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Episch und dramatisch: russlanddeutsche Literatur früher und heute

In dieser Folge gehen Ira und Edwin den Fragen nach: Was ist russlanddeutsche Literatur und wie hat sie sich in den vergangenen Jahrhunderten entwickelt? Welche Romane aus der Gegenwart zu diesem Thema begeistern sie und gibt es eine vernetzte russlanddeutsche Autor:innenszene?

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Edwin: In der heutigen Folge wollen wir über Literatur sprechen. Ich wusste früher, dass es mal russlanddeutsche Literatur gab, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in der heutigen Zeit funktioniert, bis ich den Roman von Alina Bronsky in der Hand hielt. Der Roman heißt „Scherbenpark“ der später auch verfilmt wurde. Er spielte im Milieu von russlanddeutschen Spätaussiedlern. Von den Themen her war das was Neues und ganz anderes. In bestimmten Kreisen von russlanddeutschen Literaten hieß es aber auch, dass das keine richtige russlanddeutsche Literatur sei, dass das nicht „unsere“ Themen seien und dass die Autorin keine Russlanddeutsche sei. Ich habe mir aber in diesem Moment gedacht, dass das die Zukunft ist, dass es da langgehen muss. Das war mein Erweckungsmoment. Wann hast denn du russlanddeutsche Literatur oder russlanddeutsche Themen in der Literatur für dich entdeckt?

Ira: Vorweg wollte ich sagen, dass ich heute ein bisschen aufgeregt bin, weil wir uns heute über russlanddeutsche Literatur unterhalten und euch ein paar Romane vorstellen möchten. Zum einen, weil wir beide Literaturwissenschaftler sind, das heißt, es ist unser Kompetenzfach. Auf der anderen Seite stellen wir Autorinnen, Autoren vor, die wir teilweise persönlich kennen und sehr schätzen und das ist dann irgendwie auch aufregend, weil ich das natürlich gut machen möchte.

In der fünften Klasse hatte ich einen sehr strengen Deutschlehrer, vor dem ich aus verschiedenen Gründen richtig Angst hatte. Ich hatte auch eine ganz schlechte Deutschnote, obwohl ich sonst eigentlich eine gute Schülerin war. Der Lehrer wurde dann plötzlich sehr nett, weil er eine besondere Beziehung zu einer russlanddeutschen Frau entwickelt hatte. Er hatte für sich dieses Thema entdeckt und hat mich dann gebeten einen Roman im Unterricht vorzustellen, in dem es um Russlanddeutsche geht. Dann bin ich in unsere Schulbücherei gegangen und habe tatsächlich einen Roman gefunden, in dem es um Wolgadeutsche ging. Es war eine persönliche Geschichte von einem jungen Mädchen, dass in den 1980ern nach Deutschland migrierte. Der Roman hat auch ganz viele Fragen hinterlassen, weil ich mich dann gefragt hab, ob ich auch Wolgadeutsche bin, da ich unsere Familiengeschichte nicht im Detail kannte. Das war die erste Berührung. Ich habe danach immer bewusst nach Romanen gesucht, die russlanddeutsche Themen behandeln, aber es gab nie so viele. Mittlerweile gibt es mehr und einige werden wir ja vorstellen.

Lass uns doch erstmal darüber sprechen, was wir unter russlanddeutscher Literatur verstehen. Dann würde ich mich freuen, wenn du einen geschichtlichen Abriss hinlegen würdest. In drei Sätzen, weil Edwin sich ja immer sehr gut kurzfassen kann…

Edwin: Wer literaturwissenschaftlich interessiert ist und solche Sachen auch mal für Hausarbeiten bzw. für Seminararbeiten nutzen und erforschen will: Es gibt eine wunderbare Dissertation einer russlanddeutschen Lyrikerin, die aber auch Literaturwissenschaftlerin ist. Zu diesem Thema hat sie vor etwa 10 Jahren promoviert und veröffentlicht. Elena Seifert heißt sie. Ihre Dissertation erschien bisher in russischer Sprache. Und da hat sie es mit dem semiotischen Modell der Tartuer Schule erklärt. Und zwar, die russlanddeutsche Welt besteht aus bestimmten Sternchen, die zu Gestirnen aufgereiht sind, die einmalig sind, bzw. es gibt Motive charakteristisch für diese Gruppe sind. Man kann nicht von einer russlanddeutschen Nationalliteratur sprechen. Es ist keine Nation im Sinne einer deutschen oder russischen Nation, sondern es ist etwas grenzgängerisches, es ist etwas Hybrides. Es besteht aus verschiedenen Bestandteilen, die einzeln für sich genommen verständlich sind aber in ihrer Konstellation, in der Zusammenlegung exotisch erscheinen können. Insofern hat die Literatur mit russlanddeutschen Motiven aus meiner Sicht das Potential sehr spannend zu sein, weil sie exotisch rüberkommt. Für mich besteht russlanddeutsche Literatur aus diesen kollektiven Erfahrungen, die diese Menschen, diese Gruppen von Menschen in der Vergangenheit gemacht haben und die haben mit bestimmten Themen zu tun. Was wären für dich denn Themen, aus denen die russlanddeutsche Literatur besteht?

Ira: Ja, also Motive in der russlanddeutschen Literatur gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dann auch nach der Kommandantur Ende 1955, waren diese Deportationserfahrungen, die ganz lange eine Rolle gespielt haben. Und die Motive haben sich dann in eine Richtung entwickelt, die wir dann in den 1980ern / 1990ern bis heute oftmals in der russlanddeutschen Literatur finden: dass man auf der Suche nach der Heimat ist, nach seiner Identität und Herkunft. Das Ganze auch in der kollektiven Erfahrung der Deportation der Großelterngeneration gespiegelt, oder der Migrationserfahrung von einem selbst oder der Eltern. Es sind so bestimmte Motive, die sich immer wieder bei russlanddeutschen Autoren und Autorinnen finden. Wenn man aus diesem Verständnis heraus geht.

Edwin: Ich denke, die Motive sind auch allgemeine Motive. Die sind übertragbar auf allgemeine menschliche Probleme, menschliche Herausforderungen und allgemeine Bereiche des Lebens. Du hast recht, Themen wie Identität, Migration, Leben in verschiedenen Kulturen, Selbst- und Fremdwahrnehmung spielen eine große Rolle. Das sind Themen, die sehr stark durch historischen Kollektiverfahrung der Russlanddeutschen geprägt sind. Es sind aber auch Themen wie zum Beispiel Gewalt oder staatliche Willkür, die Auseinandersetzung des Menschen mit dem System des Totalitarismus oder das Individuum vs. Kollektiv. Das sind auch charakteristische Bereiche, die aus der Erfahrung resultieren, zwischen die zwei totalitären Systeme im 20. Jahrhundert zu sein. Aber das sind auch so allgemeine Themen, wie Minderheit vs. Mehrheit, Vorurteile, Sicherheit vs. Freiheit. Das sind solche Sachen, die für die heutige Literatur eine Rolle spielten. Gepaart mit Identitätsdebatten entsteht auch in den Bereichen der postmigrantischen Literatur eine Sparte der russlanddeutschen postmigrantischen Literatur.

Zu der Historie: Die Geschichte der russlanddeutschen Literatur, kann man in etwa auf 250 Jahre beschränken. Dabei gibt es die Anfangszeit, wo es ein literarisches Schaffen in den Kolonien kurz nach der Ankunft gab. Es gibt ein wunderbares Buch. Eigentlich sind es Memoiren von einem Kolonisten, der gebürtig aus Thüringen kam und an die Wolga gegangen ist. Enttäuscht von dem Leben an der Wolga, ist er zurückgegangen und veröffentlichte einige Jahrzehnte später seine Memoiren. Christoph Gottlieb Züge hieß er und sein Buch heißt „Der russische Colonist“. Es ist kein Roman, keine Fiktion aber nach Meinung verschiedener Literaturwissenschaftler ist es eine fiktionalisierte Autobiographie, in der vieles übertrieben, überzeichnet oder übermalt ist. Aber es ist ein Buch, das dem Leser ein wenig einen Einblick in die Zeit von 1766/1770 ermöglicht. Wie gesagt, Literaturwissenschaftler bezweifeln die Authentizität dieses Buches. Dann gab es ein paar Lyriker an der Wolga, die am Anfang etwas geschrieben haben. Zum Beispiel ein Offizier, der angeworben wurde, um Bauer zu sein. Der war frustriert und musste als Dorfschullehrer arbeiten und hat dann frustrierte Gedichte geschrieben. Bernhard von Platen hieß er und er hat ein Poem geschrieben. Später gab es eigentlich nur mündliche Erzählungen, die dann erst Anfang des 20. Jahrhunderts eine Verschriftlichung gefunden haben. Zum Beispiel das berühmte Motiv des Kirgisenmichels an der Wolga. Ein Wolgadeutscher Junge, der in die Sklaverei entführt wird und dann beim Emir Karriere macht, sich die Freiheit erkauft und zurück zur Wolga kommt. Es entstand schon damals eine echte Kolonistenliteratur. Diese Epoche ging dann 1917 mit der Oktoberrevolution zu Ende. Mit dem Aufbau des Sozialismus wurden Literaten gefördert, die eine sozialistische Literatur in deutscher Sprache geschrieben haben. Natürlich lag der Schwerpunkt hier wieder an der Wolga, weil es dort die Institutionen gab. Es gab einen Literatenverband, Staatsbibliotheken, Förderungen… Aus dieser Zeit stammt der wahrscheinlich einzige vollwertige wolgadeutsche Roman aus der Zeit des Sozialismus. „Wir Selbst“ von Gerhard Sawatzky. Dieser Roman wurde vor ein paar Jahren zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht. Eine interessante Sache, aber im Stile des sozialistischen Realismus. Danach gab es verursacht durch die Deportationen ab 1941 keine Literatur mehr. Literatur gab es dann erst ab Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre wieder, als es möglich war in Verlagen und deutschsprachigen Zeitungsredaktionen wieder deutschsprachige Literatur zu veröffentlichen. Es gab drei deutschsprachige Redaktionen in der Sowjetunion. Eine in Kasachstan und zwei im russischen Teil der Sowjetunion und da hatten die Literaten vor allem ihre Werke veröffentlicht. Und der Möglichkeit nur kurze Texte zu veröffentlichen geschuldet, war die russlanddeutsche Literatur sehr auf Lyrik fokussiert. Ich vermute mal, dass das die Formate gewesen sind, in denen sie in diesen Zeitungen und Almanachen veröffentlichen konnten. Und erst ab der Zeit der Perestroika hat man wieder angefangen größere Formen zu schreiben. Literaten haben auch angefangen für die Bühne des Deutschen Theaters in Kasachstan zu schreiben. Da gab es den Autor Viktor Heinz, der als der Wegbereiter der wiedergeborenen russlanddeutschen und wolgadeutschen Literatur gilt. Oder auch in Kasachstan, der Autor Herold Belger, der hochangesehen ist in Kasachstan, weil er viele kasachische Werke ins Deutsche oder andersrum übersetzt hat. Das ist so mehr oder weniger die Geschichte der russlanddeutschen Literatur bis zur Zeit des Zerfalls der Sowjetunion und alles was danach kam ist wieder divers und spaltet sich dann auf in Literaturen, die hier in Deutschland stattgefunden haben oder die zum Teil auch weiterhin in Russland oder in Kasachstan weitergeschrieben werden. Charakteristisch wäre auch eine gewisse Mehrsprachigkeit, in der diese Literatur verfasst wird.

Ira: Lass uns doch jetzt mal ein paar Romane besprechen.

Edwin: Für mich gibt es bei dieser Art von Literatur etwas, was ganz wichtig ist: die Perspektive des Schreibenden. Wer schreibt gerade? Ist er selbst von dieser Biographie betroffen? Was sind seine generellen Motive? Was will er dem Leser transportieren? Will er zum Beispiel eine bestimmte Erklärung, Rechtfertigung liefern, warum die Russlanddeutschen hier in Deutschland sind? Und dann sind natürlich diese Themen mit dem Kriegsfolgenschicksal sehr wichtig. Das ist charakteristisch für Autorinnen, für Autoren, die von diesem Schicksal selbst betroffen sind und jetzt hier in Deutschland schreiben. So ist Eleonora Hummel, um den Namen der bisher erfolgreichsten russlanddeutschen Autorin zu nennen, in ihren vorhergehenden Romanen sehr oft auf dieses Thema zurückgekommen, um eine Erklärung zu liefern, warum die Familien der Russlanddeutschen so peu à peu ab den 80er Jahren nach Deutschland ausgesiedelt sind. Zuallererst ihr Roman, der am weitesten bekannt ist und zwar „Die Fische von Berlin“.

Ira: Ich liebe ihn. Alleine wegen der Sprache und das Thema interessiert mich natürlich auch. Eleonora ist für mich eine großartige Schriftstellerin. Und ich freue mich, dass wir mit ihr ganz am Anfang von unseren Steppenkinder-Folgen, eine Folge hatten. Da hatten wir als Fokus nicht Literatur, sondern die deutsch-deutsche Geschichte, weil Eleonora in den 1980ern als Russlanddeutsche in die DDR gekommen war.

Edwin: Danach gab es noch zwei weitere Romane, die die Migrationsgeschichte verarbeiten. Und der letzte Roman von ihr, der vor drei Jahren erschienen ist, „Die Wandelbaren“. Das ist ein Roman, der im Milieu des deutschen Theaters in Temirtau spielt, in dem ich selbst aufgewachsen bin. Da verarbeite sie die Motive Ende der 1980er / Anfang der 90er Jahre: das Wiedererlangen einer Sprache, einer Form, wieder über russlanddeutsche Belange über die Geschichte zu sprechen, und Aufarbeitung zu betreiben. Auch geht es um die Suche nach einer bestimmten kulturellen Identität in der spätsowjetischen Zeit. Für mich steht der Roman für diese Epoche, in der Menschen sich überlegt haben, ob sie in Kasachstan bleiben und versuchten dort ihre Zukunft zu gestalten, oder ob sie in die Bundesrepublik Deutschland gehen, um zum Beispiel für die eigenen Kinder eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Es gibt auch noch Autoren, die weniger persönlich von einem Schicksal betroffen sind, sondern als außenstehender Beobachter dieses Thema aufgreifen, um dann über generelle Linien ihrer Interessen zu schreiben. Da wären zum Beispiel solche russische Autoren zu erwähnen wie Gusel Jachina, die einen wunderbaren Roman, mit dem Titel „Wolgakinder“ geschrieben hat oder Sergej Lebedew, mit seinem Roman „Kronos‘ Kinder“. Die Beiden haben mit diesen Romanen einen Beitrag zur Aufarbeitung einer bestimmten totalitären Tradition in ihrer russischen Heimat geliefert. Im Fall von „Wolgakinder“, geht es um einen Dorfschullehrer mit dem Namen Jakob Bach, der aus der Welt gefallen war und für den sich nach der Oktoberrevolution eine eigene Welt vor dem Hintergrund der ganzen Schrecken, die damals passiert sind, aufbaut. Eine Welt, die sehr schauermärchenhaft rüberkommt. Der dann auch seinen Sprachsinn verliert und ins totale Schweigen fällt. In diesem Roman gibt es eigentliche nur Waisen und halbwaise Kinder. Eine andere Hauptfigur, die Gegenfigur von Jakob Bach aus Gnadental an der Wolga ist kein geringerer als Stalin. Das ist die zweite Erzählung in diesem Roman. In dem Roman von Lebedew geht es um das Schicksal einer russlanddeutschen Familie, die jetzt nicht typisch kolonistisch geprägt war, sondern großstädtisch, also Moskaudeutsche. Das ist die Familie Schwerdt, die in verschiedenen Bereichen als Ärzte und Industrielle erfolgreich war und bemüht waren zum Aufblühen ihrer russischen Heimat beizutragen, aber ständig in die Situation geraten sind, dass man sie als Fremde betrachtet hat. Und die schließlich dann mit dem Ersten Weltkrieg und mit der Oktoberrevolution als Aussätzige stigmatisiert wurden.

Ira: Und mit Sergej Lebedew haben wir auch Ende 2021 eine Folge aufgenommen, wo es auch um diesen Roman geht. Die Folge gibt es auch auf deutscher und russischer Sprache, falls sie jemand noch nicht kennt, denn da gehen wir ganz ausführlich auf diese Geschichte ein. So und jetzt verrate mir, welches Buch du vorstellen möchtest.

Edwin: Ich glaube, ein Roman, der mich wirklich sehr begeistert hat und über den ich gerne ein paar Worte mehr verlieren würde, war der Roman von Markus Berges „Die Köchin von Bob Dylan“. Man sieht diesem Roman nicht an, dass er irgendwie russlanddeutsche Themen beinhaltet und wer Markus Berges nicht kennt, sollte vielleicht mal im Internet recherchieren, weil anderen ist er bekannt als Sänger und Liederschreiber einer Kölner Kultband mit dem Namen „Erdmöbel“. Er hat mittlerweile ein paar erfolgreiche Romane geschrieben. Markus Berges hat selbst eigentlich kaum einen russlanddeutschen Hintergrund. Später in Interviews hat er erwähnt, dass er Enkel einer schwarzmeerdeutschen Familie ist. Aber in dem Roman hat er das geschafft, was ich mir eigentlich öfters wünsche, und zwar dass man allgemeine Themen, Themen aus der Popkultur, mit diesen schweren Themen der Russlanddeutschen so in Kombination bringt. Dass auch ein Fan von Bob Dylan, der in diesem Roman eben irgendwelche neuen Perspektiven auf sein musikalisches Idol werfen will beiläufig die russlanddeutsche Geschichte mitbekommt. In dem Roman geht es um eine junge Frau, die angeworben wird in der Crew von Bob Dylan als Köchin zu arbeiten und geht mit ihm auf Tournee auf die Krim. Und diese junge Frau wird dann auf der Tournee von einem Anruf ihres angeblich verschollenen Großvaters überrascht. Sie dachte, dass es diesen Großvater nicht gibt, und die Großmutter war sich sicher, dass er auch nicht mehr am Leben ist. Und dann meldet er sich aus einem Altenheim in Odessa wieder und möchte besucht werden. Diese junge Frau lässt alles stehen und liegen, bekommt die Erlaubnis von Bob Dylan dahinzugehen. Ja, und warum Bob Dylan und diese junge Frau? Bob Dylans Familie stammt auch aus der Ukraine. Es ist schon sehr interessant, wer alles seine Familienbiographie mit diesem Land verknüpft. Die junge Frau lernt dann eben diese komplizierte Geschichte der Schwarzmeerdeutschen kennen. Also diese Geschichte zwischen zwei totalitären Systemen, zwischen dem Stalinismus, dem diese Familie Malsam ausgesetzt war – ihr Großvater heißt Florentinus Malsam – und dann später, nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, das Leben unter der Besatzung der Wehrmacht, wo die Schwarzmeerdeutschen eben dieses „Privileg“ hatten, als Volksdeutsche dann da zu leben, aber auch Dienste verrichten mussten, die sie dann in die Situation gebracht haben, zu kollaborieren und an Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung teilzunehmen. Genau über diese schwierigen Mühlen und diese schwierige Epoche in dieser Zeit schreibt der Autor in einer sehr zugänglichen, in einer sehr lesbaren Sprache und verknüpft das immer wieder mit dem aktuellen Leben, mit der Popkultur, über Bob Dylan. Der Roman erschien auch zum 75. Geburtstag von dem Musiker und hat damals auch für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Ich weiß gar nicht, ob das dem Autor bewusst war, dass er das marketingmäßig dann so angelegt hat, dieses Thema der breiten Leserschaft quasi so unterzujubeln, dass anlässlich des 75. Geburtstages von Bob Dylan hier ein neues tolles Buch über ihn erscheint, und dann lesen die Fans von Bob Dylan diesen Roman und lernen plötzlich die Geschichte der Schwarzmeerdeutschen kennen. Das finde ich ein sehr starkes Stück kultureller Vermittlungsarbeit. Insofern ist der Roman für mich ein großes Highlight gewesen und ist es immer noch. Dazu ist er auch sommerlich, spielt im südukrainischen Sommer auf der Krim und in Odessa, was du ja sehr gut nachvollziehen kannst.

Ira: Stichwort Sommer. Wir hatten uns überlegt diese Folge vor den Sommerferien zu machen, weil vielleicht der eine oder andere in seiner Ferienzeit gerne liest. Vielleicht ist etwas dabei, was ihr nach dieser Folge gerne lesen möchtet.

Oftmals kann ich mich an Gefühle erinnern, die ich beim Lesen empfunden habe, oder ich kann beschreiben, was die Romane bei mit vielleicht ausgelöst haben, dass ich mich vielleicht mit besonderen Themen befasst hatte. Deswegen kann ich dir gar nicht so ganz genau sagen, um was es in dem Roman „Ritas Leute“ von Ula Lachhauer, den ich gerne vorstellen möchte. Der Roman ist 1996 erschienen und ich habe ihn, glaube ich, einige Jahre später definitiv gelesen. Ich glaube, dass ich sogar schon in Mannheim gelebt habe, wo ich 2010 hingezogen bin. Der Roman spielt nämlich auch um Mannheim. Es geht um Rita, sie ist Russlanddeutsche aus Kasachstan und es geht um sie und ihre Clique und um das Ankommen und sich zurecht finden in dieser für sie neuen Gesellschaft. Darum, wie es sich anfühlt. Bei mir hat es damals ausgelöst, dass ich es zum einen einfach sehr gern und sehr schnell gelesen haben, was ich normalerweise nicht mache. „Ritas Leute“ ist zum einen gut erzählt und zum anderen fand ich es einfach interessant, dass jemand dieses Thema behandelt, dieses Thema, mit dem ich persönlich so viel anfangen kann. Wie es denn ist hier anzukommen als jemand, der mitgebracht wird? Und welche Herausforderungen haben die Personen? Vieles davon konnte ich einfach nachempfinden und fand es spannend und cool, dass es in einem großen Verlag erschienen ist. Sie ist eine Autorin, die sehr produktiv ist. Es gibt viele tolle Romane von ihr, die sich generell auch viel mit deutscher Geschichte beschäftigen. Es gibt auch einen Roman von ihr, der heißt „Als die Deutschen weg waren“. Da geht es um Deutsche, die in den Gebieten gelebt haben, die heute beispielsweise Polen gehören. Vor einigen Monaten hat ein Regionalsender eine TV-Beitrag über mich gedreht und dann wollte ich das Thema Russlanddeutsche mit einem Bezug auf Mannheim reinbringen und habe ich mal gegoogelt, was eigentlich aus Rita geworden ist. Sie wohnt jetzt immer noch in Baden-Württemberg, aber nicht in Mannheim. Und tatsächlich habe ich dann einen Freund von ihr, der in der Region geblieben ist, für diesen TV-Beitrag gewonnen.

Edwin: Dann bleiben wir doch gleich in Mannheim. Tim Tichatzki ist ein Kölner Autor, aber er ist in Mannheim geboren. Er schrieb das Buch „Roter Herbst in Chortitza“. Ein Roman, in dem es auch um das Leben von Russlanddeutschen im Schwarzmeergebiet bzw. in der südlichen Ukraine geht. Chortitza ist eine Insel auf dem Fluss Dnepr. Diese Insel ist sowohl für die Ukrainer als auch für die russlanddeutschen Mennoniten ein bedeutender Erinnerungsort. Da wurde die erste Ansiedlung der Mennoniten nach dem Einladungsmanifestes der Katharina gegründet. Die Handlung dieses Romans spielt in Osterwieck, einem Dorf in dieser Ansiedlung und die Hauptfigur ist Willy. Er ist Sohn einer frommen und gläubigen mennonitischen Familie und wächst in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg auf. Dieser Roman hat mich sehr überwältigt, weil ich selten in einem Roman über Russlanddeutsche auf diese intensive Art und Weise über Gewalt gelesen habe. Wobei die Welt der Mennoniten nicht die Welt der Gewalt ist. Mennoniten sind von ihrer Grundeinstellung pazifistisch. Die Wehrfreiheit gehört zu ihrem Glaubensbekenntnis. Dieser Roman zeigt diesen krassen Kontrast zwischen der extremen Gewalt der stalinistischen Zeit und dem Postulat der Wehrfreiheit der Mennoniten, sich nicht zu wehren, auch in den Zeiten der schlimmsten Herausforderung, die sie erlebt haben. Es gibt einen Gegenspieler. Willy hat einen Jugendfreund Maxim, der Karriere als stalinistischer Schlächter macht. Es gab tatsächlich einige Personen, die in NKWD-Gefängnissen Menschen wie am Fließband erschossen haben. So wie Tim Tichatzki diese Szenen im Kontrast zur Wehrfreiheit und dieser Nicht-Möglichkeit sich zu wehren in diesem extremen System geschildert hat, so hat er diese Gewalt für mich am anschaulichsten dargestellt. Diesen Roman finde ich bemerkenswert, sehr interessant und sehr gut geschrieben, von jemanden, der persönlich-biographisch mit der Geschichte der Russlanddeutschen eigentlich nichts zu tun hat. Aber wenn jemand jetzt googelt und dann die ersten Rezensionen auf dieser großen Verkaufsplattform sieht, der wird dann lesen, Tichatzki verarbeite darin seine eigene Familiengeschichte, dem sei gesagt, dass es seine Schwiegerfamiliengeschichte ist. Das ist jetzt nochmal eine Person, die selbst biographisch nicht betroffen ist, aber einen eigenen Blick auf Themen und Motive in der Literatur über Russlanddeutsche entwickelt. Das finde ich sehr interessant, weil ich daran das Interesse der Mehrheitsgesellschaft an unseren Themen messe. Willst du auch noch einen Roman vorstellen?

Ira: Nicht nur einen. Ich habe noch ein paar, aber ich versuche es kurz zu halten. Weil du eben beruhend auf wahren Begebenheiten gesagt hattest, auch wenn es die Fremden sind. So ein Roman ist auch der nächste, den ich gerne vorstellen möchte, und zwar von Katharina Martin-Virolainen „Die Stille bei Neu-Landau“. Da verarbeitet sie einen Stoff, der sich tatsächlich so ereignet hat. Es geht um Schwarzmeerdeutsche und das ist eine unglaubliche tragische Geschichte. Es geht um eine Liebesgeschichte und ein familiäres Drama. Es sind Schwarzmeerdeutsche, die dann während des Zweiten Weltkrieges ins besetzte Polen kommen. Dann wird die Familie zerrissen und dann werden sie wieder repatriiert, also nach dem Ende des Krieges wieder in die Sowjetunion gebracht und kommen dann irgendwann mal nach Deutschland. Das ist wahnsinnig gut erzählt. Es ist eine spannende Geschichte und man muss sich überhaupt nicht für russlanddeutsche oder schwarzmeerdeutsche Themen begeistern, um die Geschichte an sich spannend zu finden. Ich glaube, das ist daran die Kunst. Ein Roman muss dadurch überzeugen, dass er gut gemacht ist, dass er gut erzählt ist, dann ist es vollkommen unerheblich, ob man interessiert ist an dieser sehr besonderen Geschichte.  Gestern vor genau einem Jahr waren Katharina und ich in diesem Ort. In Wirklichkeit heißt der Ort Neu-Karlsruhe und liegt in der Südukraine. Wir sind in Odessa mit dem Auto losgefahren und waren drei Stunden unterwegs. Es liegt nördlich von Mykolajiw. Dann waren wir in diesem Dorf, in dem es noch eine alte deutsche Kirche gibt, die eine Ruine ist. Die wurde auch nicht anders genutzt. Die ist so zerfallen erhalten, aber man sieht noch deutsche Schriftzüge an der Kirche. Diese Dörfer im Schwarzmeerraum, die sind nach einem bestimmten Muster gebaut, genau wie die Häuser und wenn man einmal das Wie verstanden hat, dann erkennt man diese deutschen Dörfer in der Südukraine auch immer wieder. Da waren noch ganz viele Häuser aus der Zeit, als die Deutschen da noch gelebt hatten, bevor sie dann 1943 wegmussten. Wir sind hingefahren, weil eine der Figuren in ihrem Roman da tatsächlich geboren wurde. Wir haben Erde von dort mitgenommen, haben Fotos und Videos gemacht, um diese Person damit zu überraschen, weil sie immer noch am Leben ist. Katharina ist selbst Russlanddeutsche und befasst sich in ihren Werken sehr viel mit dem Thema und mit der Geschichte der Russlanddeutschen. Und das ist, was für mich auch den Wert ihrer Literatur ausmacht, wenn über spannende Geschichten eben Geschichtsvermittlung gemacht wird. Sie vermittelt ganz viel Geschichtswissen. Sie hat viel in Archiven geforscht. So hat sie zum Beispiel Pläne studiert, wie sich die Wehrmacht Richtung Osteuropa bewegt hat, um dann möglichst nah an tatsächlichen Ereignissen diese Liebesgeschichte zu erzählen, die so ja stattgefunden hat. Das ist ein Roman, den man sehr schnell liest, weil er interessant und packend ist. Man möchte unbedingt wissen, wie die Geschichte weitergeht.

Edwin: Ich merke gerade bei Sprechen über die Romane, dass sie alle sehr historienlastig sind. Es geht immer um Geschichte. Es geht vor allem eben um diese Totalitarismus-Erfahrung, als Begründung oder als Erklärung, warum Russlanddeutsche jetzt eben zu so großen Anteilen hier in Deutschland leben, damit die Gesellschaft und der Leser heute hier verstehen, was der Hintergrund der Migrationsbewegung war. Für mich gibt es aber auch eine Dimension, die mit der Geschichte jetzt nicht unbedingt zu tun haben muss aber unsere Gegenwart erklärt. Und zwar unsere Gegenwart als eine Migrationsgesellschaft. Die sogenannte postmigrantische Kulturszene bzw. postmigrantische Literatur. Da kamen in der letzten Zeit auch einige interessante Beiträge, aus dem Bereich der Aussiedlerinnen und Aussiedler, die in dieser Szene bis vor kurzem fehlten. Wobei dieser Bereich noch gar nicht so alt ist. Und das sind meistens junge Stimmen von Autorinnen und Autoren, die ihre Geschichte verarbeiten, die jetzt weniger mit den historischen Hintergründen in den Repressionszeiten verwurzelt sind, sondern in ihre Migrations- und Integrationsgeschichte. Und zu diesen Romanen zählt für mich unter anderem auch der Roman „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ von Viktor Funk. Mit ihm haben wir auch schon eine Folge aufgenommen. Da haben wir uns ausführlich mit ihm und Dilek Güngör in der Folge darüber unterhalten. Da gibt es jetzt zunehmend mehrere Beiträge in diesem Bereich, die eine große Durchschlagskraft erreichen und da wollest du heute über den Roman von Elina Penner sprechen.

Ira: Elina Penner ist eine mennonitisch-russlanddeutsche Autorin und sie hat im Aufbau Verlag Anfang 2022 ihren Erstlingsroman „Nachtbeeren“ veröffentlicht. Es ist jetzt schon die zweite Auflage draußen, er wird also sehr gut gelesen und er erreicht ein Publikum, das sich nicht zwingend für mennonitisch-russlanddeutsche Themen interessiert, sondern sich einfach unterhalten lassen möchte und dabei aber auch gleichzeitig viel lernt. Wobei Elina gar nicht so ausführlich auf historische Sachen eingeht, sondern die fließen mit ein und sie weckt dadurch Interesse. Das ist wertvoll, denn wenn jemand Interesse hat, dann googelt er vielleicht bestimmte Begriffe und liest sich zu bestimmten Themen ein. Elina Penners Roman hat mir sehr gut gefallen, weil ich diesen schwarzen Humor mag. Also ich kenne Elina auch persönlich und sie ist ein unglaublich witziger Mensch und hat so einen etwas derben Humor. Die Geschichte an sich ist sehr tragisch. Es geht um Nelli, die sich in einer unglücklichen Lebenssituation befindet, die ganz viele Themen mit sich trägt, die auch mit ihrer Migrationsgeschichte aus der Sowjetunion zu tun haben und sie versucht für sich einen Weg zu finden. Dann stirbt jemand in dem Roman und bis zuletzt weiß man nicht, was da passiert ist. Das schafft einen Spannungsbogen, weswegen man dranbleibt, weil man erfahren möchte, warum er zerstückelt in einer Tiefkühltruhe im Keller dieser Familie ist. Und auf der anderen Seite ist diese Sprache und die Art, wie sie erzählt sehr unterhaltsam. Und dadurch erreicht sie ein großes Publikum. Ich weiß, dass sie auch ein Kinderbuch herausgebracht hat, dass ich auch beachtenswert finde. Sie stammt aus einer plautdietschen Familie und ich war mal bei ihren Eltern für einen journalistischen Text zuhause. Die sprechen tatsächlich Plattdeutsch untereinander, was ich überhaupt nicht verstehe. Das ist wirklich eine völlig interessante eigene Sprache. Dazu haben wir uns mit Heinrich Siemens in einer Folge unterhalten. Mit ihm gemeinsam hat sie in seinem Verlag dieses Kinderbuch veröffentlicht, wo Texte auf Deutsch und auf Plautdietsch abgedruckt sind, so dass Kinder auch Zugang zu dieser Sprache haben.

Edwin: Das bemerkenswerte an diesem Roman ist, dass sie aus einer betroffenen Perspektive durch ihre Hauptprotagonistin mittels ihres schwarzen Humors und dieser Art und Weise ironisch über sich und ihre Leute auch zu sprechen, diesen Weg durch die Untiefen zwischen Vorurteilen und Selbstironie findet. Und das ist auch der Clou der postmigrantischen Literatur, dass jemand aus berufenem Mund, aus einer selbstbetroffenen Perspektive berechtigt ist so über diese Themen zu schreiben, um dann diese Vorurteile zu entkräften, aber auch tief in der Wunde der eigenen Leute zu rühren. Insofern finde ich diesen Roman auch interessant und spannend. Elina ist jetzt gerade mit ihrem Roman auf Tournee. Schaut bitte auf ihre Internetseite, da gibt es fast jede Woche eine Lesung und ich selbst werde auch ein paar Lesungen mit ihr haben, unter anderem in Stuttgart in der Reihe zur Ausstellung „Mein Name ist Eugen“, worüber wir in der vergangenen Folge gesprochen haben.

Ira: Ich muss jetzt auf einen anderen Podcast von mir verweisen. „Verweilzeit“ – da erschien ein einstündiges Interview mit Elina, das wir auf einem Friedhof geführt haben und wo es auch ganz viel um ihren Roman und die toten Frauen in ihrer Familiengeschichte geht, die auf diesem Friedhof in Minden beerdigt sind. Was möchtest du uns noch vorstellen?

Edwin: Ich könnte noch ewig sprechen. Wo wir jetzt schon in dem Bereich der russlanddeutschen-mennonitischen oder der plautdietsch angehauchten Literatur sind, dann kann ich auf eine Literatin hinweisen, die nicht in Deutschland lebt, nicht in Russland lebt und eigentlich kaum biographische Berührung weder mit Deutschland noch mit Russland hat. Miriam Toews ist eine kanadische Bestsellerautorin. Sie stammt selbst aus dem Milieu der kanadischen Mennoniten, deren Vorfahren zum Teil bereits im 19. Jahrhundert nach Kanada eingewandert sind. Sie hat einen bemerkenswerten Roman zu diesem Thema über eine junge Frau geschrieben, die nach Möglichkeiten sucht aus der frommen Welt der mennonitischen Kanadier herauszufinden. Das ist ein Spezifikum der russlanddeutschen-mennonitischen Literatur, dass da die Themen der Religiosität und der Frömmigkeit eine sehr wichtige Rolle spielen, wenn nicht sogar die zentrale Rolle. Bereiche, die für andere Literaturen der Russlanddeutschen, sowohl bei der wolgadeutsch oder schwarzmeerdeutsch angehauchten Literatur eigentlich keine so große Rolle spielen. Wenn ich heute Kommentare über oder Beschreibung russlanddeutscher Literatur lese, die versuchen das zu verallgemeinern und über den besonderen Stellenwert der Religiosität in der russlanddeutschen Literatur gesprochen. Wenn ich das höre, dann weiß ich, dass der Autor eigentlich über mennonitisch-russlanddeutsche Literatur spricht, weil es da eine wirklich große und zentrale Rolle spielt. Und der Roman von Miriam Toews heißt „A complicated kindness“/ „Ein komplizierter Akt der Liebe“. Im englischen Original aber auch in der deutschen Übersetzung. Ira, was wäre denn der nächste Roman, den du vorstellen wolltest.

Ira: Es gibt einen Roman, den ich richtig toll fand. Ich weiß gar nicht, ob man den so klassisch als Roman bezeichnen kann. Vielleicht eher eine literarische Reportage. Der heißt „Chaussee der Enthusiasten“ und ist von Merle Hilbk. Merle macht im Grunde eine Art Roadtrip durch Deutschland und versucht diese Blackbox, was für sie die Russlanddeutschen darstellen, zu beleuchten um denen so ein bisschen näher zu kommen und sie besser zu verstehen. Merle ist eine grandiose Autorin und es ist unterhaltsam, wie sie aus ihrer Perspektive diese Begegnungen mit Russlanddeutschen beschreibt. Sie hat selbst dann seit den 1990er Jahren plötzlich russlanddeutsche Verwandte, von denen sie nie etwas gehört hatte, die sie dann auch besucht. Sie ist auch in Buchen im Odenwald unterwegs, in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin und da besucht sei eine russlanddeutsche Tanzgruppe

Sonst habe ich noch Ella Zeiss auf meiner Liste. Sie hat es tatsächlich 2018 im Eigenverlag geschafft viel Aufmerksamkeit und viele Leser für ihren Roman „Wie Gräser im Wind“ zu gewinnen. Er ist auch autobiographisch geprägt. Ella Zeiss ist eine Russlanddeutsche und verarbeitet im Grunde die Geschichte ihrer Familie, bei der es in den 1930ern darum ging, dass sie deportiert und enteignet worden sind. Das ist ein wie eine Familiensaga, die sich sehr gut liest. Dafür hat sie hat den Kindle-Story-Award bekommen, was natürlich eine Wahnsinnsleistung ist. Sie publiziert im Eigenverlag und ist eigentlich aus dem Fiction-Bereich bekannt. Da veröffentlicht sie unter anderen Namen, zum Beispiel als Ellen McCoy. Auf ihrer Webseite habe ich, als ich mich heute auf unsere Folge vorbereitet habe gesehen, dass sie im August einen neuen Roman veröffentlicht, und zwar heißt er „Der Hunger nach Leben“. Er spielt in den 30er Jahren in der Ukraine und ich denke, es geht um den „Holodomor“ und auch wieder um deutsche Geschichte. Ich bin wahnsinnig gespannt. Und warum stelle ich diesen Roman vor? Ich habe mit großer Erwartung auf ihn hin gefiebert, weil ich mich gefreut hatte, dass es dieses Thema wieder in Buchform gibt und ich habe ihn gerne gelesen. Er hat mich ein bisschen an „Suleika öffnet die Augen“ von Gusel Jachina erinnert, der für mich der absolute Vorbildroman ist, wenn es darum geht, Familiengeschichten mit historischem Kontext zu verknüpfen und sehr spannend zu erzählen. Und in diese Richtung geht auch Ellas Roman.

Mir war es heute auch wichtig zu erwähnen, dass es sehr viele russlanddeutsche Autorinnen und Autoren gibt, die bereits in der Sowjetunion aktiv waren. Zu ihnen gehören beispielsweise Nelli Kossko, Wendelin Mangold und andere. Was mir auch wichtig war zu erwähnen, weil ich weiß, dass einige unserer Zuhörenden auch selbst schreiben und da vielleicht auch Anschluss suchen oder eine Sichtbarkeit suchen: Es gibt einen russlanddeutschen Literaturkreis. Der Vorstandsvorsitzende ist Artur Rosenstern, der selbst Autor ist. Der hat zum Beispiel „Planet Germania“ veröffentlicht oder kürzlich „Die Rache der Baba Jaga“. Dieser Literaturkreis ist ein Verein bietet zum Beispiel regelmäßig Workshops an, wo man bestimmte Themen übt. Zum Beispiel, wie man eine Lesung hält oder wie man einen szenischen Einstieg in eine Geschichte schafft. Jedes Jahr geben sie einen Almanach heraus und man kann sich mit Beiträgen dafür bewerben. Lyrik bis Bildreportagen oder auch kurze Essays werden, wenn man überzeugt, in diesen Almanach aufgenommen.

Edwin: Wenn du jetzt selbst einen Roman schreiben würdest, worüber würdest du dann schreiben?

Ira: Der Tod fasziniert mich in der Literatur aber grundsätzlich im Sinne davon, dass das Leben wahnsinnig kurz ist. Was möchte ich leben und erleben und wie möchte ich mein Leben führen? Deswegen ist er im positiven Sinne immer sehr präsent. Ich bin überhaupt kein negativ gestimmter Mensch. Ich würde es gerne schaffen, gleichzeitig eine spannende Geschichte zu erzählen, die ganz viel historisches Wissen vermittelt. Ein bisschen das, was vielleicht unser Podcast macht. Es gibt eine konkrete Romanidee, die in der Jetztzeit spielt und die Protagonistin hat sehr viel Ähnlichkeit mit meiner Biographie. Sie ist eine „mitgebrachte“ Russlanddeutsche und sie fährt in die Ukraine, um die Heimat ihrer Großeltern kennenzulernen, aber auch um etwas bestimmtes zu finden. Ich will nicht zu viel verraten. Ja, also das würde ich gerne schreiben. Welchen Roman würdest du gerne schreiben?

Edwin: Ich glaube, ich würde eine spannende Biographie erzählen, mit Bezügen in Themen, die jeden berühren. Ich glaube, ich würde einen Fußballroman schreiben. Neulich habe ich eine spannende Biographie eines Wolgadeutschen entdeckt, der ein renommierter Fußballtrainer in der sowjetischen Oberliga war - angefangen in der Nachkriegszeit bis in die 80er Jahre. Er hatte sämtliche Vereine Zentralasiens trainiert. In Usbekistan hat er den Hauptstadtverein Pakhtakor trainiert und es gibt da die Halle der „heiligen“ Sportler und berühmten Persönlichkeiten. Alexander Keller ist da verewigt, weil er diese Mannschaft damals in die oberste sowjetische Liga gebracht hat. Das interessante an seiner Person war, dass er zu Kriegsbeginn 1941 Trainer der Fußballmannschaft von Stalingrad war und das letzte Spiel, das sie absolviert haben, bevor dann die Fußballer an die Front eingezogen worden sind, war gegen die heutige Mannschaft Schachtar Donezk, die damals Stachanowez Stalino hieß. Das war sein letztes Spiel, das er als Trainer der sowjetischen Oberliga vor dem Krieg hatte. Später war er in der Arbeitsarmee und wurde von dem Kommandanten angehalten oder gezwungen die örtliche Mannschaft auf Kreisliga-Niveau zu bringen, was er dann auch gemacht hat. Also in gewisser Weise ist es eine Geschichte, die mit Fußball zu tun hat, mit einem bestimmten Helden, der Herausforderungen in der schlimmen Zeit der Entbehrung des Arbeitslagers bewältigen mussten und es dann trotzdem noch zu einer bestimmten Größe gebracht hat und heute zum Beispiel in Usbekistan zu einem der größten Fußballhelden zählt und von Menschen verehrt wird. Ich denke, so ein Fußballthema und eine besondere Biographie und das mit den ganzen kollektiven Schicksalswegen der Russlanddeutschen verknüpft könnte auch funktionieren.

Ira: Also ich glaube, in den nächsten Jahren kommen sehr viele interessante Bücher mit dem Thema Russlanddeutsche von russlanddeutschen AutorInnen - oder auch nicht - auf den Markt. Aber das Thema wird viel mehr Präsenz bekommen, auch in den Verlagen, in die es viele Autoren noch nicht geschafft haben. Viele Bücher sind bisher im Selbstverlag erschienen. Wir haben jetzt 0,5 % der Autorinnen, der Autoren und Werke erwähnt und erheben gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt so viele großartige andere Autorinnen und Autoren, die sich mit diesem Thema auseinandersetzten oder die selbst diese russlanddeutsche Migrationsgeschichte haben. Und in jedem Fall werden wir dieses Thema noch in Zukunft bespielen.