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Russlanddeutsche Familienforschung - Migrationsgeschichte und Aufarbeitung

Familienforschung kann ein spannendes Hobby sein, das nie ein Ende findet. Genealogie bietet aber auch einen persönlichen Zugang zu historischen Themen und eröffnet breite Perspektiven auf allgemeine Geschichtsbereiche. Migrationen und Totalitarismuserfahrungen sind die beiden großen Begleithemen, wenn man sich mit russlanddeutscher Familienforschung beschäftigt.

Diese Folge ist ein Mittschnitt unseres digitalen Workshops zum Thema russlanddeutsche Familienforschung, den wir im April 2022 bei dem virtuellen Familienforschungsfestival Genealogica gehalten haben.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Ira: Wer unserem Podcast schon längere Zeit folgt, der weiß, dass Edwin und ich uns für Familienforschung begeistern. In dieser Folge sprechen wir darüber, wie wir überhaupt dazu kamen, nach den Wurzeln unserer russlanddeutschen Familien zu suchen. Außerdem geben wir Tipps, wo ihr Hilfe findet, wenn ihr in dieses Thema einsteigen wollt. Zum Beispiel verraten wir, welche Archive es in Deutschland und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gibt und wie unsere Erfahrungen in der Ukraine und Russland dazu sind? Am Ende der Folge verrät Edwin, woher sein Nachname Warkentin stammt und warum die Geschichte dieses Familiennamens beispielhaft für die europäische und deutsche Migrationsgeschichte ist.

Ira: Wir erzählen erst mal, wie wir überhaupt zur russlanddeutschen Familienforschung gekommen sind und was das mit der aktuellen Lage in der Ukraine zu tun hat. Wie war es denn bei dir, Edwin?

Edwin: Bei mir war es die Frage nach meinem Nachnamen. Dazu werde ich später noch mehr erzählen, denn es gibt jetzt eine Untersuchung einer Wissenschaftlerin der Humboldt-Universität zu Berlin, die zu der Migrationsgeschichte dieses vormals mecklenburgischen Nachnamens geforscht hat. Ich konnte mir nicht erklären, was der Nachname bedeutet. Wir haben als Angehörige der deutschen Minderheit in der Sowjetunion gelebt. Alle Verwandten und Bekannten, die auch Angehörige dieser Minderheit waren, hatten ganz normale deutsche Nachnamen: Schwarzkopf, Müller oder Schmidt. Wir sind mit unserem Nachnamen da herausgestochen. Man wusste nicht, was er bedeutet. So habe ich mich ungefähr vor fünfzehn Jahren, während meines Slawistikstudiums unteranderem mit Etymologie und mit alten slawischen Sprachen, wie dem ausgestorbenen Elbslawisch beschäftigt. Nach und nach bin ich in Selbstrecherchen zu den Ursprüngen dieses Nachnamens gekommen und hatte irgendwann den äußersten historischen Rand erreicht. Von dort aus habe ich versucht, die Migrationswege dieses Nachnamens nachzuvollziehen, um Antworten auf die Fragen zu finden, wie und warum meine Vorfahren migriert sind und was ihre Motive waren. So hat sich das in den letzten fünfzehn Jahren zu einem Hobby, aber auch einer Quelle meiner persönlichen Interessen für Geschichte entwickelt. Wie war es bei dir, Ira?

Ira: Ganz ähnlich. Allerdings nicht wegen meines Nachnamens, sondern weil ich mir während meines Studiums immer mehr Fragen dazu gestellt habe, warum ich Irina heiße. Ein Name, der ja in den meisten Ohren russisch klingt. Ich wurde aber gleichzeitig in der Sowjetrepublik Kasachstan geboren, aber heiße Peter mit Nachnamen, was wiederum deutsch ist. Dann hatte ich aufgeschnappt, dass meine Großeltern in der Ukraine gelebt haben. Das war für mich alles sehr verwirrend und irgendwann wollte ich das genauer wissen und habe angefangen, bei meinen Eltern nachzufragen. Großeltern hatte ich leider keine mehr – die waren alle Jahrgang 1910/ 1915 und sind bereits in der Sowjetunion gestorben. Dann habe ich ältere Verwandte ausfindig machen können, bin durch ganz Deutschland zu ihnen hingefahren und habe Information gesammelt. Ich fand das immer spannender und habe angefangen online zu recherchieren. Meine Vorfahren beiderseits sind Wolhyniendeutsche. Wolhynien ist eine Region in der Westukraine, die ungefähr zwei (Auto)Stunden westlich von Kyiv liegt. Ich habe diesen Namen vorher nie gehört und bin dann auf einen Verein gestoßen. Wolhynien.de heißt deren Portal. Das sind Familienforscher, die sich zusammengefunden haben und ganz viele Information zu dieser Gruppe an Menschen ausgetuscht haben, zu denen auch meine Großeltern gehört haben. So habe verschiedenen Datenbanken gefunden. Dabei habe ich doch immer wieder festgestellt, dass es eine besondere Herausforderung ist, zu Russlanddeutschen und ihrer Familiengeschichte zu forschen. Was ist denn das Besondere an unserer Geschichte, Edwin?

Edwin: Im Prinzip war das eine sehr lange Zeit der Tabuisierung der Geschichte und der Archive, die unter Geheimhaltung im Verborgenen geblieben sind. Nach der Deportation der Russlanddeutschen 1941 wurden sämtliche Quellen der Öffentlichkeit entzogen und so hatte man, wenn man sich mit der Familiengeschichte beschäftigen wollte, nur die unmittelbare Familie oder die drei, maximal vier Generationen, mit denen gesprochen werden konnte. In den Familien gab es Familienbibeln, in denen auf den letzten Seiten mehr oder weniger die letzten vier oder fünf Generationen handschriftlich aufgezeichnet wurden. Hier und da gab es vielleicht mal Personenstands- und Familienurkunden, aus denen die letzten drei oder vier Generationen rekonstruieren werden konnten. Mehr aber auch nicht.

Insgesamt gibt es nicht viele erschlossene Quellen, aber es gibt Online-Datenbanken. Denn ein Teil der Russlanddeutschen sind in den letzten hundertzwanzig Jahren nach Nordamerika migriert. Wolgadeutsche leben eher im mittleren Westen der USA, aber auch in Südamerika: in Argentinien und in Brasilien. Mennoniten leben zum großen Teil in Kanada. Die haben sich dort bereits vor Jahrzehnten vernetzt und haben ein großes Interesse an Familienforschung. Von dort aus gibt es Datenbanken, in denen viele Informationen gesammelt wurden, die frei zugänglich sind.

Ira: Es gibt diese Lücken in der Geschichtsschreibung, weil die Familiengeschichte einfach nicht in der Öffentlichkeit besprochen wurde. Die Geschichte der deutschen Minderheit hat in sowjetischen Geschichtsbüchern nicht stattgefunden – die hat einfach nicht mehr existiert. Oftmals wurden Familien auch durch die Deportation so weit auseinandergerissen, dass es auch gar keine Geschichtenerzähler, kein Weitertragen dieser Familiengeschichten mehr gab und man auch innerhalb der Familien Angst hatte, darüber zu sprechen. Deshalb gibt es in vielen Familien mit russlanddeutscher Migrationsgeschichte riesige Lücken. Ich kenne auch in meinem Alter viele, die sagen, dass sie aus Kasachstan sind. Dann frage ich immer nach den Großeltern und die sagen dann: Auch aus Kasachstan. Die wissen es einfach nicht, weil diese Lücken da sind. Man kann diese Lücken aber schließen. Du hast gemeint, dass viele deiner entfernteren Verwandten ausgewandert sind. Das war bei mir zum Teil auch der Fall. Für mich waren aber wichtigsten Quellen die Einbürgerungsunterlagen, die man im Bundesarchiv in Berlin finden kann. Dazu kann man digital erste Hinweise auf der Webseite odessa3.org finden. Das war für mich die größte Quelle, weil da Taufeintragungen sind, die aus den Kirchenbüchern in St. Petersburg entnommen worden sind. Für Kolonien meiner Vorfahren haben ich herausgefunden, dass irgendwann im 19. Jahrhundert eine meiner Urgroßmütter zur Welt gekommen ist, oder dass meine Urgroßeltern ihre Ehe geschlossen haben. Das kann online recherchiert werden. Was dabei auch interessant ist, dass ein Teil meiner Familie während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht „Heim ins Reich“ gebracht wurde und im Warthegau gelandet ist. Sie wurden dort eingebürgert und galten als Volksdeutsche. Diese Einbürgerungsurkunden sind zum Teil erhalten und man kann sie im Bundesarchiv in Berlin einsehen, sofern man nachweisen kann, dass man verwandt und dazu legitimiert ist. Aber wenn man das schafft – und das habe ich in vielen Fällen innerhalb meiner Familie hinbekommen, weil ich direkte Nachkommen kenne, die mir diese Erlaubnis gegeben haben, für sie zu forschen – kann man das Ganze fotografieren und kopieren lassen. Dann hat man wirklich einen Schatz vor sich. Denn da sind Bilder von diesen Menschen, die Anfang der 1940er Jahre eingebürgert worden sind. Da sind Familienstammbäume und das hat mich bei meiner Familienforschung extrem vorangebracht. So konnte ich zum Beispiel herausfinden, dass meine Familie Peter aus Ostpreußen ausgewandert war, weil das auch ein Vermerk in diesen Akten war. Das war Wissen, das wir in der Familie nicht hatten. Wir haben das immer vermutet, auch auf Grund der Sprachfärbung meiner Großeltern und Eltern, aber hundertprozentig wussten wir es erst dann.

Edwin: Was ich dem noch hinzufügen möchte: Im Laufe der 1990er Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, oder sogar schon im Zuge von Glasnost und Perestroika (ab 1985), sind einige Archive wieder nach und nach für Forscher und Publikum geöffnet worden. Es gab für den Bereich der Wolgarepublik das zentrale Republikarchiv in der damaligen Hauptstadt Engels. Das wurde mit der Auflösung der Wolgarepublik (1941) aufgelöst und die Bestände wurden in den benachbarten Archiven aufbewahrt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion (1990) und nach der einsetzenden Aufarbeitung des Stalinismus, hatte man die noch auffindbaren Bestandteile des Archivs wieder in Engels zusammengetragen. Heute ist diese Filiale des Saratower staatlichen Archivs als Historisches Archiv der Deutschen des Wolgagebiets wieder zugänglich. Da finden sich zum Beispiel sämtliche Kirchenbücher der wolgadeutschen Kolonien, mit denen bis ungefähr Anfang des 19. Jahrhunderts genealogische Forschungen privat betrieben werden können. Es gibt auch Möglichkeiten über standesamtliche Archive in der Russischen Föderation, in Kasachstan, in der Ukraine zu forschen. Zum Beispiel sind in der Russischen Föderation in den meisten standesamtlichen Archiven die Unterlagen bis in die 1920er Jahre mittlerweile digitalisiert. Bei standesamtlichen Archiven ist es so, dass man einen Verwandtschaftsgrad nachweisen muss. Man kann diese Recherchen auch von Deutschland aus betreiben. Man schreibt die Archive per E-Mail an. Die haben eine Bearbeitungszeit von maximal dreißig Tagen und es kostet ein bisschen Geld, das aber nicht der Rede wert ist. Ein wichtiger Bestandteil der Familienforschung, was das 20. Jahrhundert angeht, sind die Listen von repressierten Personen in den 1930er und 1940er Jahren, die nach und nach veröffentlicht wurden, beziehungsweise auch in den Archiven der Staatsicherheitsbehörden zu finden sind. Das ist ein Bereich der in Russland zunehmend schwierig ist. Im Zuge des Krieges ist es unmöglich geworden, aber auch in den vergangenen zehn Jahren war es immer schwieriger geworden in russischen Archiven zu forschen. Selbst für Forscher war es schwierig da einen Zugriff zu bekommen. Umso einfacher ist es in der Ukraine, zum Teil auch in Kasachstan und in den baltischen Staaten. Und dadurch, dass die Angehörigen der deutschen Minderheit vor der Deportation 1941 fast zur Hälfte auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gelebt haben, sind die Familienforschungsvorhaben in der Ukraine auch relativ einfach, wenn man bereit ist da hinzureisen und sich damit persönlich auseinanderzusetzen. Du hast im Archiv in Zhytomyr gearbeitet. Wie hat es funktioniert?

Ira: Der große Vorteil an der Ukraine ist, dass man wirklich freien Zugang hat. Auch zu den KGB-Akten. Ich hoffe, dass das auch nach dem Krieg, der hoffentlich bald endet, weiterhin möglich sein wird. Über die KGB-Akten habe ich einen Teil zu meiner Familie herausgefunden. Es gibt diese Listen mit Repressierten und Deportierten und da steht auch immer dabei, wer zu den Familien gehört hat, wohin sie deportiert worden sind und so weiter. Es ist alles verfügbar, es ist natürlich am einfachsten, wenn man hinfährt und jemanden hat, der sich in den Archiven auskennt sowie Ukrainisch und Russisch kann. Denn ganz ohne Sprachkenntnisse wird es schwierig.

Edwin: Hast du gleich eine Unterstützung gefunden? Über wen sucht man nach den Personen, die helfen können?

Ira: Mir hat der Rat der Deutschen in der Ukraine sehr geholfen. Ihre Filialen sind über die ganze Ukraine verteilt. Das sind Menschen, die selbst oftmals deutscher Herkunft sind und beispielsweise auch in Zhytomyr vertreten sind. Da habe ich den Vorsitzenden kennengelernt, der hat mir sofort eine Handvoll Familienforscher an die Seite gestellt, die sich in dem Archiv sehr gut auskannten und die mit mir dahingefahren sind. Normalerweise musst du dich da vorher anmelden und das kann etwas dauern. Gerade zu Coronazeiten war es dann so, dass man zwei, drei Monate warten musste, bis man überhaupt einen Leseplatz bekommen hat. In der Regel muss man sich frühzeitig darum kümmern und mit der Mittelsperson besprechen, welche Unterlagen man sucht, damit die richtigen Bestände bestellt werden können. Das muss alles vorher organisieren werden. Bei mir sind diese Wartezeiten entfallen, weil ich wirklich tolle Unterstützer vor Ort hatte, die weil sie zu ihrer eigenen Familiengeschichte seit Jahren da forschen, förmlich im Archiv leben. Die sind dann das allererste Mal mit mir dahingegangen und haben mir alles gezeigt: Was man bestellen kann und wie das funktioniert. Das hat alles sehr gut funktioniert. Es war unkompliziert und es ging schnell. Ich habe teilweise richtige gute Sachen gefunden. Zum Beispiel die Einbürgerungsurkunde von einem meiner Ur-ur-Großväter mütterlicherseits. Wirklich mit Siegel und Stempel und alles ganz schön verziert. Da kam auch eine neue Information dazu, nämlich dass die Familie Gabriel, dass ist die Mutterseite von mir, aus dem Habsburger Reich nach Wolhynien eingewandert waren. Das wussten wir nicht. Es gibt da richtige Schätze. Aber es ist eine große Herausforderung auf eigene Faust etwas zu finden, weil vieles nicht digitalisiert, nicht erfasst ist. Man braucht dafür Zeit und braucht Menschen, die sich damit auskennen.

Edwin: Das kann ich auch für andere Bereiche der früheren historischen Ansiedlungen von deutschen Minderheiten bestätigen. Wir sprechen da vor allem von großen Teilen der Ukraine. Einmal der nördliche Bereich mit Wolhynien, dann Zentral- und Südukraine - die größten deutschen Ansiedlungen um Odessa, um die Städte Saporischschja und Cherson herum. Alles Orte, von denen man heute leider Gottes in der Kriegsberichterstattung hört. Andere Bereiche sind zum Beispiel das Wolgagebiet, der Südkaukasus, mit Aserbaidschan und Georgien. Später im 20. Jahrhundert entstanden freiwillige Ansiedlungen in Südsibirien und Nordkasachstan. Auch dort vor Ort gibt es Vertretungen der deutschen Minderheiten, die Ansprechpartner auch für solche Vorhaben sind. Die kann man über ihre Internetseiten finden. Ira hat bereits den Rat der Deutschen in der Ukraine als zentrale Ansprechorganisation genannt. In der Russischen Föderation ist es der Internationale Verband Deutscher Kultur (IVDK) und in Kasachstan sind es die Assoziationen der Wiedergeburt Kasachstans. Die haben meistens eine eigene Abteilung mit Historikern und Genealogen und das funktioniert eigentlich immer ganz gut. Eine weitere gute Anlaufadresse für sowas ist das Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte hier in Detmold. Wir haben eine Arbeitsgruppe Familienforschung. Das sind ehrenamtliche Genealogen, die mit Beständen in unserem Museum arbeiten. Wir haben hier einen umfangreichen Handapparat zur Genealogie der Russlanddeutschen.

Als Literaturtipps für den Einstieg gibt es zum einen das Werk, mit dem jeder Russlanddeutsche in seinen Familien Forschung anfängt zu betreiben. Es ist ein Standartwerk mit knapp 1000 Seiten von Karl Stumpp. Er war einer der Begründer der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und eine historisch umstrittene Person. Er hat sich als Ethnologe und Ethnograf sehr der Familienforschung verschrieben und hat in den 1920er und 1930er Jahren sämtliche Archive hier in Deutschland abgeklappert, um festzustellen, wo die nach Russland gehenden Menschen registriert waren. Unter anderem zum Beispiel war im hessischen Büdingen eine Sammelstation für Wolgakolonisten. Dort gibt es ein Kirchenbuch, in dem innerhalb von drei Wochen mehrere Hunderte Eheschließung aufgenommen wurden. Aber Stumpps Buch ist sehr lückenhaft, denn die andere Seite konnte erst im Laufe der 1990er Jahre erschlossen werden. Die andere Seite bedeutet, die Seite der Russischen Föderation und der Ukraine. Damit haben sich andere Historiker beschäftigt, zum Beispiel Igor Plewe für den wolgadeutschen Bereich. Der frühere Rektor der Technischen Universität in Saratow war derjenige, der das staatliche Archiv in Engels wieder aufgestellt hat. Er ist leider von eineinhalb Jahre zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Es war ein politischer Prozess gegen ihn und er beschäftigt die Historiker und Genealogen, sowohl hier in Deutschland aber auch weltweit. Man engagiert sich für ihn, unterschreibt Petitionen – es ist wirklich traurig, was gerade passiert.

Wie nimmst du das wahr, Ira? Du hast dir die Ukraine auch erst im Zuge der Familienforschung erschlossen.

Ira: Ich hatte gar keinen Bezug zu dem Land. Ich wurde in der Sowjetrepublik Kasachstan geboren. 1992 sind wir nach Deutschland gekommen und die Ukraine hat überhaupt keine Rolle gespielt. Als ich dann das erste Mal 2018 hingefahren bin, um die Dörfer zu sehen, aus denen meinen Großeltern deportiert worden waren, da war es um mich geschehen. Ich habe eine sehr große Verbundenheit auch zu den Menschen dort gefühlt. Es kam mir alles wahnsinnig vertraut vor. Seitdem bin ich immer wieder hingefahren. Ich habe dort mittlerweile Freunde und möchte auch künftig die Verbindung zu Wolhynien halten, weil dort auch Menschen sind, die sehr geschichtsinteressiert sind und die auch Lust haben eine Brücke nach Deutschland zu bauen. Deswegen hoffe ich natürlich, dass dieser Krieg bald endet. Aber verrätst du, Edwin, noch mal kurz was zu deinem Familiennamen?

Edwin: Ja, aber vorweg einige Worte darüber, welche Bereiche der historischen Forschung wir über diese Art von Familienforschung abdecken können. Das eine ist die Repressionsgeschichte und die Aufarbeitung des Stalinismus. Das haben wir in den Bereichen der Erforschung der KBG-Archive bereits angesprochen. Diese Ausrichtung erklärt auch den Aussiedlungshintergrund von so vielen Menschen aus den postsowjetischen Staaten nach Deutschland, denn die großen Lücken in den Familien sind durch diese Repressionen entstanden. Durch die Aufarbeitung dieser Lücken arbeiten wir gleichzeitig die Geschichte des stalinistischen Terrors insgesamt auf. Der andere Bereich ist die grundsätzliche Migrationsgeschichte Europas und unserer Großregion.

Ich hatte mich mit meinem Familiennamen beschäftigt und irgendwann herausgefunden, dass er aus Mecklenburg ist. Dann hatte ich mich gefragt, wie denn die Menschen von Mecklenburg nach Danzig gekommen und von Danzig dann weiter nach Russland gewandert sind. Dann habe ich wiederum Familienangehörige, die in Nordamerika, in Südamerika leben. Das ist eine globale Migrationsgeschichte. Vor zwei Jahren erschien ein Artikel mit dem Titel „Einmal Russland und zurück“ von der Privatdozentin der Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Christiane Schiller. Darin beschäftigt sie sich mit der Frage, wie es sich erklären lässt, dass ein aus Mecklenburg stammender Nachname heute eher in Nordrhein-Westfalen verbreitet ist und gerade in der Region Ostwestfalen-Lippe konzentriert ist. Das Besondere an diesem Nachnamen ist, dass es ein Toponym ist, das es nur einmal gibt und auf eine historische Siedlung am heutigen Malchiner See in Mecklenburg-Vorpommern zurückgeht. Es gab da ein Dorf, das so hieß und genauso wie mein Nachname geschrieben wurde. 1215 wurde dieser Ort zum ersten Mal erwähnt und die erste Person mit diesem Nachnamen ist bereits 1330 dokumentiert. Die Daten aus den deutschen Verlustenlisten des Ersten Weltkrieges zeigen aber für das Ende des 19. Jahrhunderts, dass dieser Nachname neben dem ursprünglichen Herkunftsort, also Mecklenburg, vor allem in Westpreußen wiederzufinden ist. Es ist zurückzuführen auf eine Migrationsgeschichte, die im Zuge des Dreißigjährigen Krieges eingesetzt hat. Mecklenburg und Pommern wurden in diesem Krieg schwer betroffen und sehr viele Menschen sind damals in friedlichere Regionen gezogen. Das war unter anderem Westpreußen und Danzig. So findet sich der erste Eintrag dieses Namens im Jahre 1667 bei einer Eheschließung in der flämischen mennonitischen Gemeinde in Danzig. Später findet man sehr viele Erwähnungen dieses Nachnamens im Danziger Werder, zum Beispiel im Brandregister der Gegend. Danach findet sich dieser Nachname selten in Westpreußen, denn dazwischen passierte die Migration von vielen Mennoniten im späten 18. Jahrhundert und Anfang des 19. Jahrhunderts ins Russische Reich. Wenn man heute aber die Telefonbucheinträge in Deutschland auch entlang der Vornamen auswertet, stellt die Wissenschaftlerin fest, dass viele Warkentins typische osteuropäische bzw. sowjetische oder russische Vornamen haben, wie zum Beispiel Eugen, Waldemar, Olga und Helene. Das lässt jetzt aber nicht direkt auf die westpreußische Geschichte schließen. Denn die meisten, die jetzt in Ostwestfalen-Lippe leben und diesen Namen tragen sind eben Aussiedler, die aus den postsowjetischen Staaten gekommen sind. Die haben mit den Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Westpreußen hierher nach Deutschland gekommen sind, außer ihrem Glaubensbekenntnis, relativ wenig gemein. Hier hat sich ein interessanter Zusammenschluss ergeben. Und zwar haben die Menschen aus Westpreußen im Zuge der Wiederansiedlung hier in Ostwestfalen-Lippe auch ihre Mennonitischen Gemeinden wieder gegründet. Zum Beispiel in Espelkamp, das ist eine der ältesten bekanntesten mennonitischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Nachdem die Aussiedlung der Russlanddeutschen im Zuge der 1970er und vor allem der 90er Jahre eingesetzt hat, haben die Menschen mit diesem mennonitischen Hintergrund – das sind zehn Prozent der russlanddeutschen Spätaussiedler – Anschluss an diese mennonitischen Gemeinden gesucht. Das waren für sie Anziehungsfaktoren für eine Wohnsitzname in Deutschland. So hat sich ergeben, dass ein mennonitscher Nachname, den es seit dem Mittelalter belegt in Mecklenburg gibt und der eine besondere Bindung an einen dortigen Ortsnamen hat, einen Weg über Russland, über Zentralasien wieder zurück nach Deutschland genommen hat und jetzt eher in Nordrhein-Westfalen, als in seiner Ursprungregion vorzufinden ist. Da lässt sich ein Stück europäischer und deutscher Migrationsgeschichte anhand dieses Markers nachweisen. Insofern finde ich das interessant, dass wir mit unserer Familienforschung, mit unserem privaten Interesse auch zum größeren Verständnis der europäischen Migrationsgeschichte beitragen können. Durch die zahlreichen Auswanderungen nach Nord- und Südamerika ergibt sich dann auch ein noch viel größeres und viel globaleres Bild der Migration. Das ist für mich das Attraktive an diesem Interesse. Das war mein Plädoyer, dass wir über die Genealogie zur Erschließung von größeren Bereichen und zum Verständnis der europäischen Geschichte beitragen können.

 

Quellen und Datenbanken

Odessa. A German-Russian Genealogaical Library ist eine in englischer Sprache betriebene Datenbank zu Familienforschung im Schwarzmeergebiet.

wolhynien.de ist eine privat betriebene Datenbank und Forum zur Erforschung der wolhyniendeutschen Genealogie in deutscher Sprache.

Mennonitische Geschichte und Ahnenforschung: Chortitza ist eine private in Deutschland betriebene Onlinebibliothek und Onlinearchiv mit Schwerpunkt auf russlandmennonitischer Familienforschung

Das in Kanada beheimatete Webseite Mennonite Genealogical Resources beinhaltet Daten zur mennonitischen Familienforschung im ehem. Westpreußen, ehem. Russisches Reich, ehem. Sowjetunion sowie Nord- und Südamerika

GRanDMA  - Genealogical Registry and Database of Mennonite Ancestry ist eine US-Amerikanische Datenbank zur mennonitischer Familienforschung weltweit

Die Webseite Geschichte der Wolgadeutschen bekannt unter ihrer URL wolgadeutsche.net ist die umfangreichste Onlinebibliothek und Onlinearchiv im Bereich der Wolgadeutschen mit einem Onlineforum zur Familienforschung in russischer und deutscher Sprache

Das Bundesarchiv gibt Auskunft über Russlanddeutsche, die zu verschiedene Zeiten von offiziellen Stellen, insbesondere der Einwandererzentralstelle (EWZ) des Dritten Reiches registriert wurden

Die Arbeitsgruppe zur Familienforschung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte berät und unterstützt bei genealogischen Vorhaben

Die Onlinedatenbank Жертвы политического террора в СССР / Opfer des politischen Terrors in der UdSSR der russischen Menschenrechtsorganisation beinhaltet auch Namen repressierter Russlanddeutschen