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Krieg in der Ukraine: Russlanddeutsche Perspektiven

Was haben Russlanddeutsche historisch mit der Ukraine zu tun und wie wirkt der russische Angriffskrieg auf die Gruppe in Deutschland? Dazu sprachen Ira Peter und Edwin Warkentin mit Professor Andreas Otto Weber im Haus des Deutschen Ostens in München. Die Folge ist ein Mitschnitt dieses Gesprächs vor Publikum.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Darf sie ganz herzlich hier im Haus des deutschen Ostens begrüßen. Freut mich, dass wir ein sehr interessiertes Publikum heute haben. Ich sehe viele neue Gesichter. Darum mache ich etwas, was ich sonst nicht machen muss, ich stelle mich auch kurz vor. Mein Name ist Andreas Otto Weber. Ich bin der Direktor dieses Hauses des deutschen Ostens, Historiker und wir werden heute unsere Reihe „Die Deutschen in der Ukraine im Fokus“ beginnen. Ja, wir hatten uns gedacht, dass wir als Einstieg in unser heutiges Gespräch erst einmal einen Rückblick geben. Wie ist eigentlich Deutsche Siedlung in der Ukraine, die damals noch Russisches Zarenreich war, geschehen, und wo hat sich das abgespielt? Vielleicht können Sie, lieber Herr Warkentin, uns da einfach mal einen kurzen Einblick geben.

Edwin: Erst mal herzlichen Dank für die Einladung und danke, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Dass es uns mit Freude erfüllt, darf ich wahrscheinlich auch für dich sagen.

Ira: Auf jeden Fall ja. Schönen guten Abend!

Edwin: Für uns ist es auch eine Premiere. Wir machen zum ersten Mal so einen Live-Talk und haben gedacht, dann schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe und zeichnen das heutige Gespräch auch auf. Wolltest du auch noch was sagen?

Ira: Nein, ich freue mich, hier zu sein. Wir sitzen hier vor einem vollbesetzten Raum in München, im Haus des deutschen Ostens. Als unser Podcast, als wir ihn 2020 gestartet ist, hatten wir uns eigentlich vorgenommen, dass wir über Kultur sprechen werden, über Geschichte, und wir wollen niemals politisch werden, und am 24. Februar 2022 hatten wir keine Wahl mehr. Wir mussten politisch werden, denn es ist eben der russische Angriffskrieg ausgebrochen, und er ließ uns keine andere Möglichkeit. Nun ist es ein Jahr her, und wir sprechen über das Jahr, das hinter uns liegt, und die erste Frage darfst du dann auch direkt beantworten.

Edwin: Ja, wir beide persönlich haben mit der Ukraine zu tun, zu tun gehabt, sowohl in unserem beruflichen Leben als auch bei mir im Studium. Ich habe mich hier an der Ludwig-Maximilians-Universität am Institut für Geschichte Ost-Südosteuropas auch mit der Ukraine beschäftigt. Ich fand es schon immer sehr spannend, sich mit dieser, mit diesem Land, mit diesem Volk, mit dieser Nation zu beschäftigen, und dann habe ich auch noch so ein Fabel für die ukrainische Sprache. Ich fand sie schon immer sehr attraktiv und wollte die Themen für mich- Leider waren meine Aufenthalte in der Ukraine immer viel zu kurz, und die waren auch oft in Städten, wo ich tatsächlich dann von Ukrainern angehalten wurde, doch mit denen Russisch zu sprechen, weil dann können wir auch einfacher miteinander kommunizieren. Ich war sehr viel in Kyiv. Ich war auch mehrmals auf der Krim, auch dank Katrin Kazubko, die hier die Studiobühne an der LMU leitet und wir hatten gemeinsame Theaterprojekte mit Kyiv.

Und natürlich ist es auch die Familiengeschichte, die uns emotional mit der heutigen Ukraine verbindet. Sowohl Iras Großeltern stammen beiderseits aus der Ukraine, aus dem nordwestlichen Teil der Ukraine aus Wolhynien, und ein Teil meiner Verwandtschaft väterlicherseits stammt aus der südlichen Ukraine, aus dem Gebiet Cherson, in dem gerade so hart gekämpft wird, und das schon seit einem Jahr und mich hat es zutiefst bewegt, Orte in der Kriegsberichterstattung zu hören, die mit meiner Familiengeschichte zu tun haben. Wobei meine Vorfahren, in dem Fall Urgroßeltern, sind, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts freiwillig aus dieser Region dann nach Sibirien gegangen. Ausnahmsweise, denn sonst ist die russlanddeutsche Geschichte eher mit Zwangsumsiedlung, Deportation verbunden. Aber da war das ein freiwilliger Wegzug nach Südsibirien. Zu ihrer Frage, Herr Professor Weber, was es denn mit dem deutschen Kulturgut in der Ukraine auf sich hat? Wie ist das eine zum anderen gekommen? Es ist auch ein sehr aktuelles Thema, diese historischen Zusammenhänge, über die wir jetzt auch schon seit zwei Jahren sprechen, über die wir Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold sprechen. Und zwar ist das Ausdruck der Kolonialgeschichte des Russischen Reiches, das damals eben die Deutsche Siedler dahin gebracht hat. Also, es wurden Gebiete erobert gegen das Osmanische Reich, die heutige Südukraine, die Nordküste des Schwarzen Meeres, aber auch die Krim, darüber hinaus auch der Südkaukasus, der heute aus den drei südkaukasischen Republiken Armenien, Georgien, Aserbaidschan besteht, aber auch die südlichen Steppen Russlands, das Wolgagebiet zum Beispiel. Diese Steppengebiete, die wurden dann eben durch christliche, Landwirtschaft betreibende Siedler aufgesiedelt, auf Kosten der autochthonen Minderheiten, die es da eben schon gab. Das waren nomadisierende Völkerschaften, die dann quasi Leidtragende waren aus dieser Kolonialgeschichte des russischen Reiches. Und die heutige Ukraine hat zum Teil eben dieses Kolonialerbe auch übernommen. Denn diese südlichen Gebiete, die sind erst seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in das russische Reich annektiert worden, unter anderem auch die Krim, und das waren die Gebiete, in die die deutschen Siedler damals angesiedelt wurden. Und wenn wir heute in einer historischen Perspektive von den Deutschen in der Ukraine sprechen, dann sprechen wir auch von verschiedenen Gruppen. Die sind nicht homogen. Zum größten Teil waren das Kolonisten, die mit einem Privileg ausgestattet dahin eingewandert sind und Kolonien gegründet haben. Die haben fast 100 Jahre relativ isoliert in ihren Kolonien gelebt. Sie hatten Rechte der Selbstverwaltung, sie konnten zum größten Teil ihre Geschäfte selbst auch bestimmen, sie hatten religiöse Unabhängigkeit, sie hatten aber auch gewisse Pflichten, denn die Vorstellung der Zarenregierung war, dass diese Menschen dann gut in die Gesellschaft des russischen Reichs integriert sind, solange sie das machen, wofür sie geholt wurden und zwar dieses Gebiet für die Russische Krone, für die Zarenkrone zu kolonisieren. Und zum Teil ist es auch auf Kosten der Ukrainer passiert, in dieser Übergangsregion zwischen den historisch von Slaven, also Ukrainern besiedelten Gebieten und dem Übergang zu der südlichen Steppe.

Und wir werden auch oft gefragt, wie wir auf diesen Titel Steppenkinder gekommen sind. Sie haben ja angesprochen, dass wir zwei in Kasachstan auf die Welt gekommen sind. Wobei ich immer präzisiere und sage, ich bin in einem Staat geboren, der hieß Sowjetunion, und Teil dieser Sowjetunion war eben das heutige Kasachstan. Und während eben diese Siedler damals von den Zaren in diese Steppengebiet geholt wurden und die sind natürlich freiwillig dahin gegangen, um dieses Kolonisierungswerk auch zu vollziehen, sind sie dann später zwangsweise nach Südsibirien und nach Zentralasien, nach Kasachstan, deportiert worden und lebten dann wieder in der Steppe. Insofern beschreibt diese Steppe eben sehr vieles, worüber wir in unserem Podcast sprechen. Wir widmen immer die Folgen einem Aspekt, einem historischen Aspekt, aber versuchen das natürlich auch in die Gegenwart zu übertragen. Nochmal vielleicht kurz: Diese verschiedenen Gruppen sind innerhalb von knapp 100 Jahren ins Russische Reich eingesiedelt. Insgesamt waren das ungefähr nur 100.000 Deutsche, die in das gesamte Russische Reich eingesiedelt sind. Aber ungefähr die Hälfte bis Zweidrittel sind auf das Gebiet der heutigen Ukraine damals eingesiedelt worden, und es gab verschiedene Regionen, in denen diese Menschen gelebt haben. Ein großer Teil war eben in Wolhynien, da, wo Iras Großeltern herstammen. Das ist die nordwestliche Region. Die wurde erst im Zuge der Teilung Polens dann Teil des Russischen Reiches und wurde dann von diesen deutschen Siedlern besiedelt. Und im Süden der Ukraine sprechen wir eben von den Schwarzmeerdeutschen, die um die große Stadt oder angesiedelt wurden, dann auch Bessarabien, das ist die Grenzregion zum heutigen Moldau, aber dann übergehend auch in die Republik Moldau und die Krim. Die Krim bildete auch so was wie eine größere zusammenhängende Kolonie von deutschen Siedlern damals im Russischen Reich. Eine Gruppe müsste man wahrscheinlich hervorheben. Eine relativ große Gruppe, die aber sehr markant ist, das waren die Mennoniten. Die stammten aus Westpreußen, waren kurz davor noch untertan der polnischen Könige. Sie wurden damals als Glaubensflüchtlinge aufgenommen, nachdem sie in der spanischen Niederlande verfolgt wurden. Damals heißt im 16 Jahrhundert. Diese Mennoniten wurden damals nach der Angliederung an Preußen gezwungen, Wehrdienst zu leisten. Nur dann haben sie vollständige Bürgerrechte in Preußen bekommen und diese Glaubensgemeinschaft ist eine relativ alte Täufergemeinschaft und eins der wichtigsten Postulate von ihnen ist eben die Wehrfreiheit, also die dienen nicht im Militär und greifen nicht zur Waffe und das hat sie damals bewogen, Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, eben auf dieses Einladungsmanifest der Katharina zurückzugreifen und nach Russland auszuwandern, weil hier denen Religionsfreiheit in Aussicht gestellt wurde. Und so lebten sie in diesem Übergangsbereich zur südlichen Ukraine, zum größten Teil um die heutige Stadt Saporischschja. Diese Stadt ist ein sehr bedeutender Ort auch für das ukrainische Nationalbewusstsein, weil das ist das Gebiet der Saporischschja-Kosaken, also quasi das, woraus die Ukrainer auch ihre staatliche kulturelle Identität schöpfen.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Ja, herzlichen Dank! Interessant für mich jetzt, dass ich noch vor genau 14 Tagen auf einer Tagung unseres Hauses im Kloster Banz in Oberfranken über Glaubensflüchtlinge in der frühen Neuzeit war und da auch einen Vortrag zu diesen Mennonitensiedlung, aber eben in Westpreußen in Weichseldelta kam. Das ist eben dann die weitere Geschichte dieser Bevölkerungsgruppe in dieser Gegend, die nicht zur Ruhe kommen im Endeffekt. Die Geschichte spielt mit diesen Gruppen von Menschen. Kommen wir nun aus der historischen Perspektive vielleicht direkt in das Jetzt. Jetzt beobachten Sie seit einem Jahr, wie sich die Menschen in der Ukraine und eben auch die Deutschen in der Ukraine in dieser schrecklichen Kriegssituation zurechtfinden müssen. Sie hören davon, wie sie leben, Sie sind mit ihnen in Kontakt. Wie ist denn die Situation aktuell, wenn wir jetzt nach einem Jahr zurückblicken? Was sind Ihre Erfahrungen, was hören Sie da?

Ira: Ganz unterschiedlich. Viele meiner Bekannten und Freunde aus der Ukraine haben das Land mittlerweile verlassen. Viele sind aber auch geblieben und sie haben sich an den Krieg gewöhnt. Das erstaunt mich jedes Mal, wenn wir telefonieren und man im Hintergrund Alarm hört und die sind ganz entspannt und wollen, dass ich ihnen irgendwas aus meinem Alltag erzähle, und sie wollen gar nicht über den Krieg sprechen. Ich bewundere ihre Stärke und finde es auch gleichzeitig erschreckend, dass man sich an so etwas wie ein Krieg gewöhnen kann und dass er dann Alltag wird. Ich führe für den Rat der Deutschen der Ukraine Interviews mit Deutschstämmigen in der Ukraine und da sind die meisten noch in der Ukraine und machen auch weiterhin Kulturarbeit. Also ich habe zum Beispiel mit einer Frau aus Kyiv, Svetlana heißt sie, kürzlich gesprochen. Sie leitet eine Tanzgruppe in Kyiv für junge Deutschstämmige und sie meinte, dass sehr viele ihrer Tanzschülerinnen nach Deutschland geflohen sind, aber sie in demselben Maße neue Teilnehmer gewonnen hat, die jetzt Kontakt suchen zu einer Gruppe, die irgendwie versuchen, sich zu engagieren und auch einfach auf andere Gedanken zu kommen. Die haben manchmal Tanztraining dann einfach im Bombenkeller. Das ist völlig normal geworden und gibt den Kindern, aber auch ihr selbst Mut und Kraft und das ist so das, woran sich die Leute im Moment festhalten. Viele sind aber auch nach Deutschland gekommen und deutschstämmige versuchen auch hier als Spätaussiedlerin anerkannt zu werden. Dazu kannst du uns vielleicht etwas sagen.

Edwin: Ja, vor dem Krieg lebten etwa 33.000 Angehörige dieser Minderheit in der Ukraine. Die Ukraine ist eben ein multiethnischer Staat. Es leben nicht nur Ukrainer und Menschen, die sich eher zur russischen Kultur und Sprache bekennen, sondern wir haben da auch vielfältige Minderheiten. Es ist auch ein sehr spannendes Land, wenn man sich eben für solche Fragen interessiert. Es gibt neben den Krimtataren auf der Krim, Ungarn im Karpatengebiet, aber auch Rumänen, Moldauer oder Polen und so weiter und so fort. Und eine dieser Minderheit sind eben noch die Russlanddeutschen. Wobei die Russlanddeutschen während des Zweiten Weltkrieg und auch während des Ersten Weltkrieges auch nach Sibirien, Kasachstan deportiert wurden und diejenigen, mit denen wir es heute zu tun haben, sind zum Teil Nachfahren dieser Ukrainedeutschen, die dann wieder in die Ukraine zurückgewandert sind und die bilden diese Gruppe, die wir als die deutsche Minderheit in der Ukraine bezeichnen. Von den 33.000 lässt sich schwer sagen, wie viele jetzt geflohen sind. Es gibt jetzt kein besonderes Aufnahmeprogramm der Bundesrepublik für diese Menschen. Also Israel hatte zum Beispiel in ersten Tagen des Krieges Flugzeuge für Angehörige der jüdischen Gemeinden gechartert und bei der deutschen Minderheit war das eher so, dass sie dann eine Erleichterung bekommen haben, ihr Aufnahmeverfahren nach dem Bundesvertriebenengesetz als Spätaussiedler dann hier in Deutschland zu betreiben. Das heißt, wenn man jetzt in Kasachstan lebend ist oder in der Russischen Föderation, dann muss man dieses Antragsprozedere von dort betreiben. Für die Ukrainer ist es so, dass sie direkt nach Friedland zu der Erstaufnahmestelle fahren können und hier dann den Antrag einreichen, um die Bearbeitung in Deutschland abzuwarten. Im Falle der Ablehnung können sie immer noch als Kriegsflüchtlinge hier aufgenommen werden. Insofern gibt es für sie schon eine Erleichterung, aber nicht viele haben bisher von diesen Erleichterung Gebrauch gemacht, denn der Vorsitzenden des Rates der Deutschen in der Ukraine schätzt, dass ungefähr 10 bis 20 Prozent dieser Minderheit jetzt in diesem vergangenen Jahr des Krieges das Land verlassen haben. Er bestätigt auch, dass die Begegnungsstätten der Minderheit –die zum Teil auch durch Mittel des Bundesinnenministeriums finanziert werden, aber auch durch die Ukraine – sogar noch einen regeren Zulauf erfahren, weil Menschen eben Gemeinschaft suchen. Sie können diese Situation zu Hause und mit den Nachrichten, den soziale Medien langsam nicht ertragen, sondern suchen dann eben auch Ablenkungen und Möglichkeiten, ihre Freizeit auch zu gestalten. Und ein weiterer Aspekt, der auch noch dazu gekommen ist, ist das Unterstützung über diese Begegnungsstätten der deutschen Minderheit erfolgt. So wurden vor kurzem Generatoren und Powerbanks verteilt und die Deutschkurse haben auch einen regen Zulauf bekommen. Sie haben drei bis fünf Mal mehr Besucher von Deutschkursen jetzt zu verzeichnen. Allerdings nimmt gerade nur das Goethe-Institut in Kyiv Prüfungen für die Erlangung des Spätaussiedlerstatus ab. Insofern ist es nicht unbedingt ein Hinweis darauf, dass sie sich vorbereiten auf die Aussiedlung, sondern weil sie eben die Zeit für sich dann nutzen oder entdeckt haben, um die Sprache zu lernen.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Jetzt hätte ich eine direkte Nachfrage an sie, Frau Peter. Sie waren ja in ihrer Zeit als Stadtschreiberin in Odessa auch im Bayerischen Haus, was ja dort ein Kulturzentrum auch der deutschen Minderheit für die deutsche Minderheit vor Ort ist. Haben sie da aktuell auch Kontakt hin?

Ira: Ganz aktuell ist es nicht, aber ich hatte Kontakt zu der Leiterin des Bayerischen Hauses in Odessa, Maria. Sie ist recht bald nach Kriegsausbruch nach Süddeutschland gekommen und hat das Bayerische Haus aber weiterhin geleitet. Das ist eine Einrichtung in Odessa mit über 100 Mitarbeitenden. Dort kann man Deutschkurse nehmen. Es ist aber auch eine Begegnungsstätte für Menschen, die zum Beispiel ein Wirtschaftsunternehmen in der Ukraine gründen möchten, aber aus Deutschland kommen und umgekehrt. Da gibt es auch eine riesige Bibliothek mit deutschen Büchern, das ist verbunden mit dem Goethe Institut. Sie haben versucht, weiter von zu Hause aus zu arbeiten. Ich hatte auch Kontakt mit einer Russischlehrerin, die dann von zu Hause aus weiterhin ihren Schülerinnen und Schülern Russischunterricht gegeben hat, was aber halt gerade in den vergangenen Monaten immer schwieriger wurde, weil die Internetverbindung nicht mehr stabil war. Zu Beginn des Krieges war alles stabil. Ich habe auch auf oft Interviews per Zoom mit Leuten aus der Ukraine geführt und dass man sich dann wirklich per Video sehen konnte und die Verbindung immer super stabil war – meist auch besser als die bei uns in Deutschland – hat mich immer erstaunt. Nur in den letzten Monaten ist es ein bisschen schwieriger geworden, aber sie versuchen weiterzumachen und generell habe ich das Gefühl, gerade in Odessa, dass die Menschen versuchen, irgendwie diesen Alltag fortzuführen. Ich habe vor einigen Wochen mit einem Holocaustüberleben ein Interview geführt und er hat – ja – den Holocaust in der Ukraine überlebt und jetzt sitzt er in Odessa und dann ist Alarm. Und die ersten Wochen ist er – er ist fast 90 – immer mit seiner Frau aus dem 15 Stock mit ihrer Notfalltasche immer runter gerannt und die haben sich einen Keller mit Nachbarn gesetzt und ausgeharrt. Die dürfen den Aufzug nicht benutzen, wenn Alarm ist. Und als ich dann kürzlich mit ihm sprach, meinte er, das macht er nicht mehr. Wenn jetzt Alarm ist ignorierter ihn. Er fährt auch jeden Tag ins Büro zur Arbeit. Er ist unglaublich engagiert für die jüdische Gemeinde dort und er meint: Naja, er hat den Zweiten Weltkrieg und Hitler überlebt und das wird er jetzt auch noch irgendwie schaffen. Und diese Haltung, auch oft mit so einem Schmunzeln irgendwie, weil die Odessiten ja für ihren besonderen Humor bekannt sind, ist wirklich bewundernswert.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Danke. Vielleicht noch ein kleiner Hinweis. Das Bayerische Haus ist in den 1990er Jahren vom Freistaat Bayern eingerichtet und finanziert worden. Da steckt also auch ein bisschen Haus des deutschen Ostens mit drin. Wenn wir schon Odessa, diese wunderschöne Stadt, jetzt gehört haben: Wer hat vor etwas über einem Jahr Odessa gekannt in unserem Land? Wenn man sich das mal überlegt, es war nur eine kleine Anzahl von Menschen, die dorthin gereist waren. Vielleicht ein bisschen was in der Literatur gelesen haben. Aber jetzt ist plötzlich dieser Name Odessa und auch die anderen Namen, wir haben Saporischschja gehört, in aller Munde. Es wird ständig in unseren Medien berichtet. Auch die Bukowina hat wieder mehr mediale Berücksichtigung erfahren. Wir haben ja hier in Augsburg das Bukowina-Institut, was das Haus des deutschen Ostens auch fördert, wo eben auch enge Kontakte sind und unser Partner-Institut, das Institut für Deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU hat in dieser Bukowina eine große Hilfsaktion gestartet, wo nach wie vor die Lastwagen hinfahren und eben auch Generatoren und ähnliches hinbringen. Das ist das, was mir an Beobachtungsmöglichkeiten zugänglich ist. Wir sehen jetzt, wenn ich mal Revue passieren lasse, was Sie gesagt haben, den Versuch, den Krieg als Alltag zu meistern und das Leben weiterlaufen zu lassen. Das ist natürlich eine Situation, die angesichts der ständigen Gefahr vielleicht irgendwann die Leute auch abstumpfen lässt. Was macht es mit den Menschen?

Edwin: Ich glaube, Menschen reagieren unterschiedlich. Ich glaube nicht, dass man das irgendwie pauschal sagen kann. Ich versuche auch Kontakt zu halten zu meinen Freunden da in der Ukraine und es ändert sich. Die neueste Stimme, die ich jetzt vernommen hatte, war eine bekannte frühere Kollegin am Theater. Ihre größte Befürchtung ist, dass sie evakuiert werden müssen aus Kyiv, also dass sie weg muss. Das ist so ihre größte Befürchtung. Sie würde am liebsten einfach nur da bleiben, wo sie ist, und ich glaube, was aber sich nicht geändert hat über dieses gesamte Jahr dieses furchtbaren Krieges, ist die Überzeugung der Ukrainer, dass sie für ihr Land und für ihre Freiheit kämpfen wollen. Ich hatte wirklich damit gerechnet, dass irgendwann so Stimmungen auch entstehen, die die Regierung dazu bewegen würden, dann doch irgendwie Verhandlungen zu starten. Aber dieses Thema, Verhandlungen mit Putins Regime und mit Russland, das ist in der Ukraine Thema. Umso erstaunlicher finde ich das, dass es bei uns in unserer Gesellschaft so ein Thema ist, das sich Intellektuelle Gedanken darüber machen, wie doch die Ukrainer zu überzeugen wären, jetzt mit Russland zu verhandeln. Ich kenne niemanden aus der Ukraine, der sagen würde, wir sollten uns mal ernsthaft Gedanken darüber machen, da zu verhandeln.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Ja, es ist eigentlich eine weltfremde Argumentation, die wir da erleben. Das sehe ich auch so. Bleiben wir noch ein bisschen bei der Situation in der Ukraine. Wir hatten jetzt gehört, 10 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung dort, der deutschen Minderheit haben das Land eventuell verlassen. Gibt es auch welche, die weg waren und zurückkehren? Das haben wir ja auch bei vielen Flüchtlingen gesehen. Wissen Sie da etwas?

Edwin: Ich kenne einen konkreten Fall und sie ist aktive Leiterin eine Begegnungsstätte in Lemberg, in Lviv. Und sie war hier in Deutschland und irgendwann hat sie festgestellt, dass es dann doch dort in der Region recht ruhig ist und sie wollte dann zurück zu ihrer Familie und zu ihrem Ehemann. Wir müssen das ja auch berücksichtigen, dass die Familien getrennt hier sind und dass die Frauen und Kinder dann so Sehnsucht nach ihren Familien bekommen können, nach den Ehemännern, nach den Vätern, dass nicht wenige sich doch entschließen, wieder zurückzugehen, oder zumindest mal für eine Zeit lang zurückzufahren. Und gerade diejenigen, die in diesen westlichen Region leben, auch in Bukowina oder im (historischen) Galizien, das sind dann schon eher so die Menschen, die zurückgehen. Hast du da Erfahrung?

Ira: Genau also, ich kenne auch einige Familien, die aus Odessa, aber auch aus der westlichen Ukraine, nach Deutschland gekommen sind in den ersten Wochen nach Ausbruch des Angriffskrieges und dann wieder zurückgekehrt sind, unter anderem auch, um Angehörige zu pflegen, aber auch, weil sie Landwirtschaft haben und Tiere, und dann haben die Nachbarn das eine Zeit lang übernommen. Aber das kann man ja von den Nachbarn auch nicht verlangen, dass die dann dauerhaft die Kühe melken und so weiter. Das waren so die Beweggründe.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Nun, als vor einem Jahr dieser Krieg begonnen hat, haben wir eigentlich alle die Möglichkeit noch gesehen, dass tatsächlich innerhalb kürzester Zeit Kyiv erobert und erreicht werden könnte, dass dieser Plan Putins funktionieren könnte. In Deutschland hatten viele Angst, dass er innerhalb von ein paar Wochenvor Berlin steht, so ungefähr. Das hat sich ja dann in einer relativ kurzen Zeit als ganz anders erwiesen. Hat diese Entwicklung den Menschen Sicherheit gegeben? Zumindest ist die Sicherheit in diesem Gefühl, dass man sich wehren muss und wir kämpfen für dieses Land?

Edwin: Ja, definitiv. Häufig höre ich von den Ukrainern, dass sie ein tiefes Vertrauen in ihre Armee haben. Ich glaube, diese ersten Tage haben waren sehr entscheidend, auch für die Kollektive Einstellung der Ukrainer, die sie heute auch stark macht. Sie wurden davon überzeugt, dass sie Kraft haben und Unterstützung haben, gegen diese angeblich zweitstärkste Armee der Welt anzukommen und ich glaube, das hat die Ukraine doch sehr überzeugt.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Jetzt hätte ich noch eine andere Frage, nämlich auch nochmal zu dieser Situation in der in der Ukraine. Nehmen wir mal an, dieser Krieg endet, sagen wir mal, in einem Jahr oder in einem halben Jahr, wie auch immer er endet. Was wäre denn dann jetzt mal aus Perspektive unseres Landes das, was wir tun könnten, sowohl im Wiederaufbau, der natürlich ganz wichtig ist, aber eben auch in der Kulturförderung?

Edwin: Ich glaube, der Ukraine und den Ukrainern glaubwürdig vermitteln, dass sie ein Teil Europas sind. Ich glaube, damit sollten wir anfangen und auch eine gemeinsame Identität entwickeln. Beziehungsweise die Ukrainer haben diese gemeinsame Identität, dass die Europäer sind, aber bei uns in unserer Gesellschaft gibt es diese Einsicht noch nicht so verbreitet. Und ich glaube, das Signal mit den Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine war schon ein wichtiges Signal, und unser Land und wir – ich weiß nicht, in welchen Positionen Sie oder ihr, wo ihr aktiv seid, dann für die Ukraine – das auch glaubwürdig vorantragen und sie auch unterstützt dabei. Denn hier spielt zum Beispiel auch die deutsche Minderheit eine Rolle in der Ukraine. In einem ersten Paket der Beitrittsverhandlungen wurde auch verlangt, dass das Minderheitengesetz reformiert wird in der Ukraine. Da sind so sieben Bereiche, wo Gesetze angepasst werden müssen, an die europäischen Standards und da waren die Ukrainer zum Beispiel sehr, sehr schnell, ein modernes Minderheitengesetz zu entwerfen. Und die Venedig-Kommission ist ja die Kommission, die darüber bestimmt, wie vorangeschritten die sind. Sie hat dieses Gesetzesinitiative schon mal gut geheißen und die soll jetzt durch das Parlament und dann in Kraft treten. Da wurde die deutsche Minderheit mit einbezogen in die Erarbeitung dieses Gesetzes und das auch in Kommunikation über Akteure hier in Deutschland, die mit der deutschen Minderheit auch davor kulturell verbunden waren. Aber jetzt bieten sie denen juristische Hilfe und vermitteln Fachleute im Bereich der Menschenrechte zum Beispiel, die eben über die deutsche Minderheit in der Ukraine helfen, diese Minderheiten, Gesetze auch zu reformieren und zu modernisieren, und ich glaube, das ist so ein konkreter Beitrag, der auch geleistet werden kann.

Ira: Ich glaube, es ist auch ganz wichtig, dass man, wenn man hilft, es dann auch auf Augenhöhe macht und nicht so von oben herab. So, wir Westeuropäer, wir wissen genau, wie das läuft mit der Demokratie und mit der Korruption und so weiter. Wir zeigen euch jetzt, wie das geht. So wird das nicht funktionieren und das ist auch nicht fair und ich glaube, da ist es ganz, ganz wichtig, dass man wirklich sich als gleichberechtigte Partner begegnet und guckt, wie man gemeinsam wieder auf die Beine kommt.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Ich würde gerne ein bisschen mehr wissen über die Minderheitengesetzgebung, dass die jetzt verbessert wurde. Das haben wir gehört, aber was ist konkret verbessert worden?

Edwin: Also, das große Problem sind die Minderheitensprachen im Schulunterricht und da muss nicht nur das Gesetz eben erneuert werden, sondern auch das Schulgesetz und verschiedene Bereiche der Bildungspolitik. Es sind – so genau bin ich jetzt in der Materie nicht drin – aber da geht es vor allem um die dominante Rolle bestimmter Sprachen im Schulunterricht und speziell eben Russisch. Also wie geht man jetzt mit dem Russischen in der Ukraine um, damit man auch keinen Anlass für, ich weiß nicht, zusätzliche Aggression in Russland bereitet? Es geht speziell um die Sprachenpolitik.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Also darum, um die Möglichkeit zu geben, dass die Kinder aus russlanddeutschen Familien oder ukrainischdeutschen Familien in ihrer Sprache, in ihrer Minderheitensprache oder Muttersprache, je nachdem, wie die Sprache in den in den Familien gepflegt werden kann, gelehrt werden kann und dann wahrscheinlich doch möglichst auch auf allen Ebenen. Also vom Kindergarten über die Grundschule bis zu den höheren Schulen. Und wie steht es denn an den Universitäten mit den Möglichkeiten, Deutsch, Germanistik und so weiter zu studieren? Wissen Sie da was?

Ira: Ja, ich habe in der Ukraine ganz viele junge Menschen getroffen, die Germanistik studieren und die extrem gut Deutsch können. Auch in Odessa, Kyiv, Lviv. Das ist eine sehr beliebte Sprache.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Wir haben uns natürlich gefragt, Sie alle haben vielleicht in den letzten Jahren verfolgt, dass die russlanddeutsche Bevölkerung hier in unserem Land, in Deutschland, in den letzten Jahren immer mal wieder in den Fokus unserer Medien gekommen ist und sehr oft in einem unguten Blick kann man sagen .Man hat der russlanddeutschen Bevölkerung unterstellt, sie wären putinnah, sie wären alle Russland hörig, sie würden alle nur Russisch sprechen. Man hat unterstellt, dass sie politisch sehr stark rechtslastig oder rechtsextrem empfindlich wären oder dafür sehr offen wären. Das sind alles Dinge, die dann auch von der Volksgruppe und auch von dem Beauftragten der Bundesregierung für die nationalen Minderheiten und Aussiedlerfragen immer wieder stark zurechtgerückt werden mussten. Wie hat sich denn das Bild der Russlanddeutschen in dieser Zeit seit einem Jahr nun verändert und vielleicht auch schon ein bisschen davor? Was sind da Ihre Erfahrungen?

Ira: Ja, das ist ein schwieriges Thema, mit dem wir auch immer wieder zu tun hatten in den vergangenen zwölf Monaten. Zum einen hatten wir den Eindruck, wir müssen uns jetzt alle positionieren zum Krieg. Also weil wir aus der Sowjetunion kommen und weil das Russland in Russlanddeutsch drinsteckt, glauben ja alle, dass wir aus Russland sein. Dabei sind die meisten Russlanddeutschen aus Kasachstan. Und also das zum einen und zum anderen wurde sehr schwarzweiß in den Medien das Bild der Russlanddeutschen gezeichnet. Also und gerne hat man die Klischees bedient, also die Irren, die für Putin sind und auf die Straße gehen und bei irgendwelchen Pro-Kreml-Demos mitmachen. Immer, wenn es darum ging, waren die Medien schnell da und haben die Kamera draufgehalten. Dann gab es aber zum Beispiel einen Beitrag, das fand ich auch so bezeichnen, da ging es um Ukrainehilfe und dass eine bestimmte Gemeinde in Norddeutschland Menschen aus der Ukraine hilft und es wurde einfach nicht erwähnt, dass die Russlanddeutsche sind, weil da hat es plötzlich keine Rolle mehr gespielt spielt und es gab es halt immer mal wieder diese Fälle. Es gab Dokumentationen, die sehr pauschal waren und sehr auf die Vorurteile einzahlten und der Krieg war natürlich gefundenes Fressen, weil das ist natürlich dann einfach, dieses Bild fortzusetzen. Aber die Medien lernen auch dazu und es gab auch viel faire Berichterstattung, und Edwin und ich haben auch viele Interviews gegeben an Journalistinnen, die wirklich interessiert waren und sich gut informiert hatten. Und insgesamt nehme ich schon wahr, dass in den vergangenen fünf Jahren sich auch viel getan hat in der Medienlandschaft und dass sich auch viele Medienschaffende die Mühe machen und tatsächlich mal googeln, wer sind eigentlich die Russlanddeutschen? Und nach einer Sekunde hat man das Ergebnis. Manche schaffen es leider immer noch nicht. Wie hast du es wahrgenommen, Edwin?

Edwin: Ähnlich wie du. Wir haben viele Sachen ja auch zusammen gemacht, jetzt in dem vergangenen Jahr. Eine Sache muss man natürlich auch erwähnen, das in dieser Aggression gegen die Ukraine, die auch Aggression gegen Europa ist, auch Mittel der Desinformation und Propaganda von Seiten Russlands eingesetzt werden und das auch natürlich Menschen dieser Propaganda auf den Leim gehen. Klar, man kann bis heute noch russisches Fernsehen live im Internet sehen, obwohl das jetzt aus dem Kabel rausgenommen wird, RT-Deutschland ist jetzt verboten, die sind jetzt auch weggezogen, aber man kann trotzdem den Zugang zu dieser Propaganda haben und Menschen, die eben Russisch sprechen, von zu Hause vielleicht, die gewohnt sind an diese Sprache, die konsumieren diese Propaganda. Das ist eine große Gefahr für unsere Gesellschaft. Aber diese Gefahr ist nicht bei den Russlanddeutschland zu verorten, sondern diese Propaganda gibt es auch auf Deutsch, diese Propaganda gibt es auch auf Englisch, und sie erreicht viel breitere Kreise unsere Gesellschaft und pflanzt eben diesen Spaltpilz in unsere Gesellschaft und da müssen wir auf jeden Fall aufmerksam sein und das mit berücksichtigen. Das Bild hat sich insofern geändert, dass man eben durch dieses Prisma Ukrainekrieg die Russlanddeutschen irgendwie so versucht hat, medial zum Thema zu machen. Es gab Autocorsos von angeblich unterstützen, wobei die Menschen dann gesagt haben, wir unterstützen Putin nicht. Wir wollen nur nicht, dass wir hier russophob angegangen werden, also die wollen nicht als eine Gefahr, eine russische Gefahr innerhalb unserer Gesellschaft betrachtet werden. Wobei dieses Narrativ, diese Erzählung, dass es russophobe Angriffe hier in Deutschland gibt, zum Teil auch Fake News waren. Das waren produzierte Anlässe, die eine bestimmte Stimmung erzeugen sollten, die es dann wirklich nicht gab. Also Journalisten haben dann diese Fälle untersucht, und zum Teil gab es diese Fälle nicht, oder die wurden in einem falschen Kontext gesteckt, damit dieses Gefühl entsteht. Was aber nicht, und da pflichte ich Ira auch bei, was da aber wenig in den breiten Medien vorkam, war diese Solidarität und diese neue Art von Willkommenskultur, die entstanden ist durch die Menschen, die sprachliche und kulturelle Kompetenzen hier in Deutschland auch hatten und immer noch haben, um eben den Ukrainern zu helfen, die hergekommen sind. Ich lebe in Ostwestfalen Lippe. Der Landkreis Lippe ist der Landkreis mit der höchsten Dichte an russlanddeutschen Aussiedlern bundesweit. Diese Menschen sind Nachfahren eben dieser Mennoniten und sind freikirchlich organisiert. Es gibt sehr viele Freikirchen in Ostwestfalen Lippe, die eben russlanddeutsch entstanden sind. Und diese Kirchen hatten zum Teil soziale Werke und Projekte mit der Ukraine, mit der Moldau und mit dieser Region und es waren bei uns im Umfeld die ersten zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich gebildet haben, bis die Behörden dann sogar Schwierigkeiten bekommen haben, weil dann plötzlich zu viele Ukrainer dann in Lippe angekommen sind. Es gibt zum Beispiel eine Nachbargemeinde, in die ein Kinderheim aus Mariupol in den ersten Kriegstagen hingebracht worden ist, durch einen russlanddeutschen Malermeister und er hatte dafür gesorgt, dass dieses Kinderheim nach Stapellage kam. Das ist ein Ort zwischen Bielefeld und Detmold. Oder eine Dame, die für unser Museum das Catering zum Beispiel macht. Sie haben ein leerstehendes Hotel angemietet für, ich glaube, knapp 60 Personen. Für ein ganzes Jahr wurde ihnen ein Hotel bereitgestellt, und diese Mittel wurden durch diese freikirchlichen Gemeinden auch akquiriert, weil das dann schneller geht, weil die Gemeinschaft dann sehr, sehr schnell reagiert hat. Und diese Geschichten fehlten mir leider in der medialen Darstellung, also diese neue Art von Willkommenskultur, die da entstanden ist. Anstatt dessen hat man eher auf das Russland in der Bezeichnung Russlanddeutsche geguckt und man hat es nicht mit der kulturhistorischen Gruppe in Verbindung gebracht, sondern mit der heutigen Russischen Föderation. Das haben wir versucht, gerade zu rücken.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Ich hatte auch vor ein paar Wochen hier in diesem Raum an einer Diskussion teilgenommen zwischen einem Vertreter des ukrainischen Generalkonsulats und den Russlanddeutschen hier in Bayern und dem Bund der Vertriebenen und da ist eben die große Frage aufgekommen, was ist denn die richtige Bezeichnung für die Russlanddeutschen in der Ukraine? Denn da gab es auf Seiten des Generalkonsulats tatsächlich ein Missverständnis, nämlich das Missverständnis, dass die Deutschen in der Ukraine als Russlanddeutsche bezeichnet werden, und es ist nicht verstanden worden, dass der historische Begriff ist, dass es sich um das Zarenreich hat handelt, sondern es wurde von Seiten des Generalkonsulats eben mit dem heutigen Russland unter Putin gleichgesetzt. Sozusagen wurden dann die Russlanddeutschen auch aus dieser Gegend mehr oder weniger in diese Richtung gedrängt. Gott sei Dank hat es dieses Gespräch gegeben, dass das alles geklärt hat und aufgelöst hat und sehr wichtig war.

Edwin: Auf der anderen Seite, wenn ich hinzufügen darf, die Selbstbezeichnung der Menschen, die da leben und dieser Minderheit angehören, ist einfach nur Deutsche. Also die würden von sich behaupten, sie sind Deutsche. Sie würden nie auf die Idee kommen, sich dort so zu bezeichnen. Auch die Deutschen, die in Kasachstan leben, würden nicht sagen, die sind Russlanddeutsche. Die sind einfach nur Deutsche in ihrem Selbstverständnis. Bis sie nach Deutschland kommen, weil in Deutschland, werden sie dann zu Russen erklärt.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Das sollte uns eigentlich nicht mehr passieren. Sie hatten auch den Spaltpilz sozusagen genannt. Man hört ja immer wieder, auch jetzt aus dem Bereich der russischen Gesellschaft, dass die Familien gespalten sind in dieser Hinsicht. So ähnlich wie die Briten in Sachen Brexit einen Generationenkonflikt in vielen Familien haben. Kann man so was auch bei den Russlanddeutschen beobachten, oder ist es eine vollkommen unsinnige Vorstellung?

Ira: Ich glaube, man kann generell in allen Familien in Deutschland beobachten, egal ob es jetzt eine russlanddeutsche Familie ist oder eine Familie, die vielleicht aus Polen eingewandert ist oder gar keine Migrationsgeschichte hat, dass es einfach Konflikte innerhalb von Familien gibt. Und ja, auch in russlanddeutschen Familien gibt es Konflikte wegen des Krieges, weil man unterschiedliche Einstellungen hat und oftmals verlaufen diese Konfliktlinien auch zwischen den Generationen, zwischen Eltern und ihren Kindern oder auch zwischen gleichaltrigen Verwandten, wie ich das in meinem Umfeld wahrnehme. Ich habe tatsächlich auch einige Verwandtschaften und Freundschaften auf Eis gelegt. Ich möchte nicht sagen, dass das für immer gebrochen ist, weil die politische Lage sich ändern kann und das sind Menschen, die mir sehr viel bedeuten. Aber im Moment sehe ich keine Möglichkeit mehr, im Dialog zu bleiben, weil das einfach zu nichts führt, weil unsere Meinungen so gegensätzlich sind und deswegen sitze ich das Ganze aus. Manche Kontakte habe ich auf was auch blockiert, weil ich die Lobeshymnen auf Putin nicht ertragen kann, während ich gleichzeitig im Chatverlauf Freunde habe, die gerade in der Ukraine in einem Luftschutzbunker sitzen. Aber ich hoffe, dass das der Krieg zu Ende geht mit einem Sieg der Ukraine und dass wir dann vielleicht doch wieder einen Weg finden, um miteinander ins Gespräch zu kommen

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Wir haben uns hier im Haus des deutschen Ostens in den letzten Jahren immer wieder und tun das auch weiterhin mit dem Thema der Identität beschäftigt. Unsere letzte Ausstellung, die wir zu unserem Jubiläum, das Haus ist 50 Jahre alt geworden, gemacht haben, hatte den Titel: „Wer bin ich, wer sind wir? Über Identitäten der Deutschen aus dem östlichen Europa.“ Und ich frage mich jetzt gerade so, im Laufe unseres Gespräches, ob sowohl diese stärkere mediale Berücksichtigung der Russlanddeutschen in unserer Gesellschaft, aber auch diese Situation, in der sie jetzt sind und die Frage der Positionierung derjenigen, die in der Familiengeschichte eben den ukrainischen Anteil haben, das Denken über das eigene Ich und die eigene Identität verändert? Ich weiß nicht, ob Sie über so was schon mal nachgedacht haben, aber ich wollte das jetzt einfach mal anreißen.

Edwin: Selbst- und Fremdwahrnehmung, die gehen schon ziemlich auseinander. Das Bild, was jetzt gezeichnet wird, ist auch ein bisschen anachronistisch. Wir haben eine Generation von Menschen wie wir zwei oder einige, die hier auch mit dabei sind, die hier in Deutschland, hier in Europa sozialisiert sind und nichts außer demokratischen Werten für wichtig erachten, wenn es um gesellschaftliche Fragen geht. Und übrigens im Mai letzten Jahres ist die Studie des Sachverständigenrates für Integration und Migration erschienen (vgl. Steppenkinder Folge 25). Da wurden Menschen befragt, welche Haltung sie zu demokratischen Werten haben und mit welchen Systemen, Gesellschaften und Ländern, die sich mehr identifizieren. Die Umfrage wurde unter russlanddeutschlanden Spätaussiedlern durchgeführt. Und die Zustimmung zu den demokratischen Werten und zu Deutschland und zum politischen System in Deutschland war fast genauso wie in der Durchschnittsbevölkerung hier in Deutschland. Insofern denke ich mal, dass wir hier eigentlich in der Realität ein normales Bild haben, aber in der Öffentlichkeit oder in bestimmten Debattenkreisen, ja – ich weiß nicht, wie ich das richtig zum Ausdruck bringen will. Ich will da jetzt auch keinen verurteilen, der sich dann plötzlich für Russlanddeutsch interessiert. Ich freue mich ja auch, jede Krise ist eine Chance, und insofern denke ich mal, es ist auch eine Möglichkeit, über diese Sachen auch zu sprechen. Aber das Bild, was oft gezeichnet wird, entspricht halt wie so oft, nicht ganz der Realität.

Ira: Also bei mir hat der Ukrainekrieg dazu geführt, dass ich zum Beispiel, wenn ich mich im Ausland vorstelle, ich war in den vergangenen Monaten in Georgien und in Armenien unterwegs, dass ich dann schon dadurch, dass ich russischsprachig bin und mit den Menschen vor Ort Russisch spreche, dass ich sofort betone, dass ich aus Kasachstan bin und meine Großeltern aus der Ukraine. Und das führt schon zu diesem Selbstverständnis von mir, dass die Heimat meiner Großeltern in der Ukraine lag und das ist für mich viel präsenter und wichtiger geworden. Und ich habe mich, als der Krieg ausgebrochen ist, tatsächlich gefragt, ob ich mich weiterhin als Russlanddeutsche bezeichnen möchte? Denn alle Familienmitglieder sind aus der Ukraine und ob ich mich nicht wohler fühle mit dem Begriff Ukrainedeutsche? Ich habe mich jetzt aber dafür entschieden, weiterhin diesen Oberbegriff einfach zu nutzen. Es ist einfach ein feststehender Begriff und dann erkläre ich lieber, dass sich das Russland eben auf das zaristische Russland bezieht und kann hoffentlich dadurch auch ein bisschen Wissen vermitteln.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Bräuchten wir, wenn man jetzt diese Begriffsfrage nochmal angeht, die in diesem Gespräch eben mit dem Generalkonsulat auch aufkam, eine Spezifizierung, eine klarere Benennung der einzelnen Gruppen? Was meinen Sie, oder ist es ohnehin schon genug da?

Edwin: Ich glaube, der Vorzug einer offenen Gesellschaft, in der wir leben, ist ja, dass man sich nicht so irgendeine Identität bekennen muss. Also man kann ja sowieso verschiedene Identitäten haben, je nach Kontext, in dem man sich bewegt. Ich trag das auch nicht auf der Stirn, dass ich Russlanddeutscher bin. In dem Kontext heute, ja in anderen Kontexten auch. Ob wir eine Präzisierung brauchen? Ja hinsichtlich der deutschen Minderheiten, die noch drüben leben. Aber ich glaube, die politischen Verantwortlichen, die sind schon sensibilisiert für diese Sachen. Wahrscheinlich gibt es dann auch in Generationen unterschiedliche Ansichten, wie manche Begriffe auch dynamisch weiterentwickelt werden müssten. Es gibt ältere Generationen, für die ist es einfach nur sakrosankt und man hält eben an Begriffen fest, weil, wenn man sie verändert, dann ist es nicht mehr das, womit sie sich identifiziert haben. Aber ich glaube, die Annahme, dass die Welt dynamisch ist, würde, glaube ich, auch bei diesen Debatten zu einer Begriffsfindung sehr helfen.

Ira: Ich würde mir wünschen, dass man diese Begriffe gar nicht mehr braucht, sondern dass es einfach egal ist, ob ich eine russlanddeutsche Migrationsgeschichte habe oder nicht. Ich bin Bürgerin dieses Landes und bin sehr froh drum und ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es einfach egal ist, vorher jeder kommt.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Danke sehr.

Edwin: Und weil wir diese Veranstaltung heute aufzeichnen, die als Folge dann nächstes Wochenende erscheinen wird, hätte ich noch ein Veranstaltungshinweis. Die Deutsche Gesellschaft und das Kulturreferat veranstalten eine Akademie unter dem Titel: Junge Russlanddeutsche und der Ukrainekrieg. Die besteht aus zwei Teilen und der eine Teil findet vom 17.04. bis zum 21.04. in Oerlinghausen statt, das ist in der Nähe von Detmold. Der zweite Teil findet dann vom 10.11. bis zum 12.11 in Berlin statt. Da laden wir junge Menschen herzlich ein, die sich auf eine kreative Art und Weise in verschiedenen Medienbereichen, wie zum Beispiel Podcast, Videoprojekte oder auch Schreiben/ Blogging mit diesem Spannungsverhältnis auseinandersetzen wollen. Alle, die sich angesprochen fühlen, können sich dann auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft e.V. oder dem Kulturreferat informieren und sich bis zum 5. März anmelden.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Ich habe dieses Gespräch jetzt sehr genossen, muss sagen. Es hat mir Freude gemacht, mit Ihnen beiden zu sprechen. Ganz herzlichen Dank Ira Peter und Edwin Warkentin.

Ira: Dankeschön!

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Ich glaube, das ist jetzt das erste Mal, dass in diesem Podcast Applaus am Ende zu hören ist. Auch eine neue Situation für Sie.

Edwin: Wir können es ja wegschneiden.

Prof. Dr. Andreas Otto Weber: Ich glaube, das wird unser Publikum nicht recht, denn die wollen ihren Beitrag ja auch hören. Haben sie alle einen schönen Abend und natürlich sind wir für Fragen jetzt individuell noch ansprechbar. Herzlichen Dank!

Ira: Dankeschön. Poka!

Edwin: Dankeschön. Poka!