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Generation "Mitgebracht". Perspektiven nach einem Leben jenseits der Aussiedlung

Wie war es, als Kind oder Jugendlicher in den 1990ern nach Deutschland zu kommen? Hat sich diese "mitgebrachte Generation" seitdem in die Mehrheitsgesellschaft integriert oder gar assimiliert? Was ist ihre Identität und welche Rolle spielt für sie heute ihre russlanddeutsche Herkunft?Eine Folge anlässlich der Tagung "Gestern die Mitgebrachten - heute Generation PostOst" am 3. Oktober 2022 in Detmold. Mit der in London lebenden russlanddeutschen Autorin und Projektmanagerin Lena Wolf, dem Hamburger Start-up Gründer Nikolaus Haufler, Migrationsforscher Jannis Panagiotidis und Chefredakteurin von decoder.org Tamina Kutscher.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Lena Wolf: Ich würde in Deutschland nie gerne komplett assimiliert sein. Ich will nie eine Deutsche aus Deutschland sein. Ich bin viel mehr: Ich bin eine Deutsche aus Kasachstan und ich bin anders und da bin ich wirklich froh drüber.

Ira: Hallo, Edwin! Jetzt sehen wir uns nach langer Sommerpause mal wieder.

Edwin: Wir sehen uns heute in Detmold.

Ira: Heute sind ja ganz schön viele Leute nach Detmold gekommen. Es ist der 3. Oktober, der Tag der deutschen Einheit und es findet hier eine Veranstaltung statt.

Edwin: Eine Tagung, die ich als Kulturreferent zusammen mit der Deutschen Gesellschaft e.V. organisiert habe. Sie widmet sich den Perspektiven der jungen Generation der Russlanddeutschen, mit einem vergleichenden Seitenblick auf die Kindergeneration der Ostdeutschen, die die Wendezeit als Kinder erlebt haben. Wir haben uns gedacht, dass das ein spannendes Thema wäre, das mal in einen Kontext zu bringen und mal zu gucken, wo es Gemeinsamkeiten zwischen jungen Ostdeutschen und jungen Russlanddeutschen gibt.

Ira: Und ihr hört heute vier verschiedene Gäste in unserem Podcast. Und zwar haben wir zwei „mitgebrachte“ Stimmen. Lena Wolf und Nikolaus Haufler, die von ihren Erfahrungen als mitgebrachte Russlanddeutsche erzählen werden. Es wird auch um den Begriff PostOst gehen. Professor Dr. Jannis Panagiotidis wird uns eine Einordung zu den „Mitgebrachten“ geben, wie sie sich hier entwickelt haben und was es mit dem Begriff „PostOst“ auf sich hat. Tamina Kutscher macht am Ende nochmal eine Einordnung, wie sie uns Russlanddeutsche in den Medien wahrnimmt. Wie findest du die Veranstaltung bislang?

Edwin: Ich finde es großartig. Ich war mir nicht so ganz sicher, ob Menschen Interesse für so ein Format haben, für so ein Thema, das grundsätzlich speziell ist. Aber ich war sehr überrascht, als wir die Rückmeldungen bekommen haben, dass wir ein volles Haus haben. Es sind jetzt ungefähr 75 vor allem junge Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengekommen. Total divers, total interessiert und sie beteiligen sich auch an den Diskussionen. Wir haben Arbeitsgruppen, World-Café und wollen jetzt noch einige Themen vertiefen. Themen wie zum Beispiel: Empowerment und gesellschaftliche-politische Partizipation, Aktivismus, was in der Kulturszene gerade passiert. Was könnte oder sollte noch mehr passieren?

Ira: Schön! Dann viel Spaß euch beim Zuhören unserer Folge über die Mitgebrachten, heute Generation PostOst.

Lena Wolf: Ich heiße Lena Wolf und ich bin 1990 nach Deutschland gekommen und ich lebe in England. Ich bin gerade in Deutschland zu Besuch.

Ira: Was ist deine erste Erinnerung an Deutschland? Wie als warst du da?

Lena Wolf: Ich bin mit 17 gekommen. Ich glaube, schon ziemlich spät. Und meine erste Erinnerung ist Friedland und Kiwifrucht und Joghurt und ich wusste nicht, wie man die isst. Das musste ich erst lernen. Das war auch das erste Mal, dass ich Joghurt gegessen habe und jemand musste mir zeigen, wie man eine Kiwifrucht isst. Das fand ich sehr interessant und sehr aufragend. Für mich war das ein Neuanfang.

Nikolaus Haufler: Moin, ich bin Nikolaus Haufler. Ich bin 37 Jahre alt, ich wurde Tscheljabinsk geboren und 1995 im Alter von 10 Jahren nach Hamburg gekommen. Ich war Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft und bin jetzt Unternehmer und Start-up-Gründer. Mein Start-up heißt Wetterheld. Wir machen digitale Wetterversicherungen.

Ira: Was ist deine erste Erinnerung in Deutschland gewesen?

Nikolaus Haufler: Meine erste Erinnerung an Deutschland ist der Flug von Moskau nach Berlin und die Stewardess, die uns Kindern ganz viele Gummibärchen gegeben hat. Das war supersüß. Sie hat uns auch Tomatensaft gegeben und das war ein ganz toller Start nach Deutschland.

Ira: Welche Herausforderung hast du damals im Laufe des ersten Jahres erlebt und welche Herausforderungen hast du bei deinen Eltern mitbekommen?

Lena Wolf: Die ersten Jahre waren nicht so einfach. Ich wollte unbedingt aufs Gymnasium und ich war schon 17. Das ging nicht so einfach. Ich habe es dann trotzdem geschafft, was für mich sehr wichtig war. Und ich war dann die einzige Spätaussiedlerin an meiner Schule. Jedes Mal, wenn ich mich vorgestellt und gesagt habe, dass ich aus Kasachstan kommen, dann konnte es keiner Aussprechen. Sogar die Lehrer konnten Kasachstan nicht so ganz aussprechen und dann hat man mich einfach nur Helene aus Russland genannt. Mit wurde auch noch ein anderer Name gegeben, Helene, den ich inzwischen auch schon offiziell vor Gereicht geändert habe, um auf Lena zu wechseln. Ich wurde „Helene aus Russland“, was natürlich sehr lustig war, weil die ganze Sache mit Helene war ja, damit ich dann eine deutsch-Deutsche bin. Das war dann sehr lustig, dass es in der Schule dann doch Helene die Russin geworden ist. Für meine Eltern war es eine schwere und komplizierte Sache, weil es so viel Trauma gab, das verarbeitet werden musste. Ich glaube, Deutschland hat ihnen die Möglichkeit gegeben, das erste Mal darüber zu sprechen. Das ist jetzt immer noch nach über 30 Jahren so, dass sie jeden Tag ein bisschen mehr darüber sprechen. Es ist eine sehr langsame Entwicklung und das ist wie die Haut einer Zwiebel. Jeden Tag wird ein bisschen mehr abgenommen, dass besprochen wird.

Nikolaus Haufler: Die Herausforderung des ersten Jahres ist, glaube ich, bei allen gleich: die Sprache. Wir konnten aber schon sehr gut Deutsch. Ich hatte Deutsch in der ersten Klasse schon in der Schule und gehörte zu denjenigen aus der jungen Generation, die sich von Anfang an gut verständigen konnten. Ich habe schon im ersten Übergangslager Kontakte zur Lokalbevölkerung gehabt. Da waren junge Mädchen in meinem Alter, mit denen ich mich mit einem Wörterbuch in der Hand getroffen habe. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass uns das mit der Sprache ganz gut gelingt. Für meine Eltern war die berufliche Umorientierung die Herausforderung. Damals gab es diese Diplomanerkennung, wie wir sie heute selbstverständlich finden, so nicht. Sie waren in Sprachkursen, in Integrationskursen mussten aber komplett neue berufliche Laufbahnen in Angriff nehmen. Für meine Mutter hat das bedeutet, dass sie auch von null an studieren musste und vier Jahre lang Studentin war. Das ist für die finanzielle Situation unserer Familie nicht so super gewesen. Jetzt geht es aber. Sie geht ihrem studierten Beruf als Sozialpädagogin immer noch nach.

Ira: Bist du heute nach über 30 Jahren assimiliert oder integriert? Wie gehst du mit diesen Begriffen um?

Lena Wolf: Ich glaube, ich bin auf jeden Fall assimiliert und integriert. Aber auf meine Art und Weise. Ich habe meine eigene Bezeichnung für mich selbst. Ich bin eine Deutsche aus Kasachstan. Auf Englisch nenne ich mich kazakh german und das ist etwas, was für mich sehr gut funktioniert und positiv ist. Da muss ich nicht erstmal erklären, wie meine Beziehung zu Russland ist. Ich glaube, für mich selbst habe ich meine eigene Bezeichnung gefunden. Und das passt mir auch. Ich bin Lena Wolf, eine Deutsche aus Kasachstan oder eine Russlanddeutsche aus Kasachstan.

Nikolaus Haufler: Ist man integriert oder assimiliert? Also ich habe meine eigene russlanddeutsche Identität. Ich möchte nicht alles davon aufgeben und Assimilierung ist nicht mein Ziel. Ich spreche sehr gern Russisch und mache das auch sehr viel. Ich bin ganz häufig in der Ukraine und sehe diese Möglichkeit einen ganz großen Raum in Osteuropa aus anderen Augen sehen zu können als eine echte Bereicherung im Leben.

Ira: Was sagt eigentlich die Forschung zu der Frage nach Integration vs. Assimilation: also der Angleichung einer Gruppe an eine andere unter Aufgabe der eigenen Kultur. Dazu gibt Professor Dr. Jannis Panagiotidis Auskunft. Er ist einer der Redner bei der Veranstaltung. Jannis arbeitet an der Universität Wien und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Migrationsforschung und der Geschichte der Russlanddeutschen. Was würdest du zu den „mitgebrachten“ Russlanddeutschen sagen? Haben sie sich in den letzten 20 - 30 Jahren integriert oder assimiliert? Was kannst du über diese mitgebrachte Generation sagen?

Jannis Panagiotidis: Das lässt sich pauschal tatsächlich schwer sagen, weil es wenig Forschung zu dieser Gruppe gibt. Zumindest für die Zeit nach der unmittelbaren Ankunft. In den 1990er Jahren wurde ganz viel über diese Gruppe gesprochen, über die Probleme die es mit ihr gab. Seitdem sehr viel weniger. Schon aus eigener qualitativer Forschung ist aber mein Eindruck, dass sich da insgesamt sehr viel sehr positiv entwickelt hat, dass Startschwierigkeiten überwunden wurden. Nicht bei allen. Es gibt auch eine ganze Literatur zu Russlanddeutschen in Gefängnissen. Da sind auch viele auf die harte Tour angekommen und wir wissen eigentlich nicht, wie es denen jetzt geht. Aber die allermeisten haben irgendwo dann doch auf verschiedenen Wegen die Kurve gekriegt. Viele gehen auf die Universität. Andere haben ihre Ausbildung gemacht und arbeiten in Berufen. Alles in allem ist da das Bild sehr viel positiver, als man das in den 1990ern vielleicht noch gedacht hätte.

Ira: Haben sie sich assimiliert oder integriert? Würdest du sagen, da hat sich auch einiges gewandelt?

Jannis Panagiotidis: Es gibt schon einen gewissen Grad an Assimilation. Das ist ja der „Vorteil“ gerade von Russlanddeutschen, die zum Beispiel deutsche Familiennamen haben und die dann gerade in der jüngeren Generation, wenn sie akzentfrei Deutsch sprechen, tatsächlich nicht auffallen. Natürlich ist es problematisch, finde ich, für eine Gesellschaft, wenn diese Unauffälligkeit, diese Assimilation, als ein großer Wert gesehen wird. Aber Fakt ist, dass es das Leben leichter macht, wenn man in einer Gesellschaft mit Rassismusproblemen nicht als Fremd erkennbar ist. In dieser Hinsicht haben sich viele assimiliert und auch bewusst assimiliert. Zum Teil haben die Familien bewusst darauf verzichtet weiter Russisch zu sprechen. Deutsche Familiennamen wurden angenommen, selbst wenn die von der Mutterseite kamen. Das heißt, da wurde auch durchaus Wert draufgelegt und das haben viele auch gemacht. Auf der anderen Seite gibt es, habe ich den Eindruck, eine gewisse Gegentendenz, zu sagen: Nee, wir sind jetzt selbstbewusst genug, um uns wieder stärker auf die russische Sprache zu besinnen und die Sprache an die Kinder weiterzugeben. Sowas gibt es auch. Da gibt es unterschiedliche Tendenzen.

Ira: Siehst du dich als Teil von PostOst?

Lena Wolf: ich weiß gar nicht, was das ist. Ich weiß nicht, ob das für mich passt.

Ira: Was versteht man unter dem Begriff PostOst?

Jannis Panagiotidis: Unter PostOst verstehe ich, so wie ich den Begriff auf Grundlage dessen, was ich von den Urheberinnen und Urhebern dieses Begriffs höre, einen Identitätsentwurf, der versucht aus dieser ethnischen Schublade herauszukommen, die ja sehr stark ist, wenn wir über Themen von Russlanddeutschen reden. Es sind halt die Russlanddeutschen. Für PostOst ist es eigentlich viel wichtiger auf gemeinsame Erfahrungen mit anderen Zugewanderten aus der ehemaligen Sowjetunion, aber auch insgesamt aus dem Osten – wo auch immer der dann genau liegt – zu schauen. Das ist dann konkret mit Leuten aus Polen, aber auch aus Bulgarien, aus der Ukraine, wo es aktuell auch schon wieder komplexer wird, inwieweit die sich da unter ein gemeinsames Identitätsdach mitnehmen lassen wollen. Es ist im Grunde der Versuch einer inklusiven einerseits postsozialistischen und andererseits postmigrantischen Identität und damit eigentlich ein sehr spannender und komplexer Identitätsentwurf.

Lena Wolf: Also inzwischen kann ich sehr frei darüber reden, wo ich herkomme, und sehe das auch als sehr positiv. Ich habe zwei Kulturen oder sogar drei in mir und das ist etwas, dass ich jetzt auch feiere und über das ich sehr froh bin. Mir ist es sehr bewusst, wenn Freunde in England oder hier zu Besuch kommen, dass ich sage: Lasst uns mal was aus Kasachstan kochen, das ist das, mit dem ich aufgewachsen bin. Oder lasst uns mal was aus Deutschland kochen, dass ist auch in Ordnung. Oder was Koreanisches, was ich auch aus Kasachstan kenne. Dieses multikulturelle ist sehr wichtig für mich. Ich glaube, worauf wir stolz sein sollten, ist diese multikulturelle Kenntnis, die wir mitgebracht haben. Jeder von uns spricht nicht nur eine Sprache. Alle sprechen zwei Sprachen, manche auch ganz normal drei Sprachen und das ist etwas, worauf wir wirklich stolz sein sollten. Wir haben uns in Kasachstan oder in Kirgisien oder in Sibirern angepasst, aber nicht nur angepasst. Wir haben die Kultur angenommen, kennengelernt und dabei aber die deutsche Kultur beibehalten. Das machen wir jetzt auch in Deutschland. Ich würde in Deutschland nie gerne komplett assimiliert sein. Ich will nie eine Deutsche aus Deutschland sein. Ich bin viel mehr. Ich bin eine Deutsche aus Kasachstan und ich bin anders und da bin ich wirklich froh drüber. Es gibt genügend deutsch-Deutsche. Es ist ganz gut, auch mal anders zu sein.

Ira: Siehst du dich als Teil der PostOst -Community und was verstehst du unter diesem Begriff?

Nikolaus Haufler: Ich sehe mich überhaupt nicht als Teil irgendeiner Community. Ich finde, dass ist kein Wort, das mich beschreiben würde. Ich bin Russlanddeutscher. Wer die Russlanddeutschen sind, wer sich als Russlanddeutscher bekennt, der hat mit mir auch sicherlich viel gemeinsam. Sowohl von der eigenen Erfahrung, aber auch über die Familiengeschichte. Das ist etwas Verbindendes. Hat man dadurch schon eine Gemeinschaft, die die gleichen Ziele erreicht, für gleiches kämpft? Mit vielen sicherlich nicht, aber es gibt viele Mitstreiter, die das Thema Russlanddeutsche wie ich sehen. In den Landsmannschaften zum Beispiel, in den Vereinen der Russlanddeutschen, da fühle ich mich eigentlich ganz gut verstanden durch Menschen, die wirklich auch die selben Ziele für die Russlanddeutschen hier im Land sehen.

Ira: Das heißt, mit dem Begriff PostOst kannst du nicht so viel anfangen?

Nikolaus Haufler: Ich kann verstehen, warum jemand PostOst sagt. Ja, meine Familie ist auch nur zur Hälfte russlanddeutsch. Die Familie meiner Mutter ist russisch. Trotzdem ist die russlanddeutsche Vergangenheit für mich super prägend und ich möchte es eigentlich nicht durch einen umfassenderen Begriff verwässern. Ich möchte mich auch nicht als russischsprachiger Migrant sehen. Unsere Erfahrung ist so anders als die von jemanden, der mit der bluecard als IT-Entwickler vor drei Jahren nach Deutschland gekommen ist. Man versteht sich da auch gegenseitig nur zum Teil. Was man eigentlich alles erlebt hat und wie es wirklich wahr. Deshalb verenge ich meine eigene Selbstbeschreibung auf: Ich bin Russlanddeutscher.

Ira: Können sich Russlanddeutsche zu PostOst zählen? Welche für und Gegenstimmen gibt es da? Was nimmst du wahr?

Jannis Panagiotidis: Russlanddeutsche können sich definitiv zu PostOst zählen und sind in Deutschland einfach durch die schiere Anzahl von Leuten, die größte postöstliche Migrationsgruppe. Aber natürlich ist sowas auch nicht für jeden etwas und soll, glaube ich, auch gar nicht für jeden sein. Der Witz bei solchen Identitätsentwürfen ist gerade, dass es auch individuell ist. Das es etwas ist, wo sich manche davon angesprochen fühlen, die mit ihren hergebrachten Kategorien nicht zufrieden sind. Aber für andere sind die vollkommen ausreichend. Ich kenne auch aus meinen Beobachtungen, aus meiner Forschung Fälle von jungen Menschen, die sagen: Ja, ich bin halt deutsch und ich bin auch russisch. Gar nicht mal unbedingt russlanddeutsch. Die brechen das dann eher so auf. Das ist für die aber dann auch nicht problematisch. Das ist dann vielleicht, je nach Kontext, ein bisschen cool einen anderen Hintergrund zu haben. Das gibt es auch. Wieder andere bezeichnen sich vielleicht nur als Deutsch oder etwas ganz anderes. Es ist sehr individuell. Entsprechend, glaube ich, dass da auch gar nicht der Anspruch da ist, alle unter ein Dach zu kriegen.

Ira: Meine letzte Frage an dich ist, welche Bedeutung hat deine russlanddeutsche Herkunft für die Leben?

Lena Wolf: Eine sehr große Bedeutung. Das ist ein Teil meiner Identität. Ich werde nie was anderes sein können. Das ist etwas, was ich bin. Ich glaube, dass einzige, was wir machen können ist die guten Sachen daran zu finden und uns auf die schönen Sachen zu fokussieren. Was wir alles in Kasachstan oder in Sibirien erreicht haben und auch, was wir hier alles erreicht haben. Die positiven Sachen – die würde ich gerne sehen. Das ist, was ich in mir zu sehen versuche.

Nikolaus Haufler: Meine russlanddeutsche Herkunft habe ich immer versucht in meinen beruflichen Werdegang einzubringen. Ich wollte eigentlich im internationalen Management im Hinblick auf Wirtschaftsunternehmen Deutschland-Russland und die Verbindung dazwischen promovieren. Das habe ich dann doch nicht gemacht. Ich habe dann ein Unternehmen gegründet und aus der Ukraine Christbaumkugeln importiert. Da kam mir die russische Sprache sehr entgegen. Als Abgeordneter wurde ich als Russlanddeutscher von Russlanddeutschen in die Hamburgische Bürgerschaft gewählt. Da war das ganz wichtig. Und mit der Gründung von Wetterheld setzte ich auf ein ganz starkes Team von ukrainischen Entwicklern, die für uns unsere Technologie entwickeln. Was auch einen großen Vorteil bringt, dass ich mit denen Russisch sprechen kann.

Ira: Was machst du mit diesem russlanddeutschen Erbe, das du mitbekommen hast für dieses Leben?

Lena Wolf: Das ist ein Teil meines Lebens. Ich bin mit Russlanddeutschen hier in Deutschland jeden Tag in Kontakt. Ich habe alle meine russlanddeutschen Verwandten in Kanada, in Amerika, in Argentinien. Mit denen habe ich auch engen Kontakt. Es ist interessant, dass unsere Bräuche, egal, wo wir gelebt haben – in Kasachstan oder in Brasilien zum Beispiel, sehr ähnlich sind. Wie, als ich mal erzählt habe, dass meine Großmutter in Kasachstan immer den Hof mit Wasser ausgewaschen hat. Sie war die Einzige, die das gemacht hat und es war sehr seltsam auf der Straße, weil immer sehr viel Staub da war. Und da habe ich als Kind immer gesagt, dass sie halt deutsch ist. Und die Nachbarn haben gedacht, dass das seltsam ist. Und dann habe ich das mal gepostet und jemand aus Brasilien hat zurückgeschrieben. Und die meinte: meine Großmutter macht das immer noch so. Und ich fand das so lustig, denn sie meinte in Brasilien macht das auch keiner, außer den Deutschen. Man sieht das schon, wer Deutsch ist und wer diese Bräuche mit sich mitgebracht hat. Und ich finde es sehr interessant, dass es in Kasachstan, in Brasilien aber auch in Kanada so gewesen ist. Ich finde, dass wir, also die Deutschen, die im Russischen Reich, in der Ukraine oder in Russland gelebt haben, dass wir schon unsere wunderschönen Gemeinsamkeiten haben. Wir haben die hier in Deutschland ein bisschen vergessen und ich glaube, wir müssen nur ein bisschen tiefer graben, um diesen schönen Sachen, diese schönen Erinnerungen zu finden. Die existieren, wenn man mit den Leuten in Kanada, Brasilien oder in den USA spricht. Die feiern diese Dinge als einen wunderschönen Teil der Kultur. Auch mit dem ganzen Kochen. Und ich glaube, wir müssen das auch ein bisschen rausbringen, dass wir Stolz auf unseren Zuckerkuchen sind. In deutschen Küchen backt das kaum jemand. Für mich bedeutet Zuckerkuchen russlanddeutsch zu sein und der wird noch in Kanada und in Brasilien von Russlanddeutschen dort gebacken. Manchmal tauschen wir Rezepte aus und das sind so Sachen, bei denen viel positives dabei ist. Wir müssen ein wenig tiefer graben, weil wir diese etwas negative Geschichte davor haben, die uns alle so traumatisiert hat. Diese Geschichte existiert aber nicht für die Russlanddeutschen, die in Kanada, Brasilien oder Argentinien leben. Die haben diese negative Erfahrung nicht, deswegen ist es für die einfacher. Für uns ist das ein Extraschritt, den wir machen müssen.

Ira: Deine russlanddeutsche Geschichte spielt auch in deinem beruflichen Leben eine Rolle. Du bist gerade an einem interessanten Projekt dran. Erzähl uns was darüber?

Lena Wolf: Ich arbeite an einer Graphic Novel mit dem Titel „Möge die Welt dein Zuhause sein“. Das ist eine in graphic-novel-Form erzählte russlanddeutsche Geschichte. Mit dieser Geschichte hoffe ich, etwas über die Geschichte der Russlanddeutschen selbst zu erzählen. Ich erzähle das anhand der Frauen. Das sind alles Frauen. Das ist Lene, die in London lebt, die aber die Geschichten von ihren Großmüttern erzählt. Großmutter Emilia und Großmutter Josephine. Es sind eigentlich zwei kleine aber sehr starke Frauen, die Gulags, die die Deportation und Trudarmija überlebt haben. Sie zeigen bringen Lene trotzdem wunderschöne Sachen bei: wie man strickt oder das wunderschöne Kochen und auch Weisheit, die nur Großmüttern bekannt ist. Es geht darum, die Geschichte der Russlanddeutschen anhand von diesen Frauen kennenzulernen. Also die Deportation, die schwere Geschichte, aber auch, wie sie damit zurechtgekommen sind und wie sie es trotzdem geschafft haben, gut zu sein, gütig zu sein und das auch in anderen Menschen zu sehen. Das ist das, was ich in meinem Buch zu beschreiben versuche.

Ira: Wann können wir das Buch endlich sehen, lesen, bewundern und in welcher Sprache wird es veröffentlicht?

Lena Wolf: Das Buch wird auf Englisch geschrieben, weil das für mich die Sprache ist, in der ich das schreiben kann. Es ist für mich eine Sprache, die neutral ist. Deutsch und Russisch sind für mich beides Sprachen, die, gerade wenn man über schwierige Themen spricht, etwas schwer sind. Englisch hat mir diese Distanz gegeben. Deswegen wird es auf Englisch geschrieben und weil ich in England lebe. Es wird aber auch auf Deutsch und Russisch übersetzt. Meine Webseite ist auf vier Sprachen: Englisch, Deutsch, Russisch und ich habe das auch auf Ukrainisch übersetzt. Ich habe mir gedacht, dass es gerade mit dem Krieg in der Ukraine unbedingt nötig war. Irgendwann würde ich ganz gerne auch mal meine Graphic Novel auf Ukrainisch haben, weil auch mein Vater in der Ukraine in einem Waisenhaus aufgewachsen ist und Ukrainisch war nach Deutsch seine Zweitsprache. Er spricht Ukrainisch immer noch sehr gern. Russisch hat er erst mit 15 oder 16 gelernt. Was ich sagen wollte: Das Buch wird hoffentlich nächstes Jahr erscheinen. Ich habe immer noch keinen Verlag, aber ich arbeite jetzt gerade daran und bin dabei, die letzten Seiten zu schreiben und zu zeichnen. Diese Tagung hier ist richtig gut, weil es mir was zum Nachdenken gibt. Wie wir mit Terminologie umgehen. Russlanddeutsch – wie wir das benutzen, was es für uns bedeutet. Das versuche ich auch in meinem Buch anzusprechen. Ich hoffe, dass ich es richtig anspreche. Deswegen waren diese Diskussionen heute für mich ganz interessant.

Ira: Gibt es „die“ Generation der mitgebrachten Russlanddeutschen? Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede gibt es denn innerhalb dieser Generation?

Jannis Panagiotidis: Natürlich gibt es viele Unterschiede. Es gibt Unterschiede schonmal hinsichtlich der Frage, in welchem Alter man gekommen ist. Es macht einen Riesenunterschied, ob man mit fünf, mit zehn oder mit fünfzehn mitgenommen wurde. Natürlich reagieren auch nicht alle gleich auf sogar ähnliche Erfahrungen. Wenn ich in der Schule diskriminiert werde, oder blöd angemacht werde, weil ich „Russe“ bin, dann ist eine Möglichkeit zu sagen: Okay, dann bin ich jetzt Russe und werde russischer Nationalist und fahre auf einem Autokorso mit. Ich kann aber auch sagen: Ich werde jetzt Antirassist und arbeite irgendwie in diesem Bereich. Beides gibt es. In dieser Hinsicht gibt es nicht „die“ mitgebrachte Generation in dem Sinne, dass sich dort alle oder auch nur eine große Mehrzahl in einer ähnlichen Art und Weise entwickeln. Es ist vielmehr spannend zu schauen, wie sich dann doch unterm Strich ähnliche Erfahrungen sehr unterschiedlich auswirken können.

Ira: Zuletzt hört ihr Tamina Kutscher. Sie ist Journalistin und Chefredakteurin von dekoder.org. Einer Internetplattform zu Russland und Belarus. Tamina beschäftigt sich auch schon seit vielen Jahren mit dem Thema Russlanddeutsche. Sie war auch schonmal Gast bei uns in der Sendung, genauso wie Jannis und sie hat die heutige Veranstaltung in Detmold moderiert.
Tamina, wie nimmst du die Generation der mitgebrachten Russlanddeutschen wahr? Gerade so im Verlauf der letzten 10 - 20 Jahre. Haben sie ihre Sprache gefunden, also die Sprache, von der Jannis Panagiotidis vorhin im Plenum gesprochen hatte?

Tamina Kutscher: Ich nehme es sehr stark wahr, dass man so verschiedene Stimmen – Jannis sprach ja auch von einem Chor von Stimmen –auf jeden Fall viel lauter hört und ich finde genau das eigentlich daran sehr sympathisch, dass es wirklich ein Chor ist. Dass keine dieser Stimmen für sich behauptet, ich spreche jetzt hier für alle. Aber dass verschiedene Russlanddeutsche ihre Stimme erheben, im Diskurs mitmischen, eben nicht mehr zulassen, dass über sie gesprochen wird. Jeder macht es anders. Mancher bestimmt als ich einen Russlanddeutschen, andere betonen lieber ihre hybride Identität. Jeder ist anders auf seine Art, aber das zeigt eigentlich erstens die Heterogenität der Gruppe und zeigt zweitens aber auch, dass die sichtbaren Vertreter dieser Generation hier im Diskurs mitmischen und das finde ich total wichtig.

Ira: Wir danken Lena Wolf, Nikolaus Haufler, Jannis Panagiotidis und Tamina Kutscher für die Interviews. Wie sieht es bei euch aus? Welche Rolle spielt eure russlanddeutsche Herkunft für euer Leben? Zum Beispiel privat oder beruflich?

Edwin: Schreibt uns gern eine E-Mail mit euerer Meinung an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.. Wenn ihr den Videomitschnitt der Veranstaltung sehen möchtet, findet ihr ihn auf dem YouTube-Channel des Museums für Russlanddeutsche Kulturgeschichte.