergej Lebedew: Schauen Sie, was ist genau während der Perestroika in den 1980er Jahren passiert? Es gab die Welle der Rehabilitationen, die direkt mit den Prozessen der Perestroika verbunden war. Es wurde nun möglich, über die Vergangenheit zu sprechen. Und da wurde gerade vom Staat und den Organen der Staatssicherheit eine ziemlich klare Trennlinie gezogen. Opfer? Ja, ihr werdet Informationen über Opfer bekommen. Wir werden der Opfer gedenken, werden irgendwelche Gedenktafeln aufhängen.  Zu den Tätern aber gibt es keine Information und dazu dürfen auch keine Fragen gestellt werden. Wir liefern diejenigen, die zu uns gehören, also die Offiziere der Staatssicherheit, nicht an euch aus.

Dieser Konsens wurde lange nicht gebrochen, denn noch in den 1990er Jahren kam es beispielsweise vor, dass die Organe der Staatssicherheit «Memorial» bei der Suche nach anonymen Massengräbern unterstützt haben. Die Armee hat für die Suche in den Wäldern von Karelien Soldaten zur Verfügung gestellt. Zum Beispiel, als Juri Dmitriew und seine Kollegen vom Petersburger «Memorial» nach Sandarmoch, dem Ort der Massenerschießungen, gesucht haben, hatten sie Soldaten der russischen Armee zur Verfügung gestellt bekommen, die ihnen geholfen haben, diese riesige Fläche zu durchsuchen. Jetzt gilt dieser alte Konsens nicht mehr. Denn in der heutigen Atmosphäre von Hass und Aggression, die in der russischen Gesellschaft immer spürbarer wird, und wo gerade ein neuer nationaler Mythos über Russland und die Sowjetunion geschaffen wird – so eine Atmosphäre lässt für die Geschichte von Irina und ihrem Großvater, der neun Jahre im Lager war, nur zwei mögliche Interpretationen zu: entweder war er nicht unverschuldet im Lager und hat es verdient, er war schließlich ein Volksfeind; oder – besser wäre es, dass Ira aufhört, in der Vergangenheit zu wühlen. Denn das widerspricht der Narration, die gerade direkt vor unseren Augen aufgebaut wird, die sich auf den Sieg Russlands im Großen Vaterländischen Krieg stützt und – vielleicht, erinnern Sie sich an einen Begriff aus der sowjetischen Zeit – die moralisch-politische Einheit des russischen Volkes? Irinas Geschichte untergräbt nämlich die neue moralisch-politische Einheit des russischen oder des postsowjetischen Volkes. Das ist ein Terrain, das man lieber nicht betreten sollte, oder nur ausnahmsweise. Nur ein bisschen und ganz vorsichtig. Am besten soll dann eine positive Geschichte darüber entstehen, wie Irinas Großvater im Lager gute Menschen kennenlernte. Darüber, wie er hinter Stacheldraht seine große Liebe traf und wie er dann rauskam, dass es zwar schwer für ihn war, aber er kam raus und hat ihnen danach verziehen. 

Aber wenn es so eine Geschichte wie in Schalamows Erzählungen wird, wo jemand sagt, es geht um Schrecken, Tod, Angst, Schmerz – so etwas kann man nicht mehr gebrauchen. 

Wir sehen ja, wie zurzeit durch die Kultur, durch das Fernsehen ein Bild von einem „Gulag Light“ konstruiert wird. Vor kurzem wurde zum Beispiel ein Film nach der Kurzgeschichte von Solschenizyn, «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch», gedreht. Das Lager wird dort so wunderbar gemütlich dargestellt, es gibt so viel Licht, sieht aus, wie auf einer Weihnachtskarte. Es ist zwar nicht alles im Film gelogen: Es gibt keine Szenen, wo sie dasitzen und kiloweise Weißbrot essen. Trotzdem findet da eine Bedeutungsverschiebung statt, es wird suggeriert: So schlimm war das doch gar nicht, und es kam auch nicht oft vor, Leute, übertreibt nicht.  

Edwin: Beide Organisationen unter dem Namen Memorial haben laut russischen Behörden gegen das Gesetz über ausländische Agenten verstoßen. Ohne im Einzelnen auf dieses Gesetz einzugehen:  Ist denn dieser moderne russische Staat und die Gesellschaft tatsächlich von so vielen Feinden aus dem Ausland und aus dem Inneren bedroht? 

Sergej Lebedew: Wissen Sie, soziologische Umfragen zeigen eine interessante Entwicklung. Laut den Umfragen des Lewada-Zentrums, die regelmäßig seit dem Ende der 1980er Jahre durchgeführt werden, hatte die russische Gesellschaft am Anfang der 1990er Jahre keine Feinde. Es wurde gefragt: „Glauben Sie, dass Amerika oder Europa etwas Böses gegen uns vorhaben?“ Die Leute haben mit „nein“ geantwortet. Alles war normal, die Gesellschaft war psychisch normal – wir hatten keine Feinde. Vielleicht haben die Leute geantwortet, dass diese Länder Russland nicht mögen, oder arrogant gegenüber Russland sind, aber das war eine normale Antwort. Die sowjetische Psychose war vorbei. Und genauso sehen wir nun, dass diese Psychose, dieses Gefühl, dass Russland eine belagerte Festung sei und die ganze Welt sich gegen uns verschworen habe, wiederkommt, und zwar seit Vladimir Putin an die Macht kam; sie verbreitet sich langsam immer weiter in den 2000er Jahren und explodiert regelrecht im Jahr 2014 während der Annexion der Krim. 

Realistisch betrachtet haben die russische Gesellschaft und der russische Staat keine Feinde. Aber das ist auch eine sehr sowjetische Geschichte. In der Stalin-Ära gab es das folgende Paradigma: Wir haben innere Feinde, Klassenfeinde, Überreste aus dem alten Regime, die wir vernichten werden, so dass das glückliche sowjetische Leben im Kommunismus beginnen kann. In der Chruschtschow-Ära musste ein Paradigmenwechsel stattfinden, es gab keine Klassenfeinde mehr. Chruschtschow selbst hatte verkündet, dass die Einheit des Volkes erreicht sei. 

Aber man musste ja irgendwie erklären, woher die Unzufriedenheit kommt. Dann hat man einen Trick benutzt und gesagt, das alles feindliche westliche Propaganda sei. Das heißt, das Böse komme eigentlich nur aus dem Ausland. 

Und jetzt wiederholt sich exakt die gleiche Geschichte. Das heißt, wir alle hier in Russland unterstützen unseren Präsidenten und haben weder Lust noch einen Grund zu denken, dass in unserem Land etwas nicht in Ordnung sei. Aber jene schrecklichen Leute aus dem Ausland, die CIA-Leute oder Leute aus allen möglichen Geheimdiensten der Welt, heuerten mit ihrem Geld irgendwelche wiederum moralisch unbeständigen Agenten an, die dann in Russland Verwirrung stiften. Und dabei ist es so offensichtlich, dass das Wort „Agenten“ nicht zufällig gewählt wurde. Das sieht man sogar an der Übersetzung, denn das russische Gesetz ist ein Abklatsch des FARA-Gesetzes. Aber von ihrer inneren Logik her, juristisch gesehen, sind diese zwei Gesetze völlig unterschiedlich. Wenn man es richtig übersetzen würde, könnte man eher sagen, dass es ein Gesetz über Vertreter ausländischer Staaten ist. Im Englischen ist das Wort „agent“ nicht so negativ besetzt wie im Russischen. Daher wurde das Wort Agent bewusst gewählt, wenn man „Agent“ im Russischen hört, denkt man an Leute in dunklen Regenmänteln mit einem großen Sack Geld, die über die Grenze schleichen, um unser friedliches Leben zu untergraben.

Ira: In Ihren Romanen geht es oft um die totalitäre Herrschaft in der Sowjetzeit und ihre Folgen für das moderne Russland. Sie haben auch in Archiven recherchiert und sind ein Kenner der sowjetischen Geschichte. Wann und warum haben Sie angefangen, sich mit dem stalinistischen Terror auseinanderzusetzen?

Sergej Lebedew: Ich bin in einer Geologen-Familie aufgewachsen und mit 15 war ich zum ersten Mal auf einer geologischen Expedition im Norden Russlands.

Ich hatte eine idealistische Vorstellung vom Norden. Ich hatte gedacht, dass es dort nur Natur geben würde und Orte, wo nie ein Mensch zuvor gewesen war. Wildnis, Unberührtheit, Gräser, Wasser, aber von Menschen keine Spur. Direkt am ersten Tag, als unser Helikopter von Pechory aus startete, als wir in der Luft über der Taiga waren, fiel mir auf, dass die Taiga irgendwie nicht „jungfräulich“ aussah.Überall waren irgendwelche halb zugewachsene Wege, Lichtungen, da unten sah man Überreste von Holzbauten, wo offensichtlich niemand mehr wohnte. Das waren aber keine Dörfer oder Städte. Und ich fragte den Co-Piloten ganz erstaunt, was das denn sei. Er schaute mich wie einen Verrückten an und sagte: „Das sind doch Lager.“

Es war im Sommer 1996 und ich war fassungslos. Denn ich verstand, dass in meinem Kopf diese Lager, von denen ich zwar schon gewusst hatte, sich in einer anderen Wirklichkeit befanden als der meinen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Überreste der Lager und ich in der gleichen Zeit existieren konnten. 

Acht Jahre lang habe ich auf solchen Expeditionen in den klassischen Gulag-Orten verbracht: auf der Kola-Halbinsel, im Polarural, in Kasachstan. Dort, wo noch Baracken standen und man Stacheldraht sehen konnte, dort, wo noch Gruben zu sehen waren, die Häftlinge ohne Geräte, nur mit der Hand ausgegraben hatten. 

Ich bin ihre Wege gegangen, das heißt, Wege, die nur für den Gulag angelegt worden waren. Wir schliefen in diesen Baracken. Wir arbeiteten in den Gruben, in denen sie gearbeitet hatten. 

Acht Jahre lang hat jeder Schritt, den ich gemacht habe, ihr Leben wiederholt. Ich dachte nicht, dass ich darüber schreiben würde, oder dass mich das in irgendeiner Weise verändern würde. Aber ich war schon dabei, mich zu verändern. Ich denke, dass ich verstand, dass ich ein Zeuge dieser Post-Existenz des Gulags war. Denn der Gulag wurde ja dort, im Norden, nicht durch etwas Anderes ersetzt. Die Menschen sind einfach von dort weggegangen. Aber die Baracken sind mitten in der Taiga geblieben, mitten im Nirgendwo. 

Erst später, als ich Journalist wurde, passierte eine merkwürdige Geschichte. Es war als ich angefangen habe über die Familiengeschichte zu forschen und mehr über meinen leiblichen Großvater mütterlicherseits erfahren wollte. Nach ihm hat meine Großmutter noch einmal geheiratet. Mein leiblicher Großvater war Offizier der Roten Armee, wurde zweimal verwundet, hat die Schlacht von Stalingrad als Fähnrich durchgemacht. In meiner Kindheit war er das Ideal eines sowjetischen Helden, die absolute Verkörperung der Männlichkeit und der wichtigste Erwachsene in meinem Leben, obwohl er lange vor meiner Geburt gestorben war. 

In ihrer Wohnung bewahrte meine Großmutter in einer Schokoladendose sowjetische Medaillen und Orden auf, unter anderem einen Lenin-Orden, zwei Orden des Roten Sterns, zwei Rotbannerorden. Der Lenin-Orden war die höchste Auszeichnung der Sowjetunion.  

Ich war mir absolut sicher, dass die Orden von meinem leiblichen Großvater, dem Offizier, stammten. Nachdem meine Großmutter gestorben war, bin ich in ihre Moskauer Wohnung gefahren, da ich wusste, dass sie dort Dokumente aufbewahrte. In den Dokumenten eines Offiziers wird immer erwähnt, wofür er die Orden verliehen bekommen hat. Zu meinem Erstaunen konnte ich keine Papiere über die Orden finden. Das war das erste Warnsignal: Warum hätte sie so etwas versteckt? Ich habe die ganze Wohnung durchsucht, wie in Krimis, und dann habe ich etwas gefunden. Aber was ich gefunden habe, waren zwei verschiedene Varianten der Papierdokumente. Ich habe zuerst das Offizier-Buch meines leiblichen Großvaters Grigori aufgemacht und habe gesehen, dass er in der Armee gedient hatte. Er wurde zweimal verwundet, hat jedoch nur eine Medaille für den „Sieg über Deutschland“ bekommen, die jeder bekam, der im Krieg war. Es wurden 35 oder 40 Millionen solcher Medaillen verliehen. Mit einem unguten Gefühl habe ich mir die Papiere von meinem zweiten, nicht leiblichen Großvater, angesehen. Und habe herausgefunden, dass er Oberstleutnant der Geheimdienste Wetscheka, OGPU, NKWD, MGB war, dass er seinen Militärdienst 1918 mit 15 Jahren angefangen hatte in den TSCHÖN- Spezialeinheiten, die dafür eingesetzt wurden, Bauern zu enteignen. Er wurde als stellvertretender Leiter der Arbeitslager der Gorkowskaja Oblast aus dem Dienst entlassen. Diese Region ist ungefähr so groß wie Deutschland und eine der schrecklichsten Gulag-Orte. 

Und da stand ich mit diesen Papieren in der Hand, so ein russischer Junge neuer Generation. Ich wusste nicht, was ich machen soll. Was kann ein Mensch überhaupt damit machen? Ich habe verstanden, dass die Situation ausweglos ist. Ich werde niemals etwas über meinen zweiten Großvater erfahren, da er Mitarbeiter der Geheimdienste war. Denn das bedeutet, dass seine Akte für immer der Geheimhaltung unterliegt. Aber seine Orden und die Jahre, in denen sie verliehen wurden, den Lenin-Orden hat er für das Jahr 1937 bekommen, das Jahr des Großen Terrors, gaben mir einen Grund zu mutmaßen, dass er sie wohl kaum für Schreibtischarbeit bekommen hatte. Und da habe ich verstanden, dass in meinem Leben nichts zufällig ist, auch nicht, dass ich acht Jahre meines Lebens dort verbracht habe, wo er damals gearbeitet hatte. Ich meine, nicht genau an den Orten, aber in jenem vergessenen Reich, von dem er sich wünschte, dass niemand sich daran erinnerte. Um ihn aus seinem Versteck zu holen, müsste ich einen Roman schreiben, da das keine dokumentarische Prosa fertigbringen würde – es gibt ja keine Dokumente. Als ich diesen Roman geschrieben hatte, dachte ich, dass es mein einziges Buch bleiben würde. Doch während ich an ihm schrieb, habe ich bereits an weiteren Fäden der Familiengeschichte gezogen. Da sah ich, dass das kein Ende hat. Man öffnet jede Schublade, jedes Schränkchen, und jeder Gegenstand daraus ist nicht das, was er scheint. Überall gibt es ein Geheimnis, das immer mit dem fürchterlichen russischen 20. Jahrhundert verbunden ist. 

Ira: Ein fester Bestandteil der Funktionsweise totalitärer Regimes ist eine konstruierte Bedrohungskulisse durch innere und äußere Feinde. Wie so etwas entsteht, beschreibst du im Roman «Kronos Kinder», der vor drei Jahren erschienen ist. Und zwar am Beispiel der Russlanddeutschen im Zarenreich und der früheren Sowjetunion. Er handelt von der Familie Schwerdt und Schmidt, das sind alles Ärzte, Offiziere und Ingenieure im Dienst der Zaren. Am Anfang erfährt der Protagonist Kyrill mit 20 Jahren, dass er deutsche Vorfahren hat. Seine Großmutter nimmt ihn mit zum „Deutschen Friedhof“ in Moskau, zum Grab ihrer deutschen Vorfahren, und klärt ihn auf. Für ihn ist das ein Schock.

Wie hast du erfahren, dass eine deiner Großmütter Deutsche war und war das für dich auch ein Schock?

Sergej Lebedew: Ich glaube, dass wir wohl die letzten Pioniere der Sowjetunion sind. Wir sind die letzte Generation, die sich beim Krieg spielen in „die Sowjets“ und „die Deutschen“ aufteilte. Das, was ich in der Sowjetzeit über die Familiengeschichte wusste, war sehr begrenzt. Ich wusste aber, dass das Böse Deutschland war. Denn in der Familie meiner Großmutter sind fünf Frauen während der Blockade Leningrads an Hunger gestorben. Meine zwei Großväter waren schwer verwundet und sind früh an ihren Wunden gestorben. Mein Vater ist ohne Vater aufgewachsen, zwei Großväter zweiten Grades gelten immer noch als vermisst. Diese Liste kann man unendlich weiterführen. Das Böse trug offensichtlich ein Hakenkreuz, das Böse kam aus Deutschland, zumindest soweit ein kleines Kind es verstehen konnte.

Es ist komisch, dass unsere Datscha bei Moskau genau auf der Frontlinie von 1941 liegt. Deswegen hieß auch der eine Wald „unser Wald“ und der andere „der deutsche Wald“. So lebten wir mitten in einer Umgebung, in der die Geschichte als Mythos jeden Tag erneuert wurde. Es kursierten immer Gerüchte von Leuten, die bei der Suche nach Pilzen auf eine Mine getreten waren. Der Krieg war nah. Und nie, unter keinen Umständen konnte man auf die Idee kommen, dass man mit diesem Deutschland etwas zu tun haben könnte. 

Außer dem Umstand, dass es in Moskau den „Deutschen Friedhof“ gibt. Er heißt eigentlich der „Vvedenskoe-Friedhof“ und ist einer der ältesten Friedhöfe Moskaus. Das war der Friedhof für alle nicht orthodoxen Christen. Zu Zeiten des Zarenreichs gab es in Moskau neben Deutschen natürlich auch Engländer, Polenund so weiter. Aber da der Friedhof neben dem deutschen Stadtteil lag und die Mehrheit der dort Beerdigten Deutsche waren, nannte man ihn den „Deutschen Friedhof“. 

Das ist ein einzigartiger Ort in Moskau. Ich sage immer, dass das der Ort ist, wo Engel aus ganz Russland ihre Nester bauen, denn die russische und orthodoxe Tradition sieht keine Engel-Darstellung, keine Engel-Skulpturen vor. Auf dem Deutschen Friedhof gibt es dutzende verschiedener Engel. Das ist eine völlig andere Architektur. Das ist eine völlig andere Vorstellung von Tod und der Würde des Todes als in der russischen Kultur. Und natürlich ist es etwas völlig Anderes für einen Jungen, der nur die Erfahrung der sowjetischen Kultur hat. 

Das ist eine Insel des Anderen. Wenn man als sowjetisches Kind durch den Friedhof läuft und plötzlich sieht, dass dort irgendwelche Franzosen, irgendwelche Polen beerdigt wurden, denkt man, woher kamen sie denn? Es ist nämlich so, dass man in den 1980er Jahren nie Ausländer gesehen hat. Und plötzlich sieht man, dass sie hier gelebt hatten. Das war ein Rätsel.

Unsere Parzelle, unsere Familiengräber waren auf dem deutschen Friedhof. Das hat mich als Kind immer beschäftigt und gequält. Außerdem liegt direkt neben dem Deutschen Friedhof das Burdenko-Militärhospital, ebenfalls eine schreckliche Ironie des Schicksals. Das ist das größte Militärhospital Russlands, gegründet von Peter dem Großen. Während des Zweiten Weltkrieges hat man verwundete Offiziere von allen Kriegsschauplätzen dorthin gebracht. Wenn sie dort starben, wurden sie auch auf diesem Friedhof begraben. Deshalb ist dieser Friedhof heute eine wilde Mischung aus alten deutschen Gräbern und sowjetischen Offiziersgräbern. Das ist doch ein semantisch-metaphysischer Konflikt. Ich glaubte damals, dass die Toten nicht miteinander in Frieden auskommen konnten. Wie kann nur ein sowjetischer Offizier, der 1943 getötet wurde, neben einem deutschen Apotheker liegen, der hundert Jahre zuvor gestorben war? Das war einfach unbegreiflich. In meiner Vorstellung war das immer ein sehr unfriedlicher Ort, ein Ort der Konflikte. Ich fragte oft, warum haben denn wir, die Lebedews, unsere Familiengräber auf diesem Friedhof? Man antwortete mir immer, dass der Urgroßvater in diesem Militärhospital gearbeitet und dass das Hospital ihm deswegen dort eine Parzelle zugewiesen habe. Wir hätten mit diesen Deutschen nichts zu tun. In der Tat sind dort mein Urgroßvater und meine Urgroßmutter begraben, russische Familiennamen. Links und rechts von ihren Gräbern standen auf unserer Parzelle alte Kalksteinmonumente, mit all diesen Verzierungen, diesen deutschen Frakturbuchstaben, die für das russische Auge völlig unlesbar sind. Alles ist irgendwie zugewachsen und man weiß nicht, aus welcher Zeit das stammt. 

Als die Sowjetunion vor 30 Jahren das Zeitliche segnete, hat meine Großmutter als einzige Hüterin der Familiengeschichte, sie wurde 1908 geboren , noch zwei Jahre gewartet, um sich zu vergewissern, dass die Kommunisten unter keinen Umständen zurückkommen würden, und uns dann dieses unglaubliche Geheimnis offenbart: Dass in Wirklichkeit die Gräber links und rechts die Gräber unserer direkten Vorfahren, der Deutschen sind, die 1832 nach Russland gekommen waren und dass ich, Sergej, zu einem Sechzehntel Deutscher war. 

Das war wie eine Bombe, die in meinem Kopf explodierte; gerade deshalb, weil man all diese letzten sowjetischen Narrationen verinnerlicht hatte: Deutsche können nur böse, nur Feinde sein, man fühlte sich plötzlich selbst als etwas Fremdes. Die Vorstellung, die man von Geschichte und Geografie hat, ist, dass man immer schon in Russland lebte, dass man keine Verbindungen zur Außenwelt hat. Und plötzlich hat man welche! Plötzlich heißt es, man kommt selbst nicht von hier! Das war eine unwahrscheinliche, unter anderem eine wichtige kulturelle Erfahrung: sich plötzlich verbunden zu fühlen mit etwas, was man nicht kannte.  

Edwin: Unter welchen Umständen waren Sie mit den deportierten Russlanddeutschen in Berührung gekommen?

Das ist eine besondere Geschichte. Meine Eltern sind Geologen, sie machen das, was man Feldgeologie nennt. Sie waren oft wegen ihres Berufes dort, wo normale sowjetische Bürger nie waren, „am Ende der Welt“. Ich bin ein spätes Kind, mein Vater ist 1941, meine Mutter 1939 geboren. Sie haben ihren Beruf praktisch in den letzten Jahren angefangen, als es das Gulag-System noch gab. Sie haben das alles noch mitbekommen. Immer, wenn sie in Moskau mit Freunden auf einer Feier etwas getrunken haben und von früher erzählt haben, gab es einige „apokryphische“ Geschichten darüber, wie sie, junge sowjetische Leute, (obwohl mein Vater nur sowjetisch war, weil meine Großmutter die Familiengeschichte vor ihm geheim hielt)  auf ihren Reisen deportierte Deutsche, und nicht nur Deutsche, getroffen haben, ohne zu wissen, dass es Deportationen gab. 

Eine solche Geschichte spielte sich zum Beispiel in Zentralkasachstan ab. Da gibt es diese wunderbare Hitze mit 45 Grad, sie machen irgendwelche geologischen Erkundungsdienste in der Steppe. Eines Tages sagt ihr Fahrer, der aus der Gegend kam: „Ich will euch mal eine gute Kantine zeigen.“ Dabei gibt es dort nicht mal annähernd so etwas wie Kantinen. Dort grasen Viehherden, manchmal kommen Einheimische, um Batterien fürs Radio zu holen, sonst gibt es dort nichts.

Und da fährt dieser Fahrer sie bei 45 Grad Hitze hin. Sie sind irgendwo in der Karagandinskaia Oblast unterwegs. Plötzlich denken sie, sie sind verrückt geworden. Mitten in der Steppe sehen sie ein deutsches Dorf. Mit deutschen Häusern, mit Dachziegeldächern. Sie denken, dass das eine Halluzination ist, dass sie es sich einbilden. Aber alles ist echt. Dann gehen sie in die Kantine, mein Vater erinnert sich bis heute daran: „Und dort serviert uns eine Frau mit Häubchen, solche Häubchen wie Kellnerinnen oder Köchinnen sie manchmal tragen, irgendeine Suppe in einer Porzellanschüssel. Wir waren einfach sprachlos. Wir haben zwar schon angefangen zu ahnen, wie diese Leute hierhin kamen. Aber das war absolut surreal für uns junge Leute.“

Die zweite Geschichte handelt davon, wie meine Mutter und ihre ältere Schwester am Ende des Sommers 1941 irgendwo bei Engels, in der Wolgadeutschen Republik, evakuiert wurden. Diese ältere Schwester, Tamara, hat immer erzählt, dass sie da verstanden hat, was Kommunismus bedeutet. Denn in ihrer kindlichen Vorstellung war Kommunismus der Überfluss von allem. Sie selbst hatte in den 1940er Jahren nichts an Überfluss gesehen. Und dort, so erzählte sie es immer, kamen sie in einen Keller, der voller Würste waren und Schinken. Da hat sie gedacht, dass man sie, die Kinder, wohl in den Kommunismus gebracht habe. Der Kommunismus ist schon hier, das kommunistische Himmelreich ist schon da, auf diesem Planeten, aber es ist noch nicht für alle da, nur für die ganz Kleinen.

In Realität war das der Keller eines Hauses, aus dem kurz davor Wolgadeutsche ausgesiedelt wurden. Solche Geschichte kommen von verschiedenen Seiten auf mich zu. Natürlich bin ich später, als ich am Roman gearbeitet habe, selbst auf Expeditionen gegangen, und habe nach Spuren der Erinnerung gesucht, nach Überresten von Kolonien. Ich wollte nicht nur die Geschichte meiner Vorfahren verstehen, die in Moskau lebten. Ich wollte verstehen, in welcher Form diese Erinnerung weiterlebt, wie sie funktioniert, unter anderem in Stalingrad-Wolgograd, wo sie sich in einem monströsen Konflikt mit der offiziellen Erinnerung der Stadt befindet, mit der Erinnerung an den Sieg.

Ira: Ihre deutsche Großmutter Karolina hat als Einzige Ihres deutschen Zweiges den Terror der Stalinzeit und den Zweiten Weltkrieg überlebt. Wie ist ihr das gelungen und was ist mit den anderen passiert? Alle anderen waren dem Ersten Weltkrieg, der Revolution, dem Stalin-Terror oder der Leningrader Blockade zum Opfer gefallen.

Sergej Lebedew: Jener Gründungsvater unserer Familie – er hieß Julius Schweikert von Stadion, und war Homöopathie-Arzt aus Leipzig –hatte acht Töchter, die alle in Russland geboren worden waren und später in sehr unterschiedliche russische Familien verheiratet wurden. Einige fanden Eingang in sehr reiche, feine Kreise, manch eine als Gouvernante. Auf diese Weise ist eine sehr große russisch-deutsche Familie entstanden. Manche von ihnen sind schon während des ersten Weltkrieges ausgewandert oder begannen, sich von ihrer deutschen Herkunftsgeschichte loszusagen. Das war diese erste Phase der Verfolgungen von Deutschen in Russland, die sehr brutal und umfangreich waren und in der Tat schon den Boden für alle späteren Verfolgungen vorbereitet hatten.

Die meisten von ihnen sind den Repressalien der 1920er bis 1940er Jahre zum Opfer gefallen, entweder weil sie wohlhabend oder teilweise aristokratischer Herkunft waren. Wenn sie aber weder reich noch nobel waren, reichte ja auch ihr Deutschsein vollkommen aus. Wir alle wissen Bescheid über die ethnischen Operationen des NKWD und weitere. 

Ich glaube, dass meine Oma durch Zufall überlebt hat. Denn es gibt da kein Rezept, kein besonderes Wissen und auch keine Charaktereigenschaft. Selbstverständlich hat meine Oma an diesem Zufall  mitgewirkt. Sie hat, zumindest nach außen hin, schon sehr früh alles, was die Sowjetmacht repräsentierte, akzeptiert und sich alle Rituale und Unterwerfungshaltungen angeeignet. Es konnte natürlich auch keine Rede von der Vergangenheit sein, oder von der Bewahrung der materiellen Erinnerung an die Vergangenheit: Du weißt zwar, dass gar nicht so weit von Moskau, nahe Serpuchow, wo das Gut deiner Familie sich befand, deine nächsten Verwandten begraben liegen, aber du verbietest dir, ihre Gräber aufzusuchen. Denn da gibt es Menschen, die dich kennen und wissen, dass du zum Adel gehörtest.  Hier wird uns klar, dass es für sie viel mehr als nur Selbstzensur war. Es war, als würden sie Teile ihrer selbst mit Fleisch und Blut herausreißen. 

In ihren Erinnerungen, die sie dann tatsächlich in den 1980er Jahren aufgeschrieben hat, gibt es eine Episode, die in gewisser Hinsicht eine Antwort auf Ihre Frage beinhaltet. Sie ist auch auf eine erstaunliche Weise mit unserer heutigen Situation verbunden. Es ist die Spanischen Grippe, die in den Jahren 1918/19 wütete. Unsere ganze Familie war erkrankt und meine Oma hatte es am schwersten getroffen. In ihren Erinnerungen schrieb sie, dass von allen, die in diesem Gutshaus in Mitino zur Zeit der Epidemie lebten, sie als einzige 25 bis 30 Jahre später noch am Leben war. Ich denke, dass wenn unsere Toten in irgendeiner Weise existieren, muss jemand als Zeuge überlebt haben. Ich glaube, dass meine Oma mich sehr behutsam darauf vorbereitet hat, ein Menschen zu werden, der in der Lage sein wird, all diese Dinge zu verstehen.

Edwin: Genau vor einem Jahr haben Sie hier im Lew Kopelew Forum in Köln, wo wir heute Gäste sind, gesagt: Die Rolle der inneren Feinde nach dem Exodus der Deutschen aus den postsowjetischen Staaten ist an die Tschetschenen bzw. Nordkaukasier übergegangen. Wie begründen Sie das? 

Sergej Lebedew: Ich würde sagen, dass es dabei nicht um die Sowjetdeutschen ging, sondern vielmehr um das abstrakte Bild des Deutschen als Feind, das dem unendlich großen sowjetischen Sujet zugrunde gelegt wurde, als der personalistische Stalinkult durch einen polytheistischen Kult des Sieges ersetzt wurde, der zahlreiche Orte der Verehrung und unzählige Helden vorsah und selbstverständlich auch einen Feind brauchte. Der auch historisch wirklich existiert hatte, es hatte ja den Krieg gegeben, die Schlachten hatte es gegeben, die Deutschen hatte es gegeben und so weiter. Aber zum Ende der 1980er Jahre hat dieser Kult bei den Menschen nichts als Lachen ausgelöst. Es gab viele Witze, derbe Scherzliedchen darüber, denn die Menschen konnten einfach nicht mehr diese Leier über die jungen Pionierhelden, über Soja Kosmodemjanskaja usw. hören, das war alles nur noch lächerlich. Also, spezifisch als Kult lächerlich.

Und als fünf bis sechs Jahre später der Krieg in Tschetschenien begann, als Präsident Jeltsin die Armee in Tschetschenien hat einmarschieren lassen, war die russische Gesellschaft nicht bereit, in den Tschetschenen Feinde zu sehen. Das geschah nicht augenblicklich. Die Proteste gegen den Krieg waren anfänglich sehr stark. Aber dann hat man sich daran gewöhnt. Es entstand dieses pauschale Bild der „Person kaukasischer Nationalität“, das Bild eines Menschen aus dem Osten, der eine andere, unverständliche Sprache spricht, einer anderen Kultur angehört, der jovial und draufgängerisch ist, der hierher gekommen ist, um alles aufzukaufen, alles an sich zu reißen usw. Dieses Feindbild hat sich sehr lange gehalten, denn wenn man heute auf die letzten 30 Jahre der postsowjetischen Geschichte zurückblickt, wird klar, dass die Verbrechen, die in Tschetschenien begangen wurden, mit denen der Stalinzeit vergleichbar sind:  Zehntausende zivile Opfer, fast eine Million Geflüchtete, weite Teile des Landes vernichtet. 

Aber gleichzeitig kann man nicht sagen, dass jemand sich heute die Frage stellen würde, wer für all das die Verantwortung tragen soll. Es geht hier nicht um die Stalinzeit. Die Generäle leben noch, diejenigen, die die Befehle gaben, leben noch, und auch die, die diese Befehle ausführten. Diese Verbrechen sind von Menschenrechtsorganisationen gut dokumentiert, hier muss man keine aufwändigen Ermittlungen anstellen. Aber bemerkenswerterweise spricht kein einziger oppositioneller Politiker in Russland darüber, nicht mal ansatzweise, obwohl das Recht auf Leben und Verstöße gegen dieses Recht weit höher auf der ethischen Skala liegen als Korruption. Aber darüber wird man nicht reden, das empfindet man immer noch als eine fremde und seltsame Geschichte. Russland hat gelernt, sich von dieser Geschichte zu distanzieren. 

In diesem Sinne denke ich, dass selbst bei dem militaristischen Kult, der heutzutage wieder stark auflebt, bei diesem ständigen Heranziehen des Zweiten Weltkriegs als Quelle für Völkerrecht, für unser eigenes moralisches Recht, über all die anderen zu urteilen, bei all dem wird es trotzdem nicht möglich sein, die Deutschen wieder als Feindbild zu etablieren. Das ist unrealistisch.

Menschen, die deutsche Autos fahren, auf die sie Aufkleber mit der Aufschrift „Nach Berlin!“ kleben, das ist schon die Postmoderne. Wohingegen die Haltung gegenüber Kaukasiern, und heute auch noch gegenüber Menschen aus Asien, ganz offensichtlich rassistische Merkmale aufweist. Das ist dieser neue russische Rassismus, der nicht nach Europa, sondern gen Osten ausgerichtet ist.

Edwin: Auch in Ihrem aktuellen Roman «Das perfekte Gift» (erschienen 2021 im S.Fischer Verlag) verknüpfen Sie Episoden des Tschetschenien-Krieges mit dem Plot um die geheime Operation zweier Agenten, die einen übergelaufenen Insider, den Chemiker Kalitin in der ostdeutschen Provinz umbringen sollen. Einer dieser Agenten erinnert sich an seine früheren Einsätze im Kaukasus in einer Situation, als er bereits in Deutschland auf tschetschenische Flüchtlinge trifft und von einer Panikattacke überwältigt wird. Welche Folgen hat der Tschetschenienkrieg für das heutige Russland?

Sergej Lebedew: Einer aus diesem wunderlichen Duo „Petrow-Boschirow“, das den Anschlag in Salisbury verübte, war tatsächlich ein GRU-Offizier, der in Tschetschenien gekämpft hatte. Das war für mich sehr wichtig, weil ich glaube, dass das totalitäre Wesen des gegenwärtigen Russlands eben dort in Tschetschenien seinen Ursprung hat. Denn während des zweiten Tschetschenienkriegs seit 1999 wurde Tschetschenien sehr schnell zur Zone der absolut grenzenlosen Gesetzlosigkeit. Ganz nah von uns befanden sich Filtrationspunkte, vorübergehende Konzentrationslager, es gab Folter, es fanden Säuberungen statt, die von vermummten Menschen ohne Abzeichen in nicht gekennzeichneten Transportpanzern durchgeführt wurden. All das hat sich auf ganz Russland und heute auch auf das benachbarte Belarus ausgedehnt. Wenn die russische Intelligenzija, die bei Protestaktionen von gesichtslosen Menschen verprügelt wird, sich dann fragt: „Ja, wie konnte es denn dazu kommen, woher kommt denn das alles?“ – Ja, da sage ich, das kommt von genau dort. Weil nämlich die meisten Kader der inneren Truppen, der Armee und auch der Polizei der Russischen Föderation durch den Tschetschenienkrieg gingen. Ich denke, dass die Folge davon ihr tiefer moralischer Verfall, ihre tiefe Transformation war. Denn wenn die Armee und die Polizei für Strafaktionen eingesetzt wird, dann ist die Polizei keine Polizei mehr, sondern das sind dann Strafbrigaden. 

Die aktuelle Krise um die Rechtssituation in Russland hat ihren Ursprung ebenfalls dort. Denn man darf kaum erwarten, dass Menschen, die Jahr für Jahr diese Verbrechen verübten, nach ihrer Rückkehr in das „große“ Russland sofort umschalten und beginnen, die Verfassung oder das Strafgesetzbuch zu respektieren. 

Arkadij Babtschenko hat diese Kadernachfolge sehr deutlich beschrieben, als er in einem seiner Posts schrieb, dass der Befehlshaber der russischen Streitkräfte in Syrien früher sein Regimentskommandeur in Tschetschenien gewesen war, und dass er sich gut an ihn und an seine freibeuterischen Eskapaden erinnere. 

Die Unverfrorenheit und Unverblümtheit des Bösen, die wir heute in den Operationen russischer Geheimdienste, insbesondere in deren ausländischen Operationen beobachten, ohne Berücksichtigung jener Transformation nicht erklärt werden kann, die diese Menschen in Tschetschenien durchlaufen haben. Sie haben sich an die Straffreiheit gewöhnt und jetzt diese Haltung der Straffreiheit auch ins Ausland mitgenommen.

Schauen Sie, wenn wir uns der Geschichte der späten 1980er, frühen 1990er Jahre im großen historischen Kontext zuwenden, so werden wir feststellen, dass in fast allen postsozialistischen Länder in der einen oder anderen Form eine Abrechnung mit der Vergangenheit stattfand. Die einen oder anderen Maßnahmen der transitional justice mit Lustrationscharakter hat es dort gegeben. Deutschland stellt dabei einen absolut einzigartigen Fall dar, weil es hier eine umfangreiche und harte Lustration gegeben hat. In manch einem anderen Land geschah dies vielleicht nicht so tief und hat nicht so gut funktioniert. 

Aber so oder so bildet Russland hier eine absolute Ausnahme, denn in Russland wurde dieses Thema in keiner Weise angegangen. Und natürlich verstehen die Mitarbeiter der entsprechenden Behörden, dass auch sie eine Ausnahme sind. Sie verstehen, dass dieser Pakt, der in den 1990er Jahren zwischen dem KGB und der russischen Gesellschaft geschlossen wurde, auch eine historische Ausnahme bildet. Denn es wäre ja alles beinahe passiert. Die Menschenmassen standen einst vor der KGB-Zentrale am Lubjanka-Platz, als die Statue von Dserschinski demontiert wurde. Und es hätte passieren können, dass diese Menschenmenge in das Gebäude eindringt. Natürlich konnte sie das nicht. Denn auch die Anführer dieser Menge wollten das nicht oder hatten Angst davor. Doch die postsowjetischen Machtstrukturen, die Geheimdienste etc. haben diese Erfahrung des Untergangs gemacht. Es gibt in Putins Erinnerungen eine absolut fantastische und präzise Episode, als er erzählt, dass er in Dresden war und nicht wusste, was zu tun ist, weil aus Moskau keine Befehle kamen, weil „Moskau schwieg“. Ich denke, dass diese Phrase „Moskau schwieg“ seine ganze Persönlichkeit, und die der ganzen Generation seiner Freunde und Mitarbeiter widerspiegelt. Sie alle haben den Untergang des großen Imperiums erlebt, der für sie völlig unerwartet kam. Der KGB hat bis zum letzten Moment geglaubt, die Situation unter Kontrolle zu haben. Das ist irrational, das ist stärker als sie. Deshalb werden sie immer versuchen, jedes zivilgesellschaftliches Engagement im Keim zu ersticken, weil sie einfach nie wissen können, aus welcher Richtung der Untergang kommen wird. 

Was war da beispielsweise an der Perestrojka, das diese Kette von Ereignissen in Gang setzte? Wenn wir 30 Wissenschaftler dazu befragen, werden wir 30 Antworten bekommen. Deshalb muss man hier alles zuzementieren, damit sich nichts rührt. Natürlich stellt „Memorial“ für sie in gewissem Sinne den historischen Feind dar, weil sie ja auch zu der Zeit am Ende der Perestroika entstand, und die Bewahrung der Erinnerung zum Ziel hatte. Da daraus mehr werden könnte als eine Gesellschaft für Aufklärung, da sie zu einem politischen Projekt werden und gewisse Kräfte konsolidieren könnte, wird sie sicherheitshalber entfernt. Denn sie brauchen nur Kräfte, die sie gut steuern können.

Ira: In dem aktuellen Roman entschlüsseln Sie für das breite Publikum die DNA der Kampfgiftentwicklung in der Sowjetunion. Debütant, sprich Nowitschok (der Neuling) ist das perfekte Gift, das keine Spuren hinterlässt, dafür sowohl direkt, aber auch indirekt vor allem Angst verbreitet. Der Stoff entstammt einem Geheimlabor mit einer bemerkenswerten deutsch-sowjetischen Vergangenheit. Ist das die Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet diese Nationen gemeinsam am Ursprung dieses perfekten Giftes stehen? Wie kam es dazu?

Sergej Lebedew: Ich habe recht lange nach einem Thema aus der gegenwärtigen russischen Geschichte gesucht, zu dem ich einen Roman würde schreiben wollen. Ich habe auf ein Signal gewartet, auf einen Hinweis des Schicksals. Denn die Auswahl ist ja groß. Als sich dann 2018 die Vergiftung in Salisbury ereignete, haben die Journalisten ziemlich schnell herausgefunden, dass es sich höchstwahrscheinlich um das Nervengift Novitschok handelte, und dass es höchstwahrscheinlich in einer kleinen geheimen Militärstadt Schichany entwickelt wurde. Das ist tiefste russische Provinz, ein Städtchen an der Wolga, in der Region, wo früher Russlanddeutsche lebten. 

Diese Nachricht blieb zunächst gänzlich unbemerkt. 

Es gab keine Kommentare von Historikern oder Experten, was mich sehr verwunderte, denn das war genau das Signal für mich. Denn in meinem Roman „Kronos’ Kinder“, den ich davor geschrieben hatte, habe ich das Thema der geheimen militärischen Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Roten Armee in den 1920er Jahren erforscht. Wie wir wissen, war es Deutschland laut dem Versailler Vertrag verboten, bestimmte Arten von Waffen zu entwickeln und herzustellen. Darunter auch chemische Waffen. Die Sowjetunion brauchte Technologien und die Deutschen einen stillen, geheimen Ort, wo sie das alles entwickeln und herstellen konnten, ohne dass die ehemaligen Entente-Staaten das mitbekommen würden. So ein Ort fand sich in jener Wolgasteppe. 

Einen weiteren Teil des Vertrags bildete eine Panzerschule in Kasan, deren Absolventen sich später als Panzersoldaten sehr hervorgetan haben, und eine Fliegerschule in Lipetsk, aber dieses Chemielabor in Schichany wurde am stärksten versteckt und gehütet. Es bestandfür etwa fünf Jahre. Die Zusammenarbeit wurde 1933 aufgelöst, als Hitler an die Macht kam. Gleichzeitig aber ist uns klar, dass dieses chemische Labor, als ein gemeinsames Projekt entstand, ein Projekt von zwei Geächteten der Weltpolitik. Denn die Bolschewiken hatten immer noch mit den Folgen des Bürgerkriegs zu kämpfen. Ihre Regierung war teilweise halb anerkannt, teilweise gar nicht. Deutschland hatte den Krieg verloren. Die beiden passten also gut zusammen. Zu dem Zeitpunkt war es noch nicht klar, in welche Richtung das sowjetische Regime mutieren wird, obwohl es schon seine Brutalität demonstriert hatte. 

Das Regime in Deutschland war noch gar nicht nationalsozialistisch, es war noch die Weimarer Republik. Doch die Würfel waren schon gefallen. Und natürlich hatten einige der deutschen Chemiker in diesem Labor Erfahrung in der Entwicklung von Stoffen der letzten zehn Jahre, also aus dem Ersten Weltkrieg. Dann gab es da Leute aus dem Team von Fritz Haber, einer absolut schillernden und ambivalenten Gestalt. Einerseits war er eine Art Prometheus, der sehr viel getan hat für die Entwicklung von Düngemitteln und insgesamt für die moderne Landwirtschaft. Aber andererseits hat er nicht weniger getan für die Entstehung der chemischen Waffen in den Jahren 1915 bis 1917. Da sehen wir zwei Gesichter des Fortschritts repräsentiert in einer Person. Und diese Kontinuität, vom Zeitpunkt der Genesis des Bösen im Ersten Weltkrieg, die setzte sich dann weiter fort. Es ist unglaublich, wie der Kreis der Geschichte sich dann schloss. Salisbury hat einen Vorort namens Porton Down. Dort befindet sich ein britisches Forschungslabor für chemische Waffen. Es wurde im Ersten Weltkrieg als Reaktion auf die Entwicklung von chemischen Waffen in Deutschland gegründet. Und ausgerechnet die Mitarbeiter dieses Labors waren dann nach dem Anschlag in Salisbury erste Forscher am Tatort. 

Das liegt alles so dicht beieinander. All das ist Teil des großen historischen Sujets des 20. Jahrhunderts, des Sujets von Menschen des Wissens und Menschen der Macht. Es geht darum, wie im 20. Jahrhundert die Wissenschaft sich häufig auf eine, sagen wir mal, Romanze mit den totalitären Regimes eingelassen hat. Und viele Monster, die sich unserer Erinnerung als technokratische Monster eingeprägt haben, sind aus dieser unnatürlichen Verbindung hervorgegangen.

Denn, wenn wir Ziklon B sagen, wissen wir, von welcher Epoche die Rede ist. Wenn wir Napalm sagen, wissen wir, von welcher Epoche die Rede ist. Wenn wir Novitschok sagen, wissen wir leider auch, von welcher Epoche die Rede ist. Und all das wurde von Wissenschaftlern erschaffen. Es war für mich besonders wichtig, die Beweggründe dieser Menschen zu verstehen. Nicht die Beweggründe der Täter, nicht die der Opfer, sondern die der Wissenschaftler, die ja das alles möglich machen.

Edwin: Warum schreiben Sie Romane, warum sind Sie nicht mehr Journalist?

Sergej Lebedew: Ich denke, dass es Themen gibt, die künstlerisch erforscht werden sollten. Ich wollte etwas über den modernen Faust verstehen, wie er heute so sein könnte. Oder einen modernen Frankenstein schreiben, wobei das Monster aber nicht mehr das Ergebnis eines unglücklichen wissenschaftlichen Versuchs, sondern das Ziel der Wissenschaft ist. In diesem Sinne möchte ich den wunderbaren Roman von Alexander Solschenizyn „Im ersten Kreis“ erwähnen, der als einziger großer russischer Text all diese Fragen aufwirft. Fragen über die Kollaboration zwischen der Wissenschaft und der Macht, wie weit diese Kollaboration möglich ist und in welche ethischen Abgründe sie uns führen kann. Ich wollte dafür ein künstlerisches Bild finden, weil Non-Fiction, wie großartig sie auch ist, trotzdem ihre Grenzen hat, die genauso unüberwindbar sind, wie die Grenzen der Prosa. 

In diesem Fall war es für mich außerdem noch eine sehr persönliche Geschichte. Es gab in meiner sowjetischen Kindheit auch so eine Figur, die ich bewunderte und die mich magisch anzog. Es war ein sehr entfernter Verwandter, der ein ganz anderes Leben als wir lebte, andere Bücher, andere Kleidung, einen anderen Stil, ganz andere alltägliche Rituale hatte, der sehr, sehr gut verdiente. In meiner kindlichen Naivität dachte ich, dass er wahrscheinlich Schriftsteller war, oder Theaterregisseur, oder Filmregisseur. Ich konnte mir sonst keine Beschäftigungen vorstellen, die es einem ermöglichen würden, so frei von allem Sowjetischen, frei von der sowjetischen Gravitationskraft zu leben. Denn all die anderen Erwachsenen, die ich kannte, unterlagen dieser Gravitation, sie lebten alle in der Sowjetunion, atmeten sowjetische Luft, aßen sowjetisches Essen und so weiter. Und für ihn schien die Sowjetunion gar nicht zu existieren. Und natürlich beneidete ich ihn über die Maßen. Ich wollte verstehen, wie wird man denn so jemand? Welche Genealogie muss man haben? Welchen Beruf ausüben? Oder sonst etwas? Wo kann ich mich anmelden, um so einer wie er zu werden? 

Dann haben wir den Kontakt verloren. Es vergingen Jahre und irgendwann kam ich mit jemand ganz zufällig auf ihn zu sprechen, und man fragte mich „Weißt du überhaupt, was er denn von Beruf war?“ Nein. „Er war Generalmajor und entwickelte biologische Waffe.“ In dem Moment wurde mir klar, dass ich ja einen durch und durch zivilen Menschen gekannt habe, einen Menschen der Kultur und Literatur verehrt. Aber das ist nur die eine Seite von ihm. Dann öffnet sich eine Tür und er betritt irgendeinen völlig anderen Raum. Nicht zufällig spielen alle Kleidungswechsel im Roman eine sehr wichtige Rolle. Er zieht eine andere Persönlichkeit über und es entsteht ein neues Sujet. Wir verstehen alle, dass das Leben in einem totalitären Staat in gewissem Maße ein doppeltes Denken voraussetzt. Das ist für jeden offensichtlich, außer man ist ein Fanatiker, bei dem eine absolute Übereinstimmung mit der Ideologie stattfindet. Aber dieses „Doppeldenk“ ist so stark, dass es zu einer echten Schizophrenie mit einer Spaltung der Persönlichkeit führt. In diesem Sinne, um auf Ihre Frage zurückzukommen, das ist kein Non-Fiction. Das sind Plots von Dostojewski. Ich finde, man soll sie mit gewissem Respekt behandeln, und nicht versuchen, sie mit Werkzeugen zu bearbeiten, die dazu nicht geeignet sind. Das ist der Stoff für einen Roman.

Ira: Glauben Sie, dass sie durch die Romane mehr bewegen können als durch die Arbeit eines Journalisten?

Sergej Lebedew: Schriftsteller dürfen in Russland heute mehr als Journalisten. Die Machthabenden in Russland bekämpfen immer noch die wenigen übrig gebliebenen Journalisten, weil Journalisten für sie die Hauptbedrohung sind. Nicht die Schriftsteller. Literatur wird noch nicht als eine echte feindliche Welt oder feindliche Organisation wahrgenommen. In diesem Sinne ermöglicht Literatur dem Autor, eine gewisse Distanz zu haben. Außerdem glaube ich, dass in kurzfristiger historischer Perspektive Journalismus natürlich wichtiger ist. Aber auf lange Sicht erlaubt es uns Prosa und große Kunst insgesamt, etwas zu sehen, was der Journalismus nicht erfassen kann. Wir werden auch in Zukunft große historische Sujets verarbeiten, so wie Solschenizyn das in seinem Roman „Im ersten Kreis“ tut. Die Frage wurde gestellt und die Antwort darauf wurde gegeben. Solange  wir leben, solange wir atmen, solange wir Kulturwesen bleiben, werden wir diese großen historischen Spiegel brauchen, in denen nicht nur Tagesereignisse oder Augenblicke der Gegenwart, sondern ganze Epochen sich widerspiegeln.

Dabei muss man verstehen, dass der heutige Journalismus in Russland in gewissem Sinne ein Einhorn ist. Journalismus kann doch nicht ohne eine Reihe vieler freier Medien existieren. Und in Russland bricht diese Reihe ab, wie man im Fußball sagen würde, wir spielen schon seit langer Zeit ohne Ersatzbank. – Es gibt da die Zeitung „Nowaja Gaseta“ und noch so zwei-drei Medien, aber sonst? Welchen Journalismus gibt es da sonst noch? – Es gibt da mehr oder minder regierungstreuen Quatsch. Vom Fernsehen ganz zu schweigen. Es gehört schon lange nicht zum Journalismus, außer wenn man den Wetterbericht als Journalismus betrachtet. Das ist die ehrlichste Information, die es da geben kann. Deshalb muss man sich darüber im Klaren sein, dass es schon lange keine realen Möglichkeiten für Massenjournalismus in Russland gibt und wer weiß, wann es sie jemals wieder geben wird. Als ich vor 20 Jahren als Journalist angefangen habe, war das eine völlig andere Welt. Damals war es einem Journalisten möglich, einen Beamten der mittleren Ebene hinter Gitter zu bringen. Heute würde in so einem Fall der Journalist hinter Gittern landen. Das ist ein Journalismus in eigentlichem Sinne, es ist so eine Art verdeckter Bürgerkrieg. 

Ira: Sie leben seit einigen Jahren in Deutschland, könnten Sie auch in Moskau gefahrlos als Journalist und Schriftsteller leben? 

Sergej Lebedew: Ich denke ja, ich könnte auch in Moskau leben. Ich muss dazu sagen, dass ich nicht emigriert bin. Es ist eine Entscheidung, die mehr mit beruflicher Tätigkeit verbunden ist als mit der Entscheidung auszuwandern. Ich bin oft in Russland, ich arbeite dort viel in Archiven. Jetzt noch spüre ich keine direkten Bedrohungen, die mich zwingen würden, Russland für immer zu verlassen. Dort lebt mein Vater, meine Verwandten, meine Freunde. Es ist jetzt nicht einfach, dorthin zu kommen, aber das hat verständlicherweise mit den aktuellen Beschränkungen zu tun, es gibt nicht so viele Flüge und so weiter. Aber Russland bleibt für mich das Hauptthema, es erwarten mich noch viele Forschungen dort, die jetzt gerade verschoben wurden, weil die Archive wegen des Coronavirus geschlossen sind. Das Wichtigste ist, dass ich heute nicht mehr das Gefühl habe, das Leben danach aufteilen zu müssen, ob ich im Ausland lebe oder nicht. Es gibt ein gemeinsames Lebens- und Schicksalsterritorium, das auch für meine fernen Vorfahren ein gemeinsames Gebiet war, die in beiden Ländern lebten und diese Räume miteinander verbanden, trotz der Versuche der Menschen, die sie trennen wollten. Und das ist für mich als Schriftsteller auch sehr wichtig, ich baue in gewissem Sinne Brücken, darunter auch in meinem eigenen Leben.