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Von wilder Flucht, Dissidentinnen und einer Flugzeugentführung – die nicht immer geordnete Migration russlanddeutscher Aussiedler

Die Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen ist den heutigen Generationen für ihr letztes Kapitel in den 1990ern bekannt. Die sie erlebt haben, sprechen oft von einem geordneten Umzug aus einer Mangelwirtschaft in eine Wohlstandsgesellschaft und von Forschern und Teilen der Öffentlichkeit wird sie als „privilegiert“ und „ethnisch motiviert“ bezeichnet. Dass in den Jahrzehnten zuvor hinter dem Auswanderungswillen vieler Russlanddeutscher sich filmreife Dramen abspielten und Menschen ihr Leben aufs Spiel setzten, um dem sowjetischen Regime zu entkommen, ist bei der Mehrheit in Vergessenheit geraten. In dieser Folge geht es um die Entwicklung der russlanddeutschen Migration im sowjetischen Regime, einer Flucht eines gesamten Dorfes über China nach Südamerika, einer Flugzeugentführung und mutigen Aktivistinnen.

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Edwin: Heute sprechen wir über die Motive und die Aussiedlungswege von vielen Russlanddeutschen, die über Generationen versucht haben, die Sowjetunion zu verlassen, um vor allem in Deutschland aber auch in den anderen Ländern ein neues Leben anzufangen. Ich finde es wichtig, hin und wieder darüber zu sprechen. Aus meiner Beobachtung sind die eigentlichen Motive der Menschen, die sich in den 1960er und 1970er Jahren bemüht haben aus der Sowjetunion auszuwandern viel zu wenig präsent. Insbesondere in unserer Generation, also in der mitgebrachten Generation. Aber auch in der Mehrheitsgesellschaft. So dass oft aus meiner Sicht – ich kann das jetzt nicht verurteilen – diese Wertschätzung gegenüber diesen Menschen, die damals ihre Schicksale aufs Spiel gesetzt haben, um die Ausreise für sich und für ihre Familie zu ermöglichen, nicht so ganz da ist. Es müsste mehr bekannt gemacht werden, um das auch ein bisschen sinnstiftender zu gestalten.

Ira: Wir werden häufig gefragt: Warum sind eure Eltern oder eure Großeltern eigentlich nach Deutschland gekommen? Und ich habe oft erlebt, dass ich dann selbst ein wenig ins Stottern komme und überlege: „Ja, warum eigentlich?“. Und dann müsste man so weit ausholen. Wir versuchen diese „Warums“ heute mal zu klären und entlang der Geschichte zu zeigen. Denn die Auswanderung für Menschen in den 1970er Jahren war eine andere als für Leute in den 1990ern. Welche Gründe gab es und welche Hindernisse vor allem?

Edwin: Ein Fakt, den ich jetzt voranstellen will: es ist ein sehr aktuelles Thema. Russland und die Sowjetunion waren über Jahrzehnte, über Generationen ein Auswanderungsland, also ein Land, aus dem Menschen weggezogen sind. Man spricht von vier Wellen, die die ganze Sowjetunion im 20. Jahrhundert erfasst hatten. Und jetzt spricht man von der fünften Welle. Von den Russinnen und Russen, die durch den von ihrem Land verursachten Krieg zum Beispiel nach Georgien geflohen sind hattest Du berichtet. Insofern ist das der größere Kontext. Eine Zahl, auf die ich gestoßen bin, hat mich schon sehr überrascht. Und zwar die UNO erfasst weltweite Diaspora von größeren Nationen, das heißt Teile ihrer Nation, die außerhalb der Grenzen ihres Landes leben. Und die Russische Föderation hat weltweit die drittgrößte Diaspora nach Indien und Mexiko. Stell dir vor, insgesamt 10 Millionen Menschen, die noch in der Russischen Föderation geboren sind, leben jetzt außerhalb ihres Landes (Red.: und außerhalb der postsowjetischen Staaten). Es ist eine immens große Zahl. Ein Land, das eigentlich sehr viele Bürger aus verschiedensten Gründen ziehen lässt. Und in diesem Kontext spielten die Russlanddeutschen eine große Rolle. Insbesondere in den 1990er Jahren waren die Russlanddeutschen eine der größten Gruppen, die die Sowjetunion oder die zerfallende Sowjetunion damals verlassen haben. Es ist schon eine große Dimension, in der wir uns bewegen.

Ira: Damals kamen ja die meisten Russlanddeutschen nach Deutschland, aber es gab ja schon vorher Auswanderung.

Edwin: Wusstest du Ira, dass es für die Mehrheit der Russlanddeutschen zwischen 1929 und 1988 keine legalen Möglichkeiten für die Auswanderung gab?

Ira: 1988 – ich meine, da haben wir beide schon gelebt. Meine Familie hat sich nicht so früh um eine Ausreise bemüht, also Teile der Familie schon. Ein Teil meiner Verwandten ist tatsächlich in den 1970ern schon nach Deutschland ausgewandert. Das hat auch einen bestimmten Grund. Aber ich weiß von einem Fall, da ist jemand 1928 aus der Ukraine noch geflüchtet. Irgendwie nachts über die Grenze. Dieser junge Mann hieß Benjamin. Der ist nie wieder aufgetaucht und wir wissen bis heute nicht, was aus ihm geworden ist. Das heißt, es gab keine legale Möglichkeit zu gehen.

Edwin: Bis 1929 hat Sowjetrussland noch Auslandspässe an Bürger ausgestellt, die auswandern wollten. Ab 1929 war diese Möglichkeit dann eingestellt worden. In der gesamten Zeit seit der Oktoberrevolution bis zum Jahr 1929 haben in verschiedenen Wellen, aber fast schon kontinuierlich, immer wieder Menschen versucht, einen Auslandspass zu erlangen, um auszuwandern. Was glaubst du, in welche Länder die Russlanddeutschen damals ausgewandert sind?

Ira: Also wir haben Verwandte in Kanada. Ich vermute mal, dass das dann doch viel Nordamerika war. Wie sind die Zahlen?

Edwin: Konkrete Zahlen habe ich jetzt nicht parat, aber ich habe zum Beispiel eine Zahl, dass zwischen 1922 und 1929 ungefähr 22.000 Personen, meistens mennonitischen Glaubens, legal ausgewandert sind. Und für diese Menschen war damals das Deutsche Reich bzw. die Weimarer Republik keine Option zum Auswandern gewesen. Sie haben das zwar schon so verstanden, dass es ihre „historische“ Heimat ist. Aber sie empfanden das Land als von Krisen erschüttert. Damals war in der Weimarer Republik die Wirtschaftskrise, später auch die Machtergreifung der Nationalsozialisten und sie empfanden das Land als überbevölkert.

Ira: Ich wollte noch ergänzen: Es ja nicht nur so, dass die da nicht hinwollten, sondern die wurden nicht aufgenommen. Also es gab tatsächlich Bemühungen, ins Reich zu kommen, denn man hatte dort noch Verwandte, in meiner Familie gab es noch Verwandte im Deutschen Reich. Die wurden nicht aufgenommen. Man hat diese Russlanddeutschen aus der Ukraine in der Zeit nicht mehr als richtige Deutsche wahrgenommen.

Edwin: Für viele war eben USA oder Kanada das ersehnte Ziel ihrer Emigrationswünsche. Bei mir in der Familie gab es Fälle von Immigration in dieser Zeit. 1929 sind ungefähr 10.000 Personen nach Moskau gereist, um dort zum letzten Mal einen Auslandspass bekommen zu können, um nach Kanada auszureisen. Allerdings bei weitem nicht alle haben diese Pässe bekommen und sind dann nach Kanada ausgewandert. Etwa 5600 Personen durften dann weiterziehen und der Rest musste in ihre Wohnorte zurückfahren. So geschah es auch meinen Urgroßeltern. Die waren 1929 in Moskau bei dieser Gruppe dabei, wurden aber abgewiesen und mussten wieder zurückreisen.

Abschiedsbild der Schwestern Ratzlaff mit Ehemännern kurz vor der Auswanderung nach Kanada. Moskau, 1929. Bild: privat

Ira: Kommt jetzt die Amur-Geschichte?

Edwin: Ja! Danach gab es nur noch illegale Möglichkeiten, das Land zu verlassen. Am spektakulärsten finde ich diesen Fall eines Dorfes, das in der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1930 komplett das Land verlassen haben. Es ist auch insofern eine bemerkenswerte Geschichte, als dass das die letzte freiwillige und die östlichste Kolonie von Russlanddeutschen im damals schon Sowjetrussland war. In dem Fall müsste man schon von der „Urenkelinnenkolonie“ sprechen, weil das Menschen waren, die ursprünglich in der Ukraine einmal gewandert sind, also von der Mutterkolonie in eine Tochterkolonie, von dort sind sie dann nach Westsibirien oder in den Ural gewandert und haben sich dann 1927, 1928 aufgemacht, um am Amur-Fluss neue Siedlung zu gründen. So langsam setzte die Kollektivierungspolitik ein. Die Bauern wurden enteignet und in kollektive Wirtschaften zusammengetrieben. Und auf der anderen Seite gab es antireligiöse und antikirchliche Gesetze. Fromme Christen, gläubige Christen wurden immer mehr bedrängt. Das war besonders für russlanddeutsche Mennoniten, aber auch für Lutheraner und Katholiken ein Grund, so weit wie möglich in Sowjetrussland zu auszuwandern. Das ist dann der russische Ferne Osten geworden, in der Nähe der Stadt Blagoweschtschensk.

Ira: Wo liegt das genau?

Edwin: Das liegt direkt an der chinesischen Grenze auf dem Fluss Amur. Amur ist der Grenzfluss zwischen Russland und China bzw. die chinesische Region Mandschurei. Damals, 1927 wollten die sowjetischen Behörden diese Grenzregion stärker besiedeln, um den Einfluss Chinas bzw. auch den Einfluss Japans einzudämmen, weil Japan zu der Zeit auf die Mandschurei Ansprüche erhoben hatte und in dieser Region Krieg gegen China führte. Wer lebte aber zu der Zeit schon in dieser Grenzregion? Es gab Kosakensiedlungen, die früher im Zarenreich gegründet wurden, um diese Grenzen zu beschützen und es gab dorthin ausgesiedelte, bzw. deportierte russische Molokanen. Es sind russisch-evangelische Menschen, die Freikirchen gegründet haben. Die Russlanddeutschen, die dorthin in diese Gegend gezogen sind, sind auf religiös gleichgesinnte Menschen, aber russischer Herkunft gestoßen. Das war ihre neue Nachbarschaft. 1927 gründeten sie in dieser Gegend ungefähr ein Dutzend deutsche Siedlungen. Die größte Siedlung hieß Schumanowka. Man hatte denen versprochen, dass sie sich frei entwickeln können und in beschränkter Weise auch ihre religiösen Freiheiten ausleben konnten. Aber schon ein Jahr später hat man denen dann, wie man so sagt, die Schrauben ziemlich eng gezogen und ab 1929 angefangen, die Kollektivierung stark voranzutreiben. Das war der Grund für die Menschen, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie das Land verlassen können. Gleichzeitig haben sie von ihren Verwandten erfahren, dass 1929 diese Gruppe in Moskau abgewiesen wurde. Auch erfuhren sie von den Nachbarn - von den Molokanen oder auch von den früheren Kosaken - dass es Möglichkeiten gibt, über den Fluss Amur nach China zu fliehen, um von dort entweder nach Europa oder Nordamerika zu gelangen. Und so haben sie angefangen, ihre Flucht zu planen. Diese gelang denen am 16. Dezember. Insgesamt 218 Personen, das gesamte Dorf Schumanowka ist geflohen. Nur zwei Personen haben sie in die Fluchtvorbereitung nicht eingeweiht.

Ira: Aber die zwei kamen dann mit?

Edwin: In der letzten Sekunde wurden sie gezwungen mitzukommen, weil hätten sie die zurückgelassen, dann hätten sie sie wahrscheinlich verpfiffen. Für die Flucht haben sie 60 Schlitten und sehr viele Pferde gebraucht, die sie davor nicht hatten. Sie sind eine List eingegangen: sie haben den sowjetischen Behörden gesagt, sie wollen im Winter nicht untätig sitzen, sondern Waldarbeiten in der Taiga verrichten. Dafür brauchten sie 60 Schlitten und soundso viele Pferde. Dann haben die Behörden gesagt: „Ach, die tüchtigen Deutschen, natürlich kriegen sie das. Die werden schon nichts Falsches machen.“ Nachdem sie bei -52 Grad losgefahren sind, haben sie die ganze Nacht gebraucht, bis sie am Fluss waren.

Ira: Du erzählst das so detailliert. Gibt es dazu ein Buch oder woher weißt du das alles? Oder steht das in eurer Familienchronik?

Edwin: Nein. Also, dass das meiner Familie passiert ist, habe ich vor ein paar Jahren auch nur ganz zufällig erfahren. Aber es gibt tatsächlich viele Berichte darüber. Und zwar gibt es ein Buch von Abraham Friesen und Abraham Löwen, in dem das zusammengefasst wird. Das ist ein paar Jahre nach dieser Flucht in Paraguay erschienen und heißt „Die Flucht über den Amur“. Es haben sich später immer wieder Zeitzeugen gemeldet. In verschiedenen Publikationen der Mennoniten in Süd- und Nordamerika sind diese Zeitzeugenberichte erschienen.

Ira: Aber erzähl mal weiter, die sind dann mit dem Schlitten über diesen Fluss. Ich habe vorhin gegoogelt. Das ist ja nicht nur irgendwie so ein kleines Flüsschen wie der Neckar oder der Rhein.

Edwin: Ja, sibirische Flüsse haben es an sich, so breit zu sein.

Ira: Und wie ging es dann weiter?

Edwin: Von den 218 Personen haben diese unmittelbare erste Flucht 217 überlebt. Es gab ein Opfer zu beklagen. Ein zweijähriges Mädchen ist erstickt. Sie war in Pelze eingewickelt. Einige haben sich schlimmste Erfrierungen zugezogen. Sie hatten aber einen chinesischen Guide, der die Strecke kannte. Er hatte sie in das nächste chinesische Dorf gebracht. Aus diesem haben sie dann Busse organisiert und sind in die nächste Verwaltungshauptstadt gefahren, um erstmal Visa zu bekommen, weil sie ja illegal in der Mandschurei waren. Als sie diese Papiere bekommen haben, sind sie in die mandschurische Metropole Harbin weitergefahren, wo sie dann ein Jahr lang gewartet haben, bis sie weitergezogen sind. Sie waren aber auch nicht die einzigen, die da unterwegs waren. Es waren noch viel mehr deutsche Siedler unterwegs und die haben sich alle nach und nach in Harbin getroffen.

Ira: Hat man dann aktiv nachdem gesucht oder war es dann erledigt?

Edwin: Nein, es war tatsächlich erledigt und sie hatten wirklich viel Glück, dass sie von den Grenzpatrouillen nicht erwischt wurden. Da gab es andere Gruppen, denen erging es bei diesen Fluchtversuchen schlimmer. Insgesamt waren das dann ungefähr 1300 Personen, die aus dieser Region diese Art von Flucht über den Fluss ergriffen haben und in die Mandschurei gelangt sind. Die sind im Februar 1932 weitergezogen. Und hast du so ein bisschen eine Ahnung, was in der Zeit in China, in dieser Region da so los war?

Ira: Nein, also ich weiß nicht, waren die da auch schon kommunistisch unterwegs?

Edwin: Das war die Zeit von Chiang Kai-shek. Es waren verschiedene chinesische Generäle, die versucht haben, China zusammenzuhalten, während Japan nach und nach China erobert hatte. Am 22. Februar 1932, als diese Gruppe Harbin Richtung Shanghai verlassen hatte, wurde Harbin von den Japanern eingenommen. Nach Zeitzeugenberichten sind sie unter Kugeldonner in den Zug gestiegen und in Richtung Shanghai gefahren. Die sind dann in Shanghai angekommen, das zwei Tage davor von den Japanern erobert wurde. Später sind sie von Shanghai mit einem Schiff über Hongkong, Hanoi nach Marseille gelangt. Von Marseille wurden sie über Le Havre in Frankreich, nach Buenos Aires verschifft und siedelten in Paraguay und in Brasilien. Eine unglaubliche Geschichte.

Ira: Das ist unglaublich. Weißt du, ob das schon verfilmt wurde oder irgendwie in Romanform vorliegt? Weil das der Stoff ist, aus dem Geschichten sind.

Edwin: Es gab ein Theaterstück, das die geflüchteten Mennoniten selbst inszeniert haben. Es wurde in Asuncion, der Hauptstadt Paraguays damals inszeniert. Ich weiß aber nicht, wie erfolgreich diese Inszenierung war.

Ira: Ich hoffe, das hört jetzt jemand und fühlt sich inspiriert, entweder was dazu zu schreiben oder ein Theaterstück oder wirklich ein Drehbuch zu konzipieren und dann ab ins Fernsehen oder in die Kinos.

Edwin: Das Bemerkenswerte an dieser Geschichte wie ich finde ist, wie stark der Wunsch damals war, die Sowjetunion zu verlassen. Diese Menschen wussten nichts, außer eben ihr Leben zu riskieren, um aus diesem Land wegzugehen. Insofern erging es uns, dir und mir, unseren Familien, dann ja „relativ“ einfach, die Sowjetunion bzw. Kasachstan zu verlassen.

Ira: Für uns war es dann einfacher. Deswegen kamen die allermeisten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und die allerallermeisten, glaube ich, tatsächlich 1994, in dem Jahr, in dem du gekommen bist, richtig?

Edwin: Ja, genau, 1994 sind 213.000 gekommen. Hast du eine Vorstellung darüber, oder weißt du, warum ab 1993 so viele gekommen sind?

Ira: Bis 1992 musste man nachweisen, dass man Verwandte in Deutschland hat und das war bei uns auch der Fall. Wir sind 1992 gekommen und nach 1993 musste man das nicht mehr nachweisen. Deswegen ist dann die Zahl gestiegen.

Edwin: Bis 1993 hatte man auf ein vyzov (eine Herausrufung) gewartet. Dieses Dokument hatte man von Verwandten bekommen, die für dich vor deutschen Beamten nachgewiesen haben, dass du zu der Familie gehörst und dass du deutsch bist. Ab 1993 konntest du dann als Russlanddeutscher selbst nachweisen, dass du ein Deutscher bist. Dafür musstest du vor einem deutschen Beamten das Bekenntnis zum „deutschen Volkstum“ ablegen. Was so krass klingt war eben, aus der Sicht der deutschen Beamten, nicht anders möglich gewesen, um zu prüfen, ob du dich zu deiner Herkunft bekannt hast. Wenn du dich dann so outest, warst du eben ein Angriffsziel für Behörden oder auch von der Bevölkerung (in der Sowjetunion – Anm. der Red.). Und du wurdest dann als ein Deutscher in der Sowjetunion diskriminiert.

Ira: Jetzt haben wir einen ganz großen Sprung gemacht zwischen Ende der 1920er und Anfang der 1990er Jahre. Was ist dazwischen passiert? Also wir haben die Deportation der Russlanddeutschen 1941, dann endet der Zweite Weltkrieg, die Deutschen leben immer noch in ihren Sondersiedlungen und müssen Zwangsarbeit in der Trudarmee verrichten. Stalin stirbt im März 1953. Wie verändert sich dann die Situation für die Russlanddeutschen? Und geht es dann endlich voran, dass sie auswandern können?

Edwin: Na ja, es ist so, dass auf der Seite der Bundesrepublik Deutschland das Bundesvertriebenengesetz eingerichtet wird, das heißt eine Grundlage, die man nutzen konnte, um in Deutschland als Aussiedler anerkannt zu werden. Aber die andere Seite, das war ja die sowjetische Seite, die haben die Menschen nicht rausgelassen. Es gab eine Behörde in der Sowjetunion, die hieß OVIR. Bei dieser Behörde hast du ein Ausreisevisum bekommen. Als Sowjetbürger brauchtest du nicht nur ein Einreisevisum, sondern du brauchtest ein Ausreisevisum.

Ira: War das auch noch in den 1990er Jahren so?

Edwin: Diese Behörde wurde 1993 abgeschafft. Das war eine Behörde des Innenministeriums. Das waren Sicherheitsbeamte, die für ihre Schikanen gegenüber den Menschen, die Ausreiseanträge gestellt haben oder die schon fertige Papiere auf der Hand hatten, aber eine Ausreiserlaubnis gebraucht haben, sehr gefürchtet waren.

Ab 1956 wurde die Kommandantur aufgehoben. Das heißt Menschen konnten sich zumindest mal frei innerhalb der Sowjetunion bewegen. Und besonders diejenigen, die den Status als Volksdeutsche hatten bemühten sich auszureisen. Ich glaube, den Begriff hatten wir schon mehrmals erklärt.

Ira: Vielleicht machen wir das an dieser Stelle trotzdem noch. In meiner Familie gibt es auch einige Menschen, die Volksdeutsche waren. Das sind Menschen, die im Rahmen des Zweiten Weltkriegs in deutschbesetzte Gebiete gelangt sind, zum Beispiel in den Warthegau, oder teilweise auch auf dem heutigen Bundesgebiet waren und dann eingebürgert worden sind. Sie sind später repatriiert worden, was die meisten in meiner Familie und generell diese Russlanddeutsche betraf. Sie sind zwangsweise in die Sowjetunion zurückgebracht worden. Ich habe einige Verwandte, die genau dieses Schicksal hatten. Sie haben diese deutschen Einbürgerungsurkunden jahrzehntelang egal wo sie waren mit sich herumgeschleppt. Eine Tante von mir hatte das in einen Kissenbezug eingenäht. Die hatten wahnsinnige Angst, dass es jemand mitbekommt, weil so was darfst du in der Sowjetunion als Deutscher nicht besitzen. Die wussten aber, dass es ein wichtiges Dokument ist. Und als sich die Situation in den 1970er Jahren ein wenig entspannte, haben sie tatsächlich dieses Dokument rausgeholt und konnten auf diese Weise dann nachweisen, dass sie schon eingebürgert waren und konnten in den 1970er Jahren auswandern, wenn sie von sowjetischer Seite auch rausgelassen worden. Wie oft sie es aber vorher probiert hatten, das weiß ich nicht, denn es gibt Menschen, die, bis sie dann endlich mal rausgelassen worden sind über 100-mal so einen Antrag gestellt haben.

Edwin: Ich hatte mal eine Dame während meines Studiums in München im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes kennengelernt. Das war Frau Aschenbrenner. Sie erzählte, dass ihre Mutter ab 1956 sofort ab dem ersten Tag, als sie erfahren hat, dass die Kommandantur aufgehoben wurde, sich um die Ausreise nach Deutschland bemüht hatte. Sie lebten in Omsk, in Sibirien. Die Frau war eine Wolgadeutsche, verheiratet mit einem sogenannten Reichsdeutschen, also jemanden, der wirklich aus Deutschland kam, in der Sowjetunion gearbeitet hatte aber dann 1937 im Stalinismus, während des Großen Terrors, erschossen wurde. Sie hatten eine vollwertige deutsche Staatsbürgerschaft und haben ein paar Jahre gekämpft bevor sie dann, ich glaube 1959 aussiedeln durften. Wahrscheinlich waren sie unter den ersten Aussiedler aus der Sowjetunion. Eine sehr toughe Frau, die ihr Leben lang sich dafür eingesetzt, wie sie gesagt hatte, ihre Landsleute aus der Sowjetunion rauszubekommen. Das war auch der große Verdienst solcher Vereine oder Interessensvertretungen, Organisationen der Russlanddeutschen wie der Landsmannschaft. Diese wurde nach dem Krieg gegründet und hatte zum Ziel, den Leuten zu helfen, die Sowjetunion zu verlassen. In den ersten Jahrzehnten waren es sehr viele Schwarzmeerdeutsche aus dem Gebiet Odessa, wie du gesagt hast, mit diesem Status als Volksdeutsche. Das waren auch diejenigen, die ab den 1950er / 1960er Jahren von hier aus sich dafür eingesetzt haben, ihre Leute rauszurufen, für ihre Leute zu kämpfen, an die Bundesbehörden heranzutreten, Demonstrationen zu veranstalten. Und auf der anderen Seite formierte sich in der Sowjetunion eine russlanddeutsche Dissidentenbewegung, die verschiedenste Art von Aktionen, aber auch Petitionen initiiert haben, wo sie sich für die freie Ausreise eingesetzt haben.

Ira: Vielleicht sollten wir an dieser Stelle noch mal ganz kurz sagen, warum diese deutschstämmigen Menschen aus der Sowjetunion raus wollten. Also für uns ist das völlig klar, aber jemand, der sich gar nicht mit der Geschichte der Russlanddeutschen auskennt, der denkt sich vielleicht: „okay, Sowjetunion war vielleicht nicht so cool, aber was hatten die denn jetzt für einen Punkt?“

Edwin: Es gibt ein interessantes Dokument. Das war eine Eingabe an den Obersten Sowjet und da wurde das formuliert, was diese Menschen bewegt hat, damals die Sowjetunion zu verlassen. Und das war vor allem der Kulturverlust und der Sprachverlust, den sie nach den Deportationen ausgesetzt waren. Sie hatten wirklich Angst um ihre Identität. Das war ihr erster Grund.

Ira: Und auf ihnen lastete nach dem Zweiten Weltkrieg das Stigma als Kollaborateure angesehen zu werden, so als hätten sie irgendwie heimlich Hitler doch unterstützt. Aufgrund dessen wurden sie bis weit in die 1980er Jahre diskriminiert. Selbst meine Eltern wurden noch diskriminiert, auch wenn vielleicht nicht so bewusst und offensichtlich, aber allein, dass es Zulassungsquoten für Hochschulen usw. gab, oder dass man den Wohnort nicht frei wählen konnte, ist Diskriminierung.

Edwin: Es gab eine Reihe sehr mutiger Menschen, die sich damals dafür eingesetzt haben. Über ein Schicksal wolltest du uns heute erzählen.

Ira: Ja, es gibt einige. Es gab eine Frau, die hieß Ludmilla Oldenburger und sie wurde 1930 geboren, im Raum Odessa, in der deutschen Kolonie mit dem Namen Selz. Sie war während des Zweiten Weltkriegs auch in das besetzte Polen gelangt und wurde dann eingebürgert. Nach Ende des Krieges wurde sie repatriiert. Nach Sondersiedlung und Zwangsarbeit kam diese Frau im Alter von 36 mit ihrem russlanddeutschen Ehemann nach Karaganda. Dort haben sie sich dafür eingesetzt, dass sie ausreisen dürfen. Irgendwann sind sie auf die Idee gekommen, nach Estland auszuwandern. Dort hat sie sich einer Gruppe angeschlossen, die auch deutschstämmige waren und die auch ausreisen wollten. Zusammen mit anderen war sie im Februar 1974 bei einer unerlaubten Demonstration in Moskau. Vor dem Gebäude des Zentralkomitees der Partei haben sie für ihre Ausreise demonstriert. Davor haben sie Medien im Westen informiert, das heißt, da wussten schon Leute, da passiert etwas und deswegen wurde später darüber berichtet. Denn diese Frau, diese Ludmilla, hat etwas Außergewöhnliches gemacht. Als die Demo drohte durch die Polizei und Geheimdienst aufgelöst zu werden, hat sie sich und ihre zwei Kinder an eine Verkehrsampel gekettet. Es hat eine Stunde gedauert, bis man sie losbekommen hatte. Ich weiß nicht, inwiefern da Medien aus dem Westen zugelassen waren, aber irgendjemand hat es geschafft Bilder zu machen. Diese Bilder gingen dann um die Welt. Sie wurde verhaftet und zu drei Jahren Haft verurteilt, die anschließend in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde. Das Ganze hat so viel Aufsehen bei Amnesty International, bei Lew Kopelew, bei Andrej Sacharow und auch bei Helmut Kohl erregt, der sich dann dafür bei der Regierung einsetzte, dass sie doch aus der Sowjetunion rausgelassen wurde. Sie ist im April 1976 mit ihrer Familie nach Deutschland ausgesiedelt. Anschließend war sie aktiv, hat über ihre Zeit in der Sowjetunion und diese spektakuläre Demonstration vor Schulklassen erzählt und hat sich bis zu ihrem Lebensende um diese Geschichte und Aufklärung bemüht.

Edwin: Eine sehr spannende Geschichte und eine sehr bewundernswerte Person. Wer weitere Personen oder Menschen aus dieser Zeit kennenlernen will oder ihre Geschichten kennenlernen will, der findet im Online Dossier Russlanddeutsche der Bundeszentrale für politische Bildung unter der Rubrik Samisdat Geschichten, Dokumente und Biografien von den Menschen, die sich damals in diesen Prozessen hervorgetan haben.

Ira: Ich hatte im Rahmen von ihrer Geschichte auch noch weiter recherchiert. Es gab nicht nur in Estland diese Bewegungen, sondern auch zunehmend in Zentralasien, also in Kasachstan, in Kirgistan, so dass Leute sich auf solche Ausreiselisten haben setzen lassen, die dann nach Estland gebracht worden sind, dann nach Moskau, dann nach Deutschland gelangt sind, sodass man auch von deutscher Seite diese Auswanderungswilligen unterstützt hatte. Also es gab diese Gruppen, aber so richtig viele hat man nicht rausgelassen. Hast du konkrete Zahlen gefunden bis in die 1980er?

Edwin: Einige 10.000. Es waren nicht wirklich viele, die in den 1970er Jahren rausgekommen sind. Aber nach der Schlussakte von Helsinki gab es zumindest ein Dokument, das die Sowjetunion mitunterzeichnet hat, was als eine Legitimationsgrundlage für diese Menschen gedient hat. Und sie haben immer wieder die Behörden darauf hingewiesen, dass die Sowjetunion die unbeschränkte Bewegungsfreiheit der Menschen fördert. Insofern waren die Behörden dann auch in einem Zugzwang gebracht worden. Insofern gab es ab 1974 dann ein besseres Klima für die Auswanderung oder für die Ausreise. Aber ab den 1980er Jahren, nachdem Generalsekretär Breschnew an die Macht gekommen ist, gab es wieder größere Hürden, weil dann auch der Kalte Krieg sich wieder verstärkt hatte. Auswirkungen von diesen Prozessen waren zum Beispiel auch Äußerungen von zivilem Widerstand. Eine Geschichte hat mich extrem bewegt und ich bin immer noch zwiegespalten, wie man sie erzählt, weil sie mit einer Flugzeugentführung verbunden ist.

Ira: Genau darauf wollte ich dich jetzt nämlich ansprechen, weil wir jetzt in den 1980er in unserer kleinen Zeitreise sind und im November 1982 ist etwas ganz Besonderes passiert.

Ankunft in Deutschland. Bild: MrK

Edwin: Diese Geschichte ereignete sich am 7. November 1982. Zwei Brüder sowie ihr Freund, alle zwischen 20 und 27 Jahre alt, haben beschlossen eine Aeroflot-Maschine auf ihrem Flug von Noworossijsk, das ist Gebiet Kuban im heutigen Russland, nach Odessa, in die heutige Ukraine zu kidnappen. Was waren Ihre Motive? Seit 1978 haben vor allem diese zwei Brüder versucht, legal anzusiedeln. Sie haben zig Male bei dieser Behörde ihre Dokumente für die Genehmigung eines Ausreisevisums aus der Sowjetunion eingereicht. 1982 haben sie zum wiederholten Mal eine Absage bekommen. Und das hatte wohl das Fass zum Überlaufen gebracht. Das war nicht die erste Flugzeugentführung mit diesem Ziel. Flugzeugentführungen zum Zwecke der Emigration aus der Sowjetunion gab es auch schon davor. Vor allem aus dem Baltikum sind Maschinen von Litauern und Esten entführt worden, die dann entweder nach Finnland oder wo auch immer dann weg wollten. Diese „Entführung“ ist dann den Dreien gelungen. Diese Maschine ist dann auf Natogebiet in der Türkei gelandet. Die türkischen Behörden haben die drei Männer verhaftet und haben sie zu neun Jahren Haft verurteilt. Allerdings haben die Drei drei Jahre später, 1985, von der Bundesrepublik die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. 1986 wurden sie vorzeitig aus der Haft entlassen und lebten dann anschließend in Süddeutschland. Und soweit ich weiß, leben sie immer noch da. Es ist eine sehr dramatische Geschichte.

Wie gesagt, wir haben Fälle von legaler Migration. Es ist auch Menschen legal ermöglicht worden, nachdem sie zehnmal diese Eingaben dann eingereicht haben. Vor allem in den Randrepubliken in den baltischen Staaten gelang es, Menschen dann auszusiedeln. Dann gab es diesen zivilen Widerstand, wie im Fall von Frau Oldenburger. Und es gab dann eben diesen Fall. Also insofern gab es alle extremen Auswirkungen dieses Ausreisewillens.

Ira: Ich finde diese Flugzeugentführungsgeschichte so krass. Ich finde auch die sollte unbedingt jemand mal ganz detailliert recherchieren und darüber irgendwas machen, weil ich bin mir sicher, das weiß kaum jemand. Also niemand bringt die Ausreise der Russlanddeutschen aus der Sowjetunion mit Flugzeugentführungen in Verbindung. Das ist außergewöhnlich. Und vor allem wenn du sagst, die Leute leben noch in Süddeutschland, also vielleicht können wir die mal besuchen.

Dann kommen wir auch schon zu der größten Auswanderungswelle. Wir landen einfach da, wo unsere Geschichte anfängt. Wir sind beide Kinder der 1980er Jahre. Und in den 1980er Jahren hat sich dann doch durch Gorbatschows Reformen vieles verändert. Und das hatte auch Konsequenzen für die Deutschstämmigen in der Sowjetunion, für die die Ausreise plötzlich möglich wurde.

Edwin: Für viele aus unserer Generation ist es so eine Selbstverständlichkeit gewesen. Ich weiß nicht, wie es bei dir war, aber ein großer Teil meiner Mitschüler aus damals noch Alma-Ata, die leben jetzt weit verstreut in verschiedensten Ecken dieser Welt. Es war eine Ausreisebewegung, die nicht nur die Deutschen betraf. Alle wollten weg. Ich habe frühere MitschülerInnen, die in Israel leben, in der Russischen Föderation, in Kanada, in den USA, hier in Europa. Es gab sehr viel ethnische Migration. Nicht nur Russlanddeutsche, sondern Finnen aus Russland, bzw. aus Karelien sind nach Finnland ausgesiedelt. Finnland hatte mal so ein Programm. Griechen, die auch mit uns zusammen in Kasachstan gelebt haben, weil sie aus dem Schwarzmeergebiet und von der Krim auch dorthin deportiert worden waren, die sind nach Griechenland gegangen. Und vor allem sehr viele Menschen jüdischer Herkunft sind nach Israel oder in die USA gegangen.

Diese Aussiedlung vor allem aus der Russischen Föderation und zum Teil auch aus Kasachstan und aus der Ukraine hat jetzt wieder dramatische Züge angenommen. Also die Menschen, die siedeln nicht einfach nur geordnet aus, sondern zum Teil Hals über Kopf, weil auf der einen Seite, in der Russischen Föderation vor allem die Männer von der Zwangsmobilisierung betroffen sind und aus der Ukraine, da sie vom Krieg betroffen sind. Die nutzen jetzt diese Möglichkeit, als deutsche Aussiedler hier in Deutschland aufgenommen zu werden, um diesen Katastrophen zu entfliehen. Insofern hat es wieder so eine dramatische Dynamik angenommen.

Warum es mir so wichtig ist, dass wir darüber sprechen, ist: bei den Migrationsdebatten hier in Deutschland werden die Perspektiven der Russlanddeutschen unter anderem auch deswegen nicht angenommen, weil diese Art von Migration nicht als eine vollwertige Migration betrachtet wird. Die wird nicht in diesen dramatischen Dimensionen betrachtet. Sie wird sogar noch mehr als privilegierte Migration bezeichnet. Eine ethnisch motivierte Migration. Eine Sache, die in einem modernen europäischen Land keine Rolle spielen sollte. Und „Geschichten der Aussiedler bleiben unsichtbar, weil sie unter Intellektuellen und innerhalb des Bildungsbürgertums als uncool gelten. Sie werden ein bisschen so gesehen wie die peinlichen Dorfverwandten, derer man sich schämt.“ Das sage nicht ich, sondern das, sagt der Philosoph und Soziologe Jan Plamper in seinem Buch „Das neue Wir“. Und sein Rezept ist: Er sagt, dass man diese Migrationsbewegung der russlanddeutschen Aussiedler, aber auch der Aussiedler aus Polen und Rumänien als eine dramatische Geschichte erzählen müsste. Das hat viel mehr mit Dissidententum zu tun als man meint. Das hat viel mehr mit solchen Erscheinungen und Ereignissen zu tun, über die wir jetzt gerade besprochen haben. Und diese Geschichten müssen mehr und breiter erzählt werden, damit auch ein bisschen mehr Empathie und Verständnis in unsere Gesellschaft einkehrt.

Ira: Ich finde es trotzdem wichtig auch zu sagen, dass Russlanddeutsche, gerade die älteren oder konservativen auch selbst in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen haben, dass sie eben als nicht die Migrantinnen und Migranten wahrgenommen werden und sich gegen diesen Begriff wehren. Deswegen hat es verschiedene Gründe, warum wir so wahrgenommen werden, wie wir wahrgenommen werden.

Edwin: Das ist richtig. Aber es ist interessant, über diese Unterschiede zu sprechen. Es ist nicht eins zu eins die eine Art von Migration und die andere Art von Migration. Das hat alles irgendwie so ihre eigene Entwicklung gehabt, ihre eigene Geschichte, Motive. Aber darüber zu sprechen und darüber kompetent und aufrecht zu sprechen, das ist ja sinnstiftend.

Ira: Ich glaube, ganz wichtig ist: Wir betonen das vielleicht einfach nochmal an dieser Stelle, dass unsere Eltern und Großeltern nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen hergekommen sind. Natürlich hat es dann gerade ab den 1980er Jahren und bei uns war es dann Anfang der 1990er, als wir hergekommen sind, eine Rolle gespielt. Aber die erste Motivation war ja trotzdem, dass man als Deutscher diskriminierende und repressive Erfahrungen gesammelt hatte und man sich in diesem Zustand des Zusammenbruchs eines Landes wieder möglicherweise mit Dingen konfrontiert sah, die man bereits erlebt hatte. Also dass diese Ungewissheit ob der eigenen Zukunft mit der Abstammung tatsächlich zu tun hat. In der Sowjetunion hatte man gelernt, als Deutscher bist du dann der erste, der deportiert wird.

Edwin: Um das vielleicht in einen allgemeineren Kontext zu bringen: Nicht nur als Deutscher, sondern als Angehöriger einer bestimmten Minderheit, die von dem System, von der Gesellschaft stigmatisiert wird. Und das sind ja nicht nur die Deutschen gewesen, das sind auch die Juden gewesen, das sind auch Griechen gewesen, das sind Finnen gewesen, das sind Koreaner gewesen, das sind alles Minderheiten gewesen mit einem Kin-state außerhalb Russlands, das heißt, keine dort verwurzelte Minderheit, die schon immer da auf diesem Gebiet gelebt hat. Und so ist man dann immer ein Spielball in diesem System gewesen. Das ist der Grund gewesen, warum die Menschen in diesem System es damals nicht ausgehalten haben, weil sie da keinen Platz hatten. Und wir hatten eben einen Hafen „hier“ in Deutschland gefunden, weil Deutschland bereit war, auch unter anderem aus dem Zugeständnis ihrer Teilschuld an diesem Kollektivschicksal, uns aufzunehmen. Es gab aber auch andere Länder, wohin diese Menschen gegangen sind - nach Paraguay, nach Brasilien, nach Kanada, in die USA.

Ira: Übrigens sind ja auch ganz viele von diesen Volksdeutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Bundesgebiet geblieben sind, weitergezogen. Ich glaube, ein Drittel oder so ist dann wiederum nach Nord- und Südamerika ausgewandert. Die sind gar nicht in der DDR oder BRD geblieben.

Edwin: Richtig, genau denen ging es nicht um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturraum, sondern denen ging es um Perspektiven, auch wirtschaftlicher Natur. Das sind Landwirte gewesen, die dahin gegangen sind, wo es diese Möglichkeiten gab, das zu bekommen. Und deswegen sind viele nach Kanada oder in die USA gezogen, wo es eben die Möglichkeiten gab, das zu verwirklichen.

Ira: Haben wir jetzt alles gesagt, was uns wichtig war zu dem Thema.

Edwin: Wenn wir etwas vergessen haben, dann werden wir in einer der nächsten Folgen diese Themen nochmal aufgreifen, weil ich glaube, darüber kann man nicht oft genug sprechen.