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Kasachstan und seine Deutschen

Die meisten russlanddeutschen Aussiedler kamen aus Kasachstan. Wie und woher kamen aber Deutsche dorthin? Wie ist ihre Kollektiverfahrung mit der Geschichte des zentralasiatischen Landes verknüpft? Es geht um Auswirkungen des russischen Kolonialismus und des sowjetischen Stalinismus, GULAGs und Aufstände, ein Theater und ein „Vatikan“ in der Steppe sowie den Exodus Anfang 1990er Jahre. Diese Folge ist ein Mitschnitt anlässlich eines Livevortrages am 11. Juni 2022 für die Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Kasachstan. Darin ging es um Fakten zu Deutschen in Kasachstan. Wie und woher sind sie in die ehemalige Sowjetrepublik Kasachstan gekommen? Auch geht es um die Geschichte dieses Landes: um Auswirkungen des russischen Kolonialismus und des Stalinismus, Aufstände in der Sowjetzeit und die große Auswanderungsbewegung der deutschen Minderheit aus dem Land im Anschluss an die demokratischen Reformen und die Unabhängigkeit.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Edwin: Wer sind denn überhaupt die Russlanddeutschen? Wenn man es historisch betrachtet und diese historische Dimension mitberücksichtigt, dann ist es eine sehr große Abstammungsgemeinschaft von Menschen, die mittlerweile in verschiedenen Kontexten in relativ vielen Ländern leben. Das sind Angehörige der deutschen Minderheit in postsowjetischen Ländern. Zum Beispiel die Deutschen, die heute noch in Kasachstan leben. Das sind aber auch ehemalige Bürger der früheren Sowjetunion deutscher Herkunft, die als SpätaussiedlerInnen nach Deutschland gekommen sind. Aber auch zum Teil Nachfahren der deutschen Siedlergruppen im Zarenreich, die heute in aller Herren Länder leben. Insofern leben diese Menschen heute in Asien, in Europa, in Nord- und Südamerika und insbesondere in Deutschland. In Deutschland leben wahrscheinlich – und wahrscheinlich sage ich ganz bewusst, da es keine konkreten Zahlen gibt – die meisten Nachfahren dieser Menschen. In den USA, in Kanada leben sehr viele, in der Russischen Föderation, in Argentinien, in Kasachstan, Paraguay, Ukraine, Kirgistan, Brasilien, Georgien, Mexico, Moldau usw. Zurückzuführen ist es auf verschiedene Migrationsereignisse, die es in den letzten 150 Jahren gab. Das ist kennzeichnend für diese Menschen, denn sie waren von häufigen Migrationen betroffen. Meistens waren es freiwillige Migrationen. Im 20. Jahrhundert waren es vor allem Zwangsmigrationen.

In postsowjetischen Staaten sind es anerkannte Minderheiten. Das heißt, genauso wie in Deutschland die Sorben oder Friesen als Minderheit anerkannt sind, so sind auch die Deutschen in Kasachstan oder in der Russischen Föderation als eine Minderheit anerkannt. Es sind aber auch Nachfahren von Migranten ohne einen bestimmten Status, wie zum Beispiel diejenigen die in Nord- oder Südamerika leben. In Nordamerika haben sie sich in dem melting pot aufgelöst. Es gibt welche, die haben sich Kulturvereinen organisiert oder musealen Ausstellungen eingerichtet. Aber die haben jetzt keinen besonderen Status.

In Deutschland sind es eben Menschen, die mit dem Status „Spätaussiedler“ kamen. Dieser Status beschreibt aber nur den Zeitpunkt der Ankunft hier in Deutschland und der Integration. Das heißt, sobald die Integrationsmaßnahmen für diese Menschen abgeschlossen wurden, verlieren sie auch diesen Status „Spätaussiedler“. Aber in irgendeiner Art und Weise müssen wir die Personengruppe oder auch die Anliegen und Themen dieser Menschen beschreiben.

Wenn wir von Spätaussiedlern sprechen, dann meinen wir unter anderem auch Russlanddeutsche. Es ist wichtig zu wissen, dass nicht alle Spätaussiedler Russlanddeutsche sind und nicht alle Russlanddeutschen Spätaussiedler sind. Weil als Spätaussiedler auch Menschen deutscher Herkunft aus anderen osteuropäischen Ländern, wie Polen oder Rumänien, gelten.

Aus meiner Sicht sind drei Sachen für Deutschland wichtig zu wissen: Erstens, es sind Nachfahren von angeworbenen Kolonisten im Zarenreich im 18. und 19. Jahrhundert. Es sind Menschen, die vor 250 Jahren in einem Zeitraum von 100 Jahren freiwillig ausgesiedelt sind und von der Zarin angeworben wurden, um bei bestimmten Kolonisierungsprojekten mitzumachen. Diese Geschichte ist somit Ausdruck des russischen Kolonialismus. Zweitens, diese Menschen haben ein gemeinsames Repressionsschicksal im 20. Jahrhundert als eine deutsche Minderheit in der Sowjetunion. Das ist auch die Begründung, warum sie hier als Spätaussiedler aufgenommen werden. Eine dritte Gemeinsamkeit haben diese Menschen in der Remigration nach (West-)Deutschland als Aussiedler auf der Grundlage des Vertriebenengesetzes.

Die Frage wie viele Russlanddeutsche es gibt, kann man nicht beantworten. Die einzige verlässliche Angabe, die ich kenne, stammt aus dem Jahr 1989. Das sind Ergebnisse der letzten Bevölkerungszählung in der Sowjetunion und die ergab damals, dass knapp zwei Millionen Sowjetbürger sich als Deutsche gesehen haben. Und eine Million davon lebten in Kasachstan. Das heißt, die Mehrheit der deutschen Minderheit in der Sowjetunion lebte auf dem Gebiet des heutigen Kasachstans. Alle anderen Angaben, die wir haben, sind spekulativ. Denn wenn wir auch die Zahlen der Spätaussiedler kennen, so haben eben nicht alle Spätaussiedler, die aus postsowjetischen Staaten gekommen sind, einen Zusammenhang mit der früheren deutschen Minderheit. Seit Anfang der 2000er Jahre ist die Zusammensetzung der Spätaussiedlerfamilien sehr heterogen. Gesetzlich gesehen reicht es im Prinzip, wenn man eine Großmutter hatte, die deutscher Herkunft war und insofern auch im 20. Jahrhundert Repression erlitten hat. Ihr Mann konnte ein Russe sein, die Kinder haben sich als Russen gesehen, bzw. wurden administrativ so gelesen und die haben sich dann auch mit anderen ethnischen Gruppen familiär vermischt. Insofern müssen wir, wenn wir über Identitäten sprechen berücksichtigen, dass es hier eine extrem hohe Heterogenität gibt und relativ wenig Eindeutiges dabei ist. Im Podcast beschäftigen uns aber mit diesem Kern. Dieser Kern steckt in der Geschichte und in den Wanderungshintergründen.

Vielleicht noch einige Worte zum Begriff „Russlanddeutsche“. Er ist tatsächlich schwierig. Er ist anachronistisch und immer erklärungsbedürftig. Er entstand in den 1920er Jahren nach der Oktoberrevolution, nachdem die ersten Immigranten aus der Sowjetunion nach 1917 in die Weimarer Republik emigriert sind und sich hier zivilgesellschaftlich organisieren mussten. Davor hatten sie sich eigentlich nur als Deutsche bezeichnet. Um sich aber hier in Deutschland zu definieren, haben sie sich ganz bewusst in Abgrenzung zu der Sowjetunion immer als Deutsche aus Russland bezeichnet. Das war aber auch auf der anderen Seite ein Ausdruck der Volkstumspolitik, die schon in der Weimarer Republik angefangen hatte und von den Nazis dann auf die Spitze getrieben wurde. Da war es bewusst wichtig, sie von der Sowjetunion zu trennen und eher in der Tradition des Russischen Reichs zu sehen. Aktuell ist dieser Begriff sehr erklärungsbedürftig. Denn da steckt eben dieses Wort „Russland“ drin. Es hat relativ wenig mit der heutigen Russischen Föderation zu tun, sondern mit den Wurzeln im Russischen Zarenreich. Was auch sehr wichtig zu berücksichtigen ist: Ungefähr die Hälfte der heute lebenden Russlanddeutschen haben in der Großelterngeneration, bzw. Urgroßelterngeneration Wurzeln auf dem Gebiet der heutigen Ukraine.

Jetzt meine erste Frage an Ira: Ira, könntest du uns vielleicht erzählen, wie deine Familie oder deine Vorfahren in der Ukraine gelandet sind?

Ira: Tatsächlich gehört meine Familie zu denjenigen, die bereits 1936 nach Kasachstan gekommen sind. Die allermeisten Deutschen kamen 1941 nach Kasachstan, als Hitler die Sowjetunion überfiel. Meine Familie siedelte im Nordwesten der Ukraine in der Region Wolhynien und dort waren sie seit etwa 1860. Die kamen ursprünglich aus Preußen und aus dem Habsburger Reich. Als Präventivmaßnahme Stalins wurden die Ausländer in dieser Region -das waren auch polnische Menschen und deutschen Menschen - nach Kasachstan deportiert. Und so kamen sie eben nach Kasachstan. Sie hatten eine Woche Zeit, um zu packen und um etwas einzukochen. Es war August. Man hat einen Teil der Ernte einfahren können und dann sind sie in Viehwagons Richtung Nordkasachstan gefahren worden und konnten sich in diesen Zügen ganz gut selbstversorgen. In meiner Familie wurde erzählt, dass kein Mensch aus meiner Familie dabei ums Leben kam. Die waren ganz gut darauf vorbereitet. 1941 passierte die Deportation der Russlanddeutschen in Richtung Kasachstan innerhalb weniger Tagen oder Stunden. Bei den Wolgadeutschen hieß es innerhalb von 48 Stunden müssten sie ihr Gebiet verlassen. Und da kann man sich vorstellen, dass viel mehr Menschen bereits bei der Deportation gestorben sind. Wo kamen sie an in Nordkasachstan? Steppe klingt ja immer ganz romantisch, ist es aber tatsächlich nicht, weil man ums Überleben kämpft. Ich wurde in der Hauptstadt geboren. 40 Kilometer westlich der Hauptstadt wurden meine Großeltern hingebracht und mehr oder weniger auf einem freien Feld ausgesetzt. Es gab ein paar Lehmbaracken, die da standen. Das Dorf hieß einfach Nr. 28. Die ganzen Siedlungen, in die die Deportierten hinkamen, hatten keine richtigen Bezeichnungen, sondern waren einfach nur Punkte, die man entsprechend benannt hatte. Es ist eine sehr unwirtliche Gegend. Das bedeutet neun Monate lang Winter, mit bis zu minus 40 Grad mit sehr viel Schnee und der Sommer ist kurz, dafür sehr heiß und trocken. Steppenregion heißt, man hat da nicht die schönen großen Obstbäume, die sie aus der Westukraine kannten und das ist einfach ein völlig anderes Klima. Das heißt, die ersten Jahre in dieser Sondersiedlung, in die sie als Deportierte kamen waren sehr hart. Viele Menschen sind gestorben, weil der Winter zu kalt war. Diese Lehmbaracken, die da zur Verfügung standen mussten noch schnell mit einem Dach zu Ende gebaut werden. Die Familien lebten auf sehr engen Raum. Es waren 10 - 20 Leute auf ein bis zwei Zimmern und die mussten dann sehen, wie sie sich selbst versorgen. In diesen Sondersiedlungen lebten meine Großeltern, genau wie auch alle anderen Russlanddeutschen, de facto bis 1956, bis dann dieser Status der Kommandantur gefallen war. Kommandantur bedeutet, dass meine Großeltern tatsächlich bis Anfang 1956 diese Siedlung nicht ohne schriftliche Erlaubnis verlassen durften. Sie mussten sich regelmäßig per Unterschrift bei dem Kommandanten, der für dieses Dorf zuständig war, melden und bewiesen, dass sie wirklich vor Ort sind. Verbannung hieß dann auch leider Verbannung auf Lebenszeit. Die ist dann in den 60er Jahren juristisch gefallen, aber tatsächlich sind mir keine Familien aus meinem kasachischen Dorf bekannt, die danach in die Ukraine zurückgekehrt sind. Denn es ist klar, dass sobald die Deutschen deportiert worden waren Menschen aus anderen Teilen der Ukraine oder generell aus anderen Regionen der Sowjetunion stammten und in diese deutschen Dörfer kamen und mussten dort ihr Leben beginnen. Das heißt, die Häuser meiner Großeltern waren entweder durch andere Menschen besetzt oder es gab sie nicht mehr. Mein Großvater ist tatsächlich 1968 nochmal in die Ukraine, in sein Heimatdorf gefahren. Sein Haus stand nicht mehr. Er hatte auch nicht die Absicht gehabt zurückzukehren, weil das nach so langer Zeit schwierig ist nochmal neu zu beginnen. Meine Großeltern sind in Nordkasachstan geblieben und meine Eltern wurden dort geboren. Wir hatten dann im Zuge der neuen Politik in den 1980er Jahre und im Zuge der Perestroika Möglichkeiten nach Deutschland umzusiedeln. Wie kam denn deine Familie nach Kasachstan? Bei euch ist es ein bisschen anders.

Edwin: Meine Vorfahren väterlicherseits lebten in der Südukraine, bevor sie dann noch zu Zarenzeit freiwillig als Siedler in die sibirische Steppe nahe der kasachischen Grenze umgesiedelt sind, weil sie neues Land gesucht haben. Das ist die andere Perspektive, wie einige Russlanddeutsche ihr Leben in Sibirien und Zentralkasachstan auch erlebt haben. Es gibt diese starke Repressionsperspektive, aber es gibt auch eine Perspektive der freiwilligen Siedlerbewegung in diese Regionen, denn ungefähr bis zu den 1930er Jahren, als die ersten Zwangsumsiedlungen eingesetzt haben – es waren ja nicht nur Deutsche betroffen, sondern ebenso viele verschiedene andere Minderheiten – gab es auch diese freiwillige Siedlerbewegung. Insofern haben wir eine Geschichte, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hat und diese hatte aus der Perspektive der Kasachen eine koloniale Ausrichtung, denn das war ein Verdrängungsprozess. Die russische Regierung meinte dieses aus ihrer Sicht unterentwickelte Land zu modernisieren, indem christliche, weiße, europäische Siedler in Gebiete angesiedelt wurden, die davor von kasachischen Nomaden meistens als Weidegebiete genutzt wurden. Die Kasachen, die an den großen Flüssen in den nördlichen Gebieten Kasachstans gelebt haben, mussten mit ihren Viehherden in die Tiefen der Steppe ausweichen.

Kasachstan war spätestens erst im 19. Jahrhundert unter kompletten Einfluss Russlands gekommen. Und es hatte sowieso eine komplizierte Geschichte, denn eine Staatlichkeit im modernen Sinne, hatte Kasachstan erst 1990 erlangt. In der Geschichte gab es verschiedene Formen der Staatlichkeit der Kasachen. Es waren meist eher lockere Konföderation von Stämmen oder Familienverbänden und die standen immer zwischen großen imperialen Projekten der Chinesen, Mongolen, Russen, oder auch im Süden von islamischen Khanaten und Emiraten. Insofern fing die Geschichte der Russlanddeutschen und der Kasachen mit diesem kolonialen Verdrängungsprozess an.

Die russische Regierung hat die Steppen Kasachstans schon relativ früh als ein Gebiet für Strafkolonien für sich entdeckt. Bereits im 19. Jahrhundert waren solche heute prominenten Persönlichkeiten dort als Sträflinge interniert, wie zum Beispiel der Schriftsteller Fjodor Dostojewskij oder der ukrainische Volksdichter Taras Schevchenko. Diese Perspektive Kasachstan als Strafkolonie zu nutzen, wurde von den Sowjets übernommen. Und das was Iras Familie widerfahren ist, das erlebten mehr als 400.000 Angehörige der deutschen Minderheit, die 1941 nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion aus den westlichen Gebieten nach Zentralasien, vor allem nach Kasachstan, verschleppt wurden. Der große Teil kam dabei aus dem Wolgagebiet, ein erheblicher Teil kam aus Gebieten der östlichen Ukraine, aus dem Kaukasus, von der Krim. Insofern haben wir eine Bevölkerungsgröße vor der Zwangsmigration von ungefähr 100.000 Deutschen, die da freiwillig gesiedelt haben und dann kamen etwa 440.000 noch dazu. Und so haben wir ungefähr eine halbe Millionen Angehörige der deutschen Minderheit, die auf dem Gebiet des heutigen Kasachstans erst im Laufe der 1940er Jahre angekommen sind.

Ira hatte die Kommandantur erwähnt. Das ist ein Sonderaufsichtsregime gegenüber diesen unliebsamen Minderheiten gewesen, denen man Illoyalität unterstellt hatte. Man hatte in ihnen eine Gefahr für das sowjetische System im Krieg, aber auch vor und nach dem Krieg gesehen. Und die Arbeitsarmeen, das waren Zwangsarbeitslager für diese Minderheiten. In diese wurde man mobilisiert, nicht weil man etwas konkretes verbrochen hatte, sondern weil man Angehöriger einer potentiell illoyalen Minderheit war. Offiziell wurde dieser Arbeitsdienst von den sowjetischen Behörden als Beitrag im Kampf im Zweiten Weltkrieg hinter der Front deklariert. Aber freiwillig war er nicht. Das heißt diese Zwangsarbeit wurde auf der Grundlage der GULAGs gestaltet, die es seit den 1920er Jahren in Kasachstan gab. Kasachstan gehörte besonders im Norden und im Zentrum zum Archipel GULAG, den man eher mit Nordrussland in Verbindung bringt. Auf einem erheblichen Territorium Kasachstans war eine Infrastruktur aufgebaut worden, mit der Stalin die Industrialisierung des Landes seit den 1920er / 1930er Jahren betreiben wollte. Im Zweiten Weltkrieg wurde diese Grundlage genutzt, um unliebsamen Minderheiten zu internieren. Die Sonderaufsicht dauerte bis 1956. Die wurde angeblich auf Grund des Besuchs von Konrad Adenauer aufgehoben, allerdings gibt es keine Dokumente, die das tatschlich nachweisen. Konrad Adenauer ging es um die deutschen Kriegsgefangen, die auch zu großen Teilen in Kasachstan interniert waren.

Die teilweise Rehabilitierung erfolgte 1964. Man hatte diesen Generalverdacht, dass sie illoyal wären mit dem Zusatz aufgehoben, dass sie in ihre Heimatgebiete nicht zurückkehren dürfen. Das wurde erst 1974 aufgehoben und ab diesem Zeitpunkt konnten die Menschen wieder zurückreisen. Das haben aber die wenigsten gemacht, denn eine ganze Generation ist bereits in der kasachischen Steppe großgeworden. 1960 war Kasachstan ein Boom-Land, eine Region, in der staatlicherseits sehr viel in die Entwicklung der Landwirtschaft investiert wurde. Die Neulandgewinnung. Insofern befanden sich die Russlanddeutschen in diesem Hotspot. Es war damals prestigeträchtig in dieser Region zu leben, weil es dort Arbeit gab und einen gewissen Wohlstand, den die Russlanddeutschen dann auch im Laufe der 1960er Jahre erlangt haben. Ira, du warst ja auch mal in Kasachstan und hast dort so ein Lager besucht, dieses Lager ALZhIR, glaube ich. Welchen Eindruck hattest du und wie geht die heutige Gesellschaft in Kasachstan mit diesem schwierigen Erbe um?

Ira: Ich war das letzte Mal 2017 in Kasachstan und ich hatte die Zeit genutzt, um zu diesem Lager zu fahren. Es ist ein Lager, in dem unter Stalin Frauen interniert waren. Man hat daraus ein Museum gemacht und dort einzelne Schicksale von Frauen gezeigt, die dort interniert worden waren. Man kann dort einen Wagon sehen, mit dem die Frauen dahingebracht worden sind und auch wie die Zellen ausgesehen haben oder wie die Frauen verhört worden sind. Es gibt da zum Beispiel so einen Stuhl, der sehr lange Stuhlbeine hat, so dass die Beine der verhörten Person baumeln mussten. Sie hatten keine Möglichkeit sie abzustellen. Auf diese Weise wurden die Frauen ohnmächtig gemacht, oder man hat die Qual des Verhörs dadurch erhöht. Am Ende kann man noch einen Film ansehen, wo Nasabajew (der ehemalige Präsident Kasachstans) mit den Besuchern spricht und sagt, dass es ganz wichtig sei, dass über diese stalinistischen Verbrechen gesprochen wird, und dass man sie weiterhin aufklärt. Das hat mich sehr beeindruckt, zum einen, dass dieser Teil der sowjetischen Geschichte, der auf kasachischem Boden gespielt hat, tatsächlich eine Rolle spielt und man darüber spricht und versucht, es aufzuarbeiten. Und zum anderen sind die Archive in Kasachstan frei zugänglich. Wenn ich zum Beispiel etwas über die Gulaghaft meines Großvaters erfahren möchte, der 1938 in Kasachstan verhaftet und für 9 Jahre dann nach Magadan geschickt worden ist, dann habe ich die Möglichkeit dazu. Das ist eben in der Russischen Föderation nicht der Fall. Wenn ich da versuchen würde, an die KGB-Akten irgendwelcher hypothetischer Verwandten zu kommen, wäre das nicht möglich. Aber immerhin sind in der Ukraine die Archive geöffnet. Das heißt, ich hatte die Möglichkeit in der Ukraine zu meiner Familie zu forschen. Das ist natürlich jetzt angesichts des Krieges eine Katastrophe, dass Archive zerstört werden und manche Menschen, die noch nicht die Möglichkeit hatten, nach ihren Vorfahren zu suchen und mehr über sie zu erfahren, diese Gelegenheit vielleicht nie mehr haben werden. Ich finde, den Umgang Kasachstans mit der Sowjetgeschichte nach wie vor beachtlich und das ist ein Unterschied zur Russischen Föderation.

Edwin: Ich finde auch, dass es für die Gesellschaft eine Herausforderung ist: Diese Repressionslandschaft wurde damals von der Sowjetregierung eingerichtet und war keine Erfindung der Kasachen. Aber sie haben dieses Erbe und waren ja auch selbst stark betroffen. Ich erinnere nur an die Zwangskollektivierung in den 1930er Jahren, bei der ein Drittel der Kasachen entweder ums Leben gekommen ist oder dauerhaft ausgewandert ist. Durch unsere Beschäftigung mit der Ukraine in der Öffentlichkeit, wissen wir, wie wichtig der ukrainischen Gesellschaft die Aufarbeitung des Holodomor ist. Und ein ähnlicher Prozess wie der Holodomor fand im Prinzip zur gleichen Zeit auch in Kasachstan statt und hatte unter den Kasachen gehabt einen größeren Anteil an Opfern gemessen an der Gesamtbevölkerung, als unter Ukrainern. Ohne das zu werten oder zu vergleichen, aber ich finde, da könnten wir in unseren Aufarbeitungsdebatten grundsätzlich mehr mal auf die Aufarbeitung des Stalinismus schauen, denn es betrifft sehr viele Menschen, die hier in Deutschland leben. Hier in dem konkreten Fall die Russlanddeutschen und ihre Kollektiverfahrung, aber natürlich auch viele Ostdeutsche und andere Aussiedlergruppen, die ihre Erfahrungen mit den sozialistischen totalitären Regimen gemacht haben. Und dass wir mehr Sensibilität entwickeln.

Lasst uns aber jetzt in die 1970er Jahre springen, wo sich das Leben dieser Menschen eher konsolidiert hatte, die die Perspektive aufgegeben haben, irgendwohin zurückzugehen, sondern sich in Kasachstan einrichten wollten. Ich steige mal mit einer kurzen Episode ein. 1979 stand Kasachstan kurz davor eine autonome Republik der Deutschen in Kasachstan zu gründen. Das war eine Überlegung der Kommunistischen Partei Kasachstans für die deutsche Minderheit einen Identifikationswert einzurichten. Es war alles Mögliche vorbereitet worden, es wurden auch schon Personalien genannt, aber es gab in der einheimischen Bevölkerung massiven Widerstand gegen dieses staatliche Projekt. Das deutet für mich persönlich darauf hin, dass es nicht irgendwie eine antideutsche Stimmung war, und so wird es auch von Historikern nicht beschrieben, sondern es ist dieser Geist der Kasachen, den wir jetzt auch im Januar (2022) wieder gesehen haben. Nämlich, dass sie in bestimmten Situationen massiven Protest gegen die eigene Regierung äußern. Wir haben 1986 diesen massiven Aufstand in Alma-Ata gehabt, als die Regierung in Moskau einen russischstämmigen als Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei in Kasachstan einsetzen wollte und einen beliebten kasachischstämmigen abgesetzt hat. Es gab in der 1950er Jahren einen Protest in meiner Geburtsstadt Temirtau, der tabuisiert wurde und von dem man kaum etwas weiß. Da sind Arbeiter auf die Barrikaden gegangen und haben es sogar so weit gebracht, dass sich für mehrere Tage die Staatsgewalt aus dieser Stadt zurückziehen musste. Es gab furchtbare Plünderungen, es gab auch viele Opfer. Aber ich komme zurück auf 1979. Für mich war das die Äußerung der kasachischen Befindlichkeit, dass man wieder irgendwas beschlossen hat, ohne sie zu fragen. Allerdings hatte man versucht das abzudämpfen und hatte den Deutschen in Kasachstan eher eine kulturelle Autonomie eingerichtet. So wurde 1980 in Temirtau, im Gebiet Karaganda ein Deutsches Theater gegründet, wo ich aufgewachsen bin. Meine Eltern waren da Schauspieler und Mitbegründer dieses Theaters. Es gab eine deutschsprachige Zeitungsredaktion, die Freundschaft, die heute Deutsche Allgemeine Zeitung heißt. Dann gab es eine deutsche Radioredaktion. Es gab später dann eine Redaktion beim kasachischen Staatsfernsehen, mit einer wöchentlichen Sendung in deutscher Sprache, in der es auch um Belange der deutschen Minderheit ging, nicht einfach nur um allgemein über die deutsche Sprache und Kultur zu berichten, sondern da ging es ganz konkret um die Belange der deutschen Minderheit. Dann gab es auch pädagogische Hochschulen, die Angehörige der deutschen Minderheiten ausgebildet haben, um Deutsch als Muttersprache an Schule in Ortschaften zu unterrichten, wo es kompakte Siedlungen der deutschen Minderheit gab.

Wir haben auf der einen Seite eine gewisse politische Toleranz und auch ein Bemühen der Kommunistischen Partei gesehen, der deutschen Minderheit bestimmte Perspektiven für das Bleiben zu eröffnen. Auf der anderen Seite war das oktroyiert. Das heißt man hat die Initiative weniger aus der Zivilgesellschaft aufgenommen, sondern man ist nach „Schema F“ vorgegangen.

Es gab einerseits eine Bewegung, die die Wiederherstellung der Wolgaautonomie gefordert hatte. Die Menschen wollten wieder zurück an die Wolga gehen und da ihre Quasistaatlichkeit weiterleben. Auf der anderen Seite gab es diese Bewegung, die aussiedeln wollten. Ein Spezifikum für Kasachstan ist zudem, dass das konfessionelle Leben der Russlanddeutschen sich nach Kasachstan verlagert hat. Es gab ein weites Netz an Untergrundkirchen, besonders im baptistischen oder im freikirchlichen Bereich mit weitreichenden Kontakten und Dissidenten im Westen. Und es gab sowas wie ein „Vatikan in der Steppe“. Da haben sich die Katholiken der Sowjetunion – Polen, Litauer und die Deutschen – in diesem Verbannungsort zusammengetan und ein sehr reges und aktives katholisches Leben aufgebaut.

Jetzt sind wir in der Zeit angekommen, als Gorbatschow 1988 im Zuge von Perestroika und Glasnost den Sowjetbürgern die Reisefreizügigkeit gewährt hat. Das heißt, man konnte ab 1988 aus freien Stücken und ohne behördliche Schikanen oder künstliche Hürden frei aussiedeln. Und da setzte diese Aussiedlungswelle aus Kasachstan nach Deutschland ein. Ira, kannst du dich denn an die Zeit erinnern? Wie hast du denn die Aussiedlung erlebt und vor allem, was waren aus deiner Sicht die Motive deiner Eltern nach Deutschland auszusiedeln?

Ira: Noch einmal ganz kurz zum Sprachunterricht. Ich hatte auch Deutschunterricht in der Schule in Kasachstan. Die ersten drei Schuljahre war ich in Kasachstan und ich erinnere mich an diesen Deutschunterricht. Das ist mir gerade in den Sinn gekommen, als du das erzählt hast.

Bis 1992 war es so, dass man nachweisen musste, dass man Verwandte in Deutschland hat. Das war bei uns tatsächlich auch der Fall. Es war alles kompliziert, denn es war nicht nur so, dass 1936 meine Familie nach Kasachstan deportiert worden ist, sondern ein Teil meiner Familie ist in der Ukraine geblieben. Zum Beispiel die Schwester meiner Großmutter, also meine Tante Martha ist eben 1944 in den Warthegau gekommen, also ein Gebiet, dass heute zu Polen gehört, das damals aber deutsch besetzt war. Sie wiederrum kam dann später nach Sibirien, ihr Mann aber blieb in Deutschland. Auf diese Weise habe ich tatsächlich Verwandte in Deutschland, die seit dem Zweiten Weltkrieg schon in Deutschland leben. Unter anderem war das eine andere Tante von uns. Die hat für uns diesen Antrag gestellt und das hat, glaube ich, eineinhalb Jahre gedauert, bis meine Eltern die Zusage hatten, nach Deutschland auswandern zu dürfen und auch als russlanddeutsche Aussiedler anerkannt werden. Damals noch Aussiedler, ab 1993 heißt der Status Spätaussiedler. Das ist super verwirrend für jemand der nicht in diesem Thema ist. Warum Aussiedler, Spätaussiedler? Jetzt kennt ihr das Geheimnis. Ab 1993 hießen alle zugewanderten Russlanddeutschen Spätaussiedler und das ist bis heute so.

Edwin: Ich wollte noch sagen, dass meine Familie erst nach 1993 aussiedeln konnte, weil wir keine Verwandten in Deutschland hatten.

Ira: Genau das ist der Punkt. Deswegen habe ich das nochmal erwähnt, dass man Verwandte gebraucht hat. Um ehrlich zu sein: Meine Eltern wären nicht ausgereist. Wir haben nämlich in einem Dorf gelebt, wo die allermeisten Menschen Nachkommen oder immer noch die Deportierten aus diesen Dörfern der Westukraine, aus Wolhynien waren. Das heißt, wir waren eine relativ kompakte deutsche Siedlung. Deswegen hatten wir auch beispielsweise den Deutschunterricht in der Schule. Deswegen hast du auf den Straßen oftmals Deutsch gehört, meine Eltern haben Deutsch zu Hause gesprochen. Sie hatten keine Ambitionen nach Deutschland auszuwandern, weil meine Eltern Menschen sind, die Veränderung nicht mögen. Das alles hat ihnen Angst gemacht und sie hatten es auch nicht schlecht auf dem Dorf, wo sie einen eigenen Bauernhof und Arbeit hatten. Wir drei Kinder waren gut versorgt. Weil es alles Deutsche waren, fing das Dorf ab Mitte/ Ende der 1980er Jahre an auszuwandern. Die allerersten, die ausgewandert waren, waren die Gläubigen, die baptistische Familien. So waren unsere Nachbarn plötzlich nicht mehr die Müllers und die Schröders, sondern Menschen, die aus der Mongolei oder aus anderen Teilen Kasachstans in unser Dorf gezogen waren. Meine Eltern haben ihr soziales Umfeld peu à peu verloren. Auch ihre Kultur, denn mit wem hätten sie noch Deutsch sprechen können, oder Geschichten von ihren Eltern aus der Ukraine austauschen können? Und das war für meine Eltern der erste Grund auszuwandern. Der zweite Grund war, dass in der Perestroika-Zeit natürlich die Ungewissheit da war, was gerade mit dem Land passiert. Und als Teil der deutschen Minderheit hat man ja einige Jahre vorher unter Stalin die Erfahrung gemacht, dass wenn ein Land im Umbruch ist, die Minderheiten meist den Kürzeren ziehen. Und die deutsche Minderheit war ja immer noch eine Minderheit in Kasachstan. Man wusste nicht, ob man wieder diskriminiert, enteignet oder wieder deportiert wird. Das hat sicherlich auch eine Rolle gespielt. Dazu kamen wirtschaftliche Gründe. Denn in der Perestroika-Zeit war es so, dass Löhne plötzlich nicht ausgezahlt worden waren. Es herrschte eine starke Inflation. Bei meinen Eltern war es zum Beispiel so, dass sie einen Betrag im Laufe ihres Berufslebens gespart hatten – sie waren 37, als sie 1992 nach Deutschland ausgewandert sind – und von diesem Betrag hätte man sich in der Sowjetunion ein Auto kaufen können, sofern man an eines gekommen wäre. Durch die Inflation war dieses Geld plötzlich so viel Wert, dass man drei Töpfe und drei Flaschen Wodka dafür kaufen könnte. All diese Erfahrungen haben auch dazu geführt, dass man sich gefragt hat, wie man seine Kinder aufwachsen lassen möchte, dass man ihnen eine Sicherheit geben möchte, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Das waren so die Hauptgründe für meine Familie. Ich als Kind – ich meine ich war neun, als wir ausgewandert sind – wie habe ich das wahrgenommen? Ich habe jeden Abend tatsächlich zu Gott ein Bitte geschickt. Ich bin kein religiöser Mensch, aber als Kind dachte ich, dass Gott jemand ist, der uns vielleicht helfen kann und habe immer gesagt: Lieber Gott, mach bitte, dass unser Vyzov bald kommt! Also unsere offizielle Bestätigung, dass wir ausreisen dürfen, weil Deutschland für mich das Land war, wo es einfach geile Süßigkeiten gab und richtig cooles Spielzeug, was es in der Sowjetunion nicht gab und durch die Verwandten, die wir in Deutschland hatten bekommen haben, die uns manchmal Pakete geschickt haben mit Süßigkeiten und Spielzug. Das war für mich als Kind die Motivation auszuwandern. Das heißt, als wir dann 1992 nach Süddeutschland gekommen sind, ich bin im Odenwald aufgewachsen, war alles für mich spannend. Die deutsche Sprache konnte ich ja schon ein bisschen, so konnte ich mich sehr schnell integrieren, bzw. assimilieren, wie ich heute bewusst sage, denn ich habe meine russlanddeutsche Identität, bis ich Mitte 20 war komplett aufgegeben, weil ich in der deutschen Mehrheitsgesellschaft aufgehen wollte und nicht als Russlanddeutsche auffallen wollte. Bei euch war alles ein bisschen später und zeitversetzt. Magst du dazu noch kurz was sagen?

Edwin: Wie ich vorhin schon erwähnt habe, bin ich im Kontext dieses Theaters großgeworden und dieses Theater entwickelte sich als die größte institutionell geförderte Einrichtung für und von der deutschen Minderheit, zu einer Drehscheibe für alle möglichen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Aktivitäten. Meine Eltern waren eher auf der Seite derjenigen, die die Bleibeperspektive stärken und aufzubauen wollten. Aber auch mit bestimmten Forderungen an die Politik, wie die Rehabilitierung, die Wiederherstellung der Rechte, der kulturelle Wiederaufbau. Sie waren sehr viel auf Reisen, sie haben nicht nur in Kasachstan, sondern Orte überall in der Sowjetunion angesteuert, wo es diese deutsche Minderheit gab. Sie haben sie aufgeklärt. Nicht nur Theaterstücke gezeigt, sondern es gab auch Kundgebungen, politische Veranstaltungen und alles Mögliche. Als dann die Dämme gebrochen sind und die Menschen, wie in Iras Fall, mit der Familie von heute auf morgen ausgesiedelt. So waren die Dörfer und Ortschaften plötzlich leer. Es gab kein Publikum mehr, für das man arbeiten konnte und insofern ist dann diese Idee innerhalb von ein paar Jahren verpufft. Darüber haben wir in der Podcastfolge mit Bolat Atabajew gesprochen, der künstlerische Leiter des Theaters war. Ein ethnischer Kasache, aber er hat sich sehr stark für die Belange der deutschen Minderheit als Theatermacher eingesetzt. Und er hatte darüber berichtet, wie sie dann auf Gastspielreisen in Ortschaften gekommen sind, bei denen sie im Jahr davor noch volle Säle erlebt haben, und jetzt nur noch nun drei alte Leute dasaßen. Die Menschen waren plötzlich weg. Wenn wir die Migrationswelle betrachten, so ist der höchste Ausschlag der Aussiedlung nach Deutschland 1994 gewesen. Das ist das Jahr, in dem ich mit meiner Familie kam.

Über die 1990er Jahre und Anfang der 2000er kamen vor allem Russlanddeutsche aus der Republik Kasachstan nach Deutschland. In den letzten Jahren kommen vor allem Menschen aus der Russischen Föderation nach Deutschland. Das hat unterschiedliche Gründe. Und zwar hat die deutsche Bundesregierung in der Russischen Föderation ganz bewusst für die deutsche Minderheit Bleibeperspektiven aufgebaut, damit sie nicht nach Deutschland aussiedelt. Man hatte Projekte gefördert, die GTZ, die heutige GIZ, hatte Wirtschaftsobjekte mitaufgebaut, damit die deutsche Minderheit eine wirtschaftliche Grundlage für ihr Dasein hat. Solche ähnlichen Projekte gab es in Kasachstan nicht. Ich vermute, es hätte vielleicht diesen Prozess der Aussiedlung ein bisschen aufgeschoben, wenn die deutsche Bundesregierung damals in Kasachstan ähnliches, wie in der Russischen Föderation geleistet hätte. Ich weiß nicht, was die Ursache dafür war, aber wahrscheinlich war es ein Prioritätsgefälle, das wir heute auch bei unserem Blick in den Osten kritisch analysieren müssen. Wir sehen eben Russland als den großen und den wichtigen Staat und die anderen: naja.

Die heutige deutsche Minderheit in Kasachstan ist voll in die kasachische Gesellschaft integriert. Sie wird nicht strukturell ausgegrenzt. Heute erleben sie wahrscheinlich Anfeindungen auf der zwischenmenschlichen Ebene, sowas gibt es natürlich leider überall. Auch bei uns. Aber es gibt keine strukturellen Beeinträchtigungen. Es leben ungefähr zwischen 180.000 und 220.000 Deutsche in Kasachstan. Ich hatte ja vorhin die Zahl 1 Million von 1989 genannt. Wenn man die Demographie herausrechnet, können wir uns ungefähr vorstellen, wie viele Menschen weggegangen sind. Sie sind organisiert in einem Dachverband, die Wiedergeburt Kasachstans. Die haben ungefähr 20 regionale Organisationen, wo sie sich vielen verschiedenen Themen, wie der Kultur und Wirtschaft widmen und versuchen die Rolle der Brückenbauer der zwischengesellschaftlichen, zwischenstaatlichen Beziehungen auch mitzugestalten. Es gibt ein bilaterales Regierungsformat - die Deutsch-Kasachische Regierungskommission, in der dann einmal im Jahr diese Projekte verhandelt werden. Und diese Arbeit, die gemeinsam vom kasachischen und deutschen Staat gefördert wird, wird auf der zivilgesellschaftlichen Ebene, flankiert durch die Politik sehr wichtig genommen und spielt heute auch eine sehr große und prominente Rolle, wenn es dann um auswärtige Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Kasachstan geht. Und es gibt immer noch dieses Deutsche Theater in Almaty. Es gilt als eines der fortschrittlichsten Theater in Kasachstan, weil sie immer die Möglichkeit haben, auf die modernste europäische oder deutsche Theaterkultur zurückzugreifen und Kontakte und Austausch zu pflegen. Es gibt die Deutsche Allgemeine Zeitung mit dem Redaktionssitz in der früheren Hauptstadt Almaty. Im Grunde geht es den Deutschen entsprechend den allgemeinen Verhältnissen dort eigentlich ganz normal.

Ira: Das würde ich für meine Verwandte auch so bestätigen. Ich habe entfernte Verwandte, die in der Hauptstadt leben und die habe ich in den letzten Jahren zweimal besucht. Denen geht es gut, sie denken auch nicht an die Auswanderung. Als im Januar (2022) die Unruhen in Kasachstan waren, da war mein erster Impuls, dass sie jetzt alle raus müssten. Dass sie sofort ihre Anträge stellen müssten und als Spätaussiedler anerkannt werden und nach Deutschland kommen. Da war ich tatsächlich so ein bisschen panisch. Aber die Lage hat sich ja zum Glück beruhigt und sie sehen ihre Perspektive immer noch in Kasachstan und sie fühlen sich als Kasachstaner. Das ist ihre Heimat und sie kommen da zurecht. Es ist alles nicht optimal. Eine Cousine von mir, die hat das Studium da beendet und ist jetzt im Berufseinstieg und sie meint, dass es schwierig sei an gute Positionen zu kommen. Man müsse immer jemand kennen. Korruption und Vetternwirtschaft ist für das Land leider auch ein Problem. Aber im Großen und Ganzen lässt es sich da ganz gut aushalten. Ich weiß gar nicht, was aktuell die Herausforderungen für die deutsche Minderheit in Kasachstan sind, ob es da etwas Spezielles gibt. Natürlich gibt es einen Teil der Bevölkerung, der als Spätaussiedler anerkannt werden möchte und nach Deutschland umsiedeln möchte. Dazu muss man Deutschkenntnisse nachweisen und natürlich seine Herkunft auch nachweisen können. Aber kannst du was dazu sagen, welche Herausforderungen es aktuell gibt?

Edwin: Aus Gesprächen mit den Vertretern der deutschen Minderheit höre ich immer als Topthema das Thema der sprachlichen Kompetenzen. Die deutsche Sprache als Fremdsprache wurde sukzessiv aus dem Schulsystem herauskomplimentiert. Aus meiner Sicht hat es nicht unbedingt mit einer bestimmten Abneigung gegen das Deutsche zu tun, sondern Deutsch ist eben nicht mehr die globale Sprache und wenn es um Fremdsprachenunterricht in der Schule geht ist es nicht auf der Prioritätenliste ganz oben. Zudem gibt es die „Politik der zwei Sprachen“, Kasachisch als die erste Staatssprache und Russisch eben als die größte Minderheitensprache. Das müssen die Behörden auch im Schulunterricht gewährleisten. Und dann gibt es noch wenig Platz für eine Fremdsprache. Das ist dann natürlich Englisch. Und wenn es ein Gymnasium ist, oder eine weiterführende Schule, dann gibt es noch die Möglichkeit eine zweite Fremdsprache freiwillig zu wählen und das ist dann auch nicht unbedingt Deutsch. Das ist zunehmend zum Beispiel Chinesisch oder auch andere globale Sprachen. Das ist wahrscheinlich die größte Herausforderung für sie, weil im Erhalt der deutschen Sprache sehen sie den Erhalt ihrer Identität als eine Minderheit.

Ich hätte noch ein paar Tipps, um vielleicht zu zeigen, wo man noch weitere Informationen holen kann. Über historische Hintergründe können Sie sich kompetent aus Schriften und Publikationen von Alfred Eisfeld informieren. Das ist der profundeste Historiker, der sich mit den Deutschen in Kasachstan heute immer noch beschäftigt. Er lebt in Göttingen und leitet dort den Göttinger Arbeitskreis. Das ist eine akademische Einrichtung, die sich mit der Erforschung der Deutschen im östlichen Europa beschäftigt. Und die Publikation bei der Bundeszentrale für politische Bildung von Viktor Krieger, die einen sehr guten allgemeinen Überblick gibt. Belletristischer Natur kann ich Ula Lachhauers Roman „Ritas Leute“ empfehlen. Das ist ein eher dokumentarischer Roman, über eine Familie, die als Aussiedler aus Kasachstan nach Deutschland gekommen sind. Dann ein Roman eines „echten“ russlanddeutschen Autors, der in Kasachstan sehr bekannt war. Er ist vor ein paar Jahren verstorben. „Das Haus der Heimatlosen“ von Herold Belger. In dem Roman wird die Zeit kurz nach der Deportation behandelt und das Leben in den Sondersiedlungen. Der Hauptprotagonist ist ein Dorfarzt, der von der Wolga dorthin deportiert wurde. Und ein relativ neuer Roman von Eleonora Hummel: „Die Wandelbaren“. In dem geht es um die Zeit der 1970er und 1980er Jahre in Kasachstan und dieser politische Aufbruch und auch diese Fragen zwischen Bleiben oder Gehen. Der Hintergrund dieses Romans bildet das Deutsche Theater in Kasachstan. Ein paar digitale Projekte sind, neben diesem Podcast, zwei Webdokumentationen aus meinem Bereich, aus dem Kulturreferat, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind. In der einen Dokumentation setzten wir uns vergleichend mit den Perspektiven der Russlanddeutschen, die nach Kasachstan deportiert wurden und der Tschetschenen, Tschetscheninnen, die auch nach Kasachstan deportiert wurden, auseinander. Die entstand letztes Jahr zusammen mit Memorial Deutschland und gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung. Und in der anderen Webdokumentation geht es wiederum um das Deutsche Theater in Kasachstan, mit der Fragestellung des Beliebens oder Gehens. Sie spielt eher in der Epoche um das Jahr 1990.

Ira: Und jetzt kommen wir zu dem Thema Brückenbauer. Inwiefern Menschen, wie Edwin und ich tatsächlich Brückenbauer zwischen Deutschland und dem jetzigen Kasachstan sind. Es ist eine Rolle, die uns oftmals von außen so zugeschrieben wird. So als müssten wir Brückenbauer sein. Viele glauben, Russlanddeutsche kämen ja alle aus Russland und das wir auch Brückenbauer zu Russland sein müssten oder Russland auf besondere Art und Weise verstehen, was ja nicht der Fall ist. Ich kann das vielleicht aus meiner persönlichen Perspektive kurz beschreiben. Natürlich kann ich diese Rolle annehmen, wenn ich möchte, aber ich finde nicht, dass per se alle Russlanddeutsche irgendwelche Brückenbauer sein müssten. Denn man muss bedenken was unsere Geschichte ist. Wir sind deportiert worden und wir sind nicht freiwillig nach Kasachstan gekommen. Von daher fühlt die Generation meiner Eltern zum Beispiel keine Verbindung zu Kasachstan. Es ist nicht in deren Interesse jemals wieder kasachischen Boden zu betreten. Zumal die letzten Eindrücke, die sie von dem Land die sind, als sie 1992 das Land verlassen hatten. Zum anderen einfach die Geschichte: 1936 Deportation, 20 Jahre dann in dieser Sondersiedlung schuften. Das ist halt das Familiengedächtnis bei mir. Und so geht es vielen Russlanddeutschen und die möchten nicht zurück und sie fühlen auch keine Verbundenheit. Auch als jetzt die Unruhen Anfang Januar in Kasachstan waren. Klar war das interessant für meine Eltern, aber es ist jetzt nichts, wo sie sich in irgendeiner Form besonders positionieren würden. Für mich wiederum – ich bin eben eine andere Generation – ist es ein bisschen anders. Ich finde das Land interessant und ich sehe, dass ich mehr als jemand, der nicht diesen Hintergrund hat, die Möglichkeit habe, mich als Brückenbauer zu positionieren. Sei es wirtschaftlich, politisch oder kulturell. Es haben sich für mich bisher noch nicht so viele Projekte mit Kasachstan gefunden, aber potentiell ist es möglich. Ich sehe das wirklich sehr individuell. Vielmehr positioniere ich mich in Richtung Ukraine, weil ich zu diesem Land als Erwachsene eine große Bindung in den letzten fünf Jahren aufgebaut habe. Aber nicht nur auf Grund meiner Erfahrungen, sondern weil es auch die Heimat meiner Großeltern war und das ist etwas, das auch sehr tief sitzt. Wie siehst du denn das mit dem freiwilligen und unfreiwilligen Brückenbauen?

Edwin: Es ist auf jeden Fall Potential da. Menschen haben ein unterschiedliches Verhältnis zu ihrem Herkunftsland. Es gibt Menschen, die zum Beispiel sehr ausgeprägte familiäre Beziehungen dorthin haben, oder auch wirtschaftliche Beziehungen aufgebaut haben. Es gibt etliche Unternehmer, die diesen Hintergrund haben, die sich zwischen Deutschland und Kasachstan bewegen, als ob das zwischen Deutschland und Frankreich wäre. Aber wir dürften das nicht überbewerten. Es gibt viele Anknüpfungsmöglichkeiten im kulturellen Bereich, über die wir uns mit dieser Gesellschaft austauschen können und uns immer wieder bewusst machen können, wie viele Gemeinsamkeiten wir dann doch mit Kasachstan haben. Das ist nicht irgendein Land dahinten in Asien, sondern wir haben doch sehr viele Gemeinsamkeiten. Im kulturellen, im historischen und zunehmend im politischen Bereich. Die Europäische Union hat eine gewisse Partnerschaft mit Kasachstan und betrachtet das als Projekt der Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union. Insofern wäre das aus meiner Sicht auch immer wieder wichtig, sich auch aus der europäischen Perspektive zu überlegen, welche Möglichkeiten, welches Potential wir haben, insbesondere in der aktuellen Situation. Vor zwei Wochen habe ich eine Meldung des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft gelesen. Der Vorsitzende hatte mitgeteilt, dass Kasachstan in der kürzeren Perspektive ein wichtiger Standort für die Unternehmen wird, die sich jetzt aus politischen Gründen, auf Grund der Sanktionen aus Russland oder auch auf Grund des Krieges aus der Ukraine zurückziehen. Kasachstan ist dann die natürliche Alternative für diese Länder. Insofern wird Kasachstan auch in Zukunft wichtig bleiben, wenn nicht sogar noch mehr als es das davor bereits war.