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Dr. Anke Giesen: Stalinismus und seine Folgen für Russlanddeutsche

Vor 70 Jahren starb der sowjetische Diktator Josef Stalin. Es ist ein Anlass, um über sein Terrorsystem und die Auswirkungen der sowjetischen Diktatur auf Deutsche in der Sowjetunion zu sprechen. Die Historikerin Dr. Anke Giesen beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit der Aufarbeitung des Stalinismus. Mit ihr sprechen wir über die Dimensionen und Auswirkungen des sowjetischen Totalitarismus, der Rolle Josef Stalins darin, um die Vergleichbarkeit mit dem Nationalsozialismus aber auch um den Stand der Aufarbeitung in Russland und Deutschland. Sie ist Vorstandsmitglied der in Russland gegründeten und mittlerweile dort verbotenen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL International, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

  • Quelle: ©Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

  • Quelle: ©Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Edwin: Der Anlass unserer heutigen Sendung ist der 70ste Jahrestag des Todes des sowjetischen Diktators Josef Stalin. Dieses Datum gab den Anlass in einigen Medien nochmal zu rekapitulieren, was der Stalinismus war, was Stalins persönliches Wirken dabei war, und wie die Erinnerung daran heute in unserer und insbesondere in der russischen Gesellschaft ist. Von dir, Ira, ist ein Artikel bei Dekoder.org erschienen, in dem du deine Erfahrungen aus deinem Besuch im Geburtsort Stalins und aus dem Stalinmuseum schilderst. Was waren denn deine Eindrücke?

Ira: Das war sehr skurril. Ich war im Herbst 2022 in Gori. Das ist seine Geburtsstadt. Die ist eine Autostunde von Tbilissi, der Hauptstadt Georgiens entfernt. Da hat man das Gefühl, dass die Zeit stehen geblieben ist. Es ist ein Museum, das zu seinen Ehren ein paar Jahre nach seinem Tod eröffnet worden ist und er wird da komplett glorifiziert. Die Aufarbeitung des Stalinismus findet in diesem Museum überhaupt nicht statt und das fand ich unglaublich skurril. Das gibt einem zu denken, welche Rolle Stalin heute in Georgien, aber vor allem in Russland spielt. Das Thema Stalinismus, das beschäftigt dich und mich auch, weil unsere Familien in der ehemaligen Sowjetunion davon betroffen waren. Sowohl bei dir als auch bei mir, waren Menschen verhaftet worden, erschossen worden. Zum Beispiel waren meine Großväter auch im Gulag. Als ich mehr darüber herausfinden wollte, bin ich auf Memorial gestoßen. Das ist eine Menschenrechtsorganisation, die im Zuge der Perestroika in Russland gegründet worden ist. Mittlerweile gibt es auch in anderen Ländern viele weitere Ableger von Memorial. Diese Organisation hat mir damals geholfen, mehr über die Verhaftung meines Großvater herauszufinden. Zum Beispiel wann er verhaftet worden ist, wo das Gerichtsurteil gesprochen worden ist und wie lange er in Haft war.

Edwin: Wir können an dieser Stelle schonmal darauf hinweisen, dass wir bereits im vorletzten Jahr eine Folge unseres Podcasts zu Memorial hatten. Das war Nummer 19 mit dem Autor Sergej Lebedew, in der wir ausführlich über die Arbeit von Memorial International gesprochen haben und auch über den aktuellen Stand damals, als Memorial in Russland verboten wurde.

Ira: Aber magst du uns an dieser Stelle, bevor wir unseren Gast vorstellen, noch kurz sagen, was Stalin mit russlanddeutscher Familiengeschichte zu tun hat?

Edwin: Dass so viele Deutsche aus der früheren Sowjetunion heute in Deutschland leben, hat mit den Erfahrungen der Großeltern- und zum Teil in der Elterngeneration mit diesem sowjetischen Terrorregime zu tun. Nach der Logik des bundesdeutschen Gesetztes waren die kollektiven Repressionen gegen die Sowjetdeutschen im Stalinismus Folge des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion. Da kommt eine Verknüpfung der beiden großen totalitären Regime und ihrer Auswirkung auf eine bestimmte Minderheit zusammen. Stalin nahm irrational Rache an den eigenen Deutschen, also den Deutschen in der Sowjetunion, stellvertretend für die damaligen hiesigen Deutschen, die damals Hitler gewählt haben und seine Politik unterstützt hatten. Er sah hier wohl eine Verbindung, die es eigentlich nicht gab. Die Leute lebten seit zehn Generationen in der Sowjetunion und hatten nichts mit dem nationalsozialistischen Deutschland, oder dem Deutschen Reich zu tun. Weil diese Repressionen spätestens seit 1941 alle betrafen, die als Deutsche galten, oder sich als solche bezeichnet haben, war ihre Zukunft, egal wie die einzelne Person zum sowjetischen Regime stand, nicht mehr sicher. Sicher konnten sie erst in der Bundesrepublik Deutschland sein, die sich verantwortlich und solidarisch zeigte. Was die Dimension angeht, also wie viele Menschen dieser Terror betraf, lässt sich vielleicht an ein paar Zahlen zum Ausdruck bringen. Man geht davon aus, dass es in der Sowjetunion insgesamt etwa 12 bis 13 Millionen Opfer dieses Staatsterrors gab. Bis 2009 haben etwa 5,4 Millionen Menschen der früheren Sowjetunion eine Rehabilitierung ausgesprochen bekommen. Das heißt, sie haben ganz offiziell von den sowjetischen oder später auch den anderen, den russischen und ukrainischen Behörden eine offizielle Anerkennung bekommen, dass sie zu Unrecht verfolgt wurden. Von diesen 5,4 Millionen waren alleine 1,3 Millionen an Russlanddeutsche ausgestellt worden. Man kann sich natürlich fragen, warum es so viele sind. Wahrscheinlich, weil viele das als Anerkennung ihres Spätaussiedlerstatutes gebraucht haben. Deswegen haben sie diese Rehabilitierungsmaßnahmen so oft angefragt. Über die gesamte Auswirkung des sogenannten Stalinismus und seiner Aufarbeitung sprechen wir heute mit Dr. Anke Giesen. Ira, willst du ein paar Worte zu Frau Giesen sagen?

Ira: Sehr gern. Aber noch kurz zur Rehabilitierung: Mein Großvater der neun Jahre im Gulag gesessen hatte und 1974 in Kasachstan verstorben ist, wurde erst 1992 rehabilitiert und auch erst auf Nachfrage meiner Mutter hin, die die ganzen Ausreisepapiere für Deutschland vorbereitet hat. Ich freue mich, dass wir heute über dieses Thema und über den Stalinismus an sich sprechen können mit Dr. Anke Giesen. Sie studierte Slavistik in Münster, Moskau und Hamburg und wurde an der Uni Magdeburg im Fach Geschichte zur russlandweiten Debatte über Konzept und Verstaatlichungsprozess der Lagergedenkstätte Perm 36 im Ural promoviert. In ihrer Arbeit als Referentin der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie setzt sie sich unter anderem für die Ausweitung der Kontakte zur Aufarbeitung traumatisch erlebter Vergangenheit im Rahmen der Städtepartnerschaft Berlin-Moskau ein. Was aber für uns heute vor allem relevant ist: Sie ist Vorstandsmitglied von Memorial International und Memorial Deutschland. Und sie ist Beirätin der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam. Frau Gießen engagiert sich im Bereich der Erinnerungskultur zu den sowjetischen politischen Repressionen in den ehemaligen sozialistischen Ländern. Wir werden mit ihr heute über den Stalinismus sprechen, aber es wird auch darum gehen, wie der Kreml heute die Person Stalin instrumentalisiert und wie es allgemein um die Aufarbeitung der stalinistischen Diktatur steht. Herzlich Willkommen, Frau Giesen!

Quelle: privat

Dr. Anke Giesen: Vielen Dank für die Einladung und ich grüße Sie!

Edwin: Frau Giesen, worin unterschiedet sich denn die Arbeit Memorial Deutschlands von Memorial International – der Organisation, die zuletzt den Friedensnobelpreis mit zwei weiteren Menschenrechtsorganisationen bekommen hat?

Dr. Anke Giesen: In dem Sinne, dass Memorial Deutschland praktisch ein Mitgliedsverband in dem internationalen Dachverband Memorial International ist. Wir sind die deutsche Sektion von Memorial International. Memorial International hat den Sitz in Moskau und bis zum Dezember 2022 sind es um die 60 Mitgliedsverbände in Russland und außerhalb Russlands. Dann kam dieses gerichtliche Urteil, dass Memorial International zwangsaufgelöst werden muss und das hat sich auf die Situation in Russland ausgewirkt. In Russland gibt es jetzt noch circa 20 aktive Mitgliedsverbände. Die europäischen Mitgliedsverbände haben sich aber davon nicht einschüchtern lassen und arbeiten weiter. Uns alle eint, das Ansinnen, dass die Sowjetunion und ihre Politik eben einen starken Impact auf die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, aber eben auch auf andere Staaten Europas hatte. Also den ehemaligen sozialistischen Block, aber eben auch auf Westeuropa. So dass es gilt, die sowjetischen Staatsverbrechen und ihre europäischen Auswirkungen aufzuarbeiten, der Opfer zu gedenken und im Sinne eines Nie Wieders sich dafür einzusetzen, dass eine solche Form von Regime sich in Europa und auch anderswo auf der Welt nicht mehr bilden kann, obwohl sowas in Nordkorea natürlich weiterexistiert.

Ira: Frau Giesen, wie hat sich denn die Arbeit Ihrer Kollegen und Kolleginnen in Russland jetzt verändert? Können die überhaupt noch arbeiten? Was machen sie derzeit?

Dr. Anke Giesen: Das Arbeiten ist jetzt sehr schwierig geworden. Vor allen Dingen sind die neuen Geschichtsgesetzte ein großes Hemmnis. Man darf das Andenken der Roten Armee nicht verunglimpfen oder den Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, nicht verzerrt darstellen. Das verhindert praktisch die Aufarbeitungsarbeit, auch bezogen auf die sowjetischen Staatsverbrechen. Menschen, die zum Gulag, also dem großen Lagersystem im Krieg zum Beispiel Artikel geschrieben oder Forschung betrieben haben, die sind durch dieses Gesetz in eine akute Bedrohung gekommen. Viele davon haben sich auch deshalb zur Ausreise entschlossen. Was noch weiter geht, ist die Sachen, die man in den Jahren erstellt hat, zu retten. In vielen Memorial-Organisationen wurden Archiv- und Totenbücher erstellt. Diese versucht man zu retten, zu digitalisieren, damit es auch bei einer noch stärkeren Repressionsschraube zumindest der Weltöffentlichkeit erhalten bleibt. Das sind noch Arbeiten, die möglich sind. Zum Teil kann man in den Regionen, je nach dem, wie der Gouverneur eingestellt ist, auch noch die eine oder andere öffentliche Veranstaltung machen. Also Filme zeigen oder auch Menschen einladen und über die Vergangenheit aufklären. Das ist aber wirklich nur noch in einzelnen Regionen möglich.

Edwin: Wie können Sie in dieser Situation den Kolleginnen und Kollegen da jetzt konkret helfen oder was machen Sie?

Dr. Anke Giesen: Einmal versuchen wir natürlich soweit wir können den Kontakt zu halten. Wir denken, dass das wichtig ist, dass sich die Leute in den Regionen nicht vergessen fühlen. Soweit es möglich ist, versuchen wir natürlich auch zu unterstützen. Aber wir wissen, dass die Bankenverbindungen abgebrochen sind und dass deshalb finanzielle Unterstützung mit erheblichem Aufwand verbunden ist und auch ein Risiko darstellt, weil wir das Agenten-Gesetz haben. Organisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen, müssen sich in ein Register für ausländische Agenten eintragen lassen und müssen sich auf ihre gesamten Flyer, Bücher oder was sie sonst veröffentlichen – sogar Facebook- oder Twitterposts –  als „ausländischer Agent“ ausweisen. Das hat natürlich vor dem Hintergrund der Geschichte in Russland eine stigmatisierende Wirkung.

Edwin: Wie sind Sie denn selbst zu Memorial gekommen?

Dr. Anke Giesen: Ich habe in den 1980er Jahren Slavistik studiert und hatte das große Glück in der Perestroika-Zeit ein Studienjahr in Moskau zu verbringen. Das waren diese wilden Jahre 1987, 1988, wo die Zensur aufgehoben wurde, wo alles freier wurde, wo plötzlich überall an den Ecken Straßentheater und Straßenmusiker auftauchten und sich auch die ersten Memorial-Gruppen gründeten. Menschen sich zusammentaten, weil dann plötzlich auch Dinge zu lesen waren. Es wurden auch Romane, wie „Die Kinder vom Arbat“ von Rybakow veröffentlicht, wo der Gulag Thema war. Und die Gruppen fragten, wie es eigentlich in ihrer Region, in ihrer Familie war. Die begannen sich dafür zu interessieren und haben auch Zugang zu den Archiven erhalten. In dieser Atmosphäre war ich also in Moskau und konnte damals auch Kontakte finden, zu Menschen, die in dieser Aufbruchsstimmung waren. Wenn das damals auch nicht die direkten Memorialgründer waren, fand ich das dennoch unglaublich spannend und es hat mich inspiriert. Ich habe meine Berufskariere im deutsch-russischen Austausch begonnen. Da haben wir ziemlich schnell zu Memorial Petersburg Kontakt gehabt, weil wir damals im deutsch-russischen Austausch russische Zivilgesellschaft in ihrem Aufbau unterstützt haben. Das war mein Kontakt zu Memorial und den Kontakt habe ich immer behalten. Später bin ich, als Memorial Deutschland bekannter wurde, da eingetreten und habe mich in den Vorstand wählen lassen. Später ist mir dann aufgefallen, dass ich ja selbst familiär betroffen bin, in dem mein Großvater in einem sowjetischen Speziallager in Haft war. Das ist eine Geschichte, die wurde in der Familie nicht sehr breit getreten und das fand ich hochinteressant, dass ich mich für diese ganzen Themen interessiert habe, bevor mir eigentlich klar war, wie ich selber familiär betroffen bin.

Ira: Vielleicht fangen wir mal ganz von vorne an. Was versteht man denn unter Stalinismus, Frau Giesen?

Dr. Anke Giesen: Stalinismus ist erstmal ganz eng an die Person von Josef Stalin geknüpft und hat eigentlich zwei Seiten. Einmal ist es Josef Stalins Auffassung vom Marxismus-Leninismus und dann ist Stalinismus die Bezeichnung für eine ganze Epoche. Die Epoche, wo Josef Stalin praktisch Alleinherrscher in der Sowjetunion war, und das war er eigentlich von 1929 bis zu seinem Tod 1953. In der Zeit hat er seine Auffassung von Sozialismus oder von Näherung an den Kommunismus sehr rücksichtslos umgesetzt, und zwar in dem er sich auf die Alleinherrschaft der Partei, den Geheimdienst und ein umfassendes Gefängnis- und Lagersystem gestützt hat. Was auch wichtig für den Stalinismus ist, ist eine rücksichtslose Umsetzung der Industrialisierung der Sowjetunion. Da greifen praktisch einerseits dieses umfassende Lagersystem und die Verfolgung von Andersdenkenden und die Industrialisierung zusammen, in dem man vermeintliche Andersdenkende im großen Stil verhaften lies und in Lagern Zwangsarbeit im Sinne der Industrialisierung und der Erschließung des Nordens leisten ließ. Das Ganze war vollkommen willkürlich und hatte überhaupt keine rechtsstaatliche Grundlage. Millionen von Menschen haben so ihre Freiheit verloren und viele Hunderttausende auch ihr Leben. Es war faktisch ein Krieg oder ein Terror gegen die eigene Bevölkerung. Das perfide am Stalinismus ist, dass er im Sinne eines humanistischen Ideals stand, aber faktisch ein Terror, eine Totalunterjochung der Bevölkerung war – man kann von Versklavung reden. Dieses vermeintliche humanistische Ideal machte den Stalinismus sehr ambivalent. Nach außen wurde er als im Dienste der Menschheit, im Dienste der Sowjetbürger dargestellt. Die europäische Linke hat sich davon zum Teil an der Nase rumführen lassen oder das so abgekauft. Und nach innen war es eine unmenschliche Maschinerie der Unterdrückung gegen die eigene Bevölkerung.

Edwin: Um das zusammenzufassen: Es geht nicht nur um das, was wir als den Großen Terror bezeichnen, sondern um verschiedene Kapitel in der sowjetischen Geschichte, die vielleicht auch vor Stalin stattgefunden haben aber auch danach.

Dr. Anke Giesen: Von Anfang an passten der Anspruch und wie vorgegangen wurde in der Sowjetunion nicht zusammen. Und auch Lenin hat ja bereits einen roten Terror ausgeübt, hat die ersten Straflager einrichten lassen und..

Edwin: … die Hungersnot in den 20er Jahren.

Dr. Anke Giesen: Ja, die Hungersnot, aber dann wurde immerhin noch diese Neue Ökonomische Politik eingeführt, um das wieder abzufedern. Aber mit Stalin gab es gar kein Regulativ mehr. Unter Stalin wurde die Planwirtschaft eingeführt und rücksichtslos durchgesetzt. Die Planwirtschaft hat was die Landwirtschaft und die Kollektivierung der Landwirtschaft anbelangt eine gigantisch große Terroraktion zur Folge gehabt. Bauern, die nicht in die Kolchose eintreten wollten, wurde ihr Korn, ihr Saatgut, ihre Produktionsmittel genommen, so dass es zu dieser gigantischen Hungerkatastrophe in der Ukraine, Südrussland, Kasachstan und bis nach Kirgisien gekommen ist. Und eben dieser verschärfte Klassenkampf, bei dem man Menschen bestimmter Milieus oder aus bestimmte Sozialisationsgemeinschaften, wie die Geistlichkeit oder die freie Bauernschaft, als nicht sozialismusfähig ansah, dann verhaftet hat und in die Lager brachte.

Ira: Sie sprachen eben die Hungersnot in der Ukraine an. Das ist auch unter dem Begriff Holodomor bekannt. Das war Anfang der 1930er Jahre. In dem Zusammenhang habe ich eine Frage an Sie: Hatte der Stalinismus auch rassistische Züge? Wenn wir an diese Hungersnot in der Ukraine denken, aber auch an Repressionen gegen bestimmte Ethnien wie Russlanddeutsche, also Deutsche innerhalb der Sowjetunion?

Dr. Anke Giesen: Wenn ich jetzt bei der ursprünglichen Bedeutung bleibe, dass Menschen in Folge ihrer genetischen Anlagen, ihres Aussehens verfolgt werden, würde ich den Stalinismus nicht als rassistisch sehen. Was ich sehen würde ist, dass der Stalinismus Menschen nicht für ihre Gene verfolgt hat, sondern für ihre milieuhafte Prägung. Es wurden Sozialisationsgemeinschaften verfolgt. Menschen, die in einem bestimmten Denken mit einer bestimmten Milieukultur gemeinsam aufgewachsen sind, wo man sagte, dass diese Denk- und Kulturschemata hinderlich für den Sozialismus bzw. Kommunismus sind. Zum Beispiel das freie Bauerntum. Das freie Bauerntum war in der Ukraine viel stärker verbreitet als in Russland. Oder das Nomadentum in Kasachstan oder Religionsgemeinschaften und bestimmte Glaubensrichtungen. Diese Sozialisationsgemeinschaften fielen auch mit Ethnien zusammen und das macht es dann schwer zu interpretieren. Es gibt ja diesen großen Streit unter den Historikern: War der Holodomor ein Völkermord oder ein Soziozid? Ging es um Menschen einer bestimmten sozialen Stellung mit bestimmten Einstellungen? Ich tendiere da eher zu der zweiten Gruppe, die sagen, dass es ein Soziozid war. Marx hat geschrieben, dass kleine Völker grundsätzlich nicht sozialismusgeeignet sind und es gibt die Auffassung, dass Stalin sich darauf berufen hat – bereits Lenin hat sich darauf berufen – und dass deshalb zum Teil auch Ethnien verfolgt wurden, wie die Kalmücken oder Tschetschenen.

Edwin: Oder Krimtartaren. Um vielleicht das nochmal zu unterfüttern, was unser Interesse bei dieser Frage war. 1937 im Rahmen des Großen Terrors starteten die sogenannten nationalen Operationen. „National“ hieß im sowjetischen Kontext nicht, dass eine bestimmte ausländische Nation gemeint ist, sondern eine Ethnie, eine Minderheit in der Sowjetunion. Danach wurden bestimmte unbeliebte Minderheiten, die ein bestimmtes Milieu mitgebracht haben, aber vor allem Verbindungen in Staaten hatten, die mit der Sowjetunion verfeindet waren. Die Verbindungen waren aber nicht konkret, sondern einfach nur kulturell. Man hat denen unterstellt, dass man, wenn man ein ethnischer Deutscher ist, wahrscheinlich mit Hitler sympathisieren wird. Ist man ein ethnischer Pole, wird man wahrscheinlich mit Marshall Piłsudski sympathisieren. Bis zu fünf Prozent der Opfer dieser Aktion waren zum Beispiel Russlanddeutsche, während sie nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung stellten. Noch größer waren die Dimensionen bei den Polen zum Beispiel. Und so verfängt diese Idee, dass die Polen oder die Russlanddeutschen besonders stark im Stalinismus verfolgt wurden. Da entstand über Generationen dieser Eindruck, dass sie, weil sie Deutsche oder Polen sind von Stalin verfolgt wurden. Aber ich glaube, da spielen tatsächlich verschiedene Aspekte mit rein. Einer dieser renitenten Bauern, von denen Sie gesprochen haben, war mein Urgroßvater. Seine Familie wurde ausgesiedelt, weil er Mittelbauer war. Nicht primär, weil er Deutscher war, sondern weil er Mittelbauer war. Aber davon waren viele Deutsche betroffen, weil sie vor der Oktoberrevolution erfolgreichere Landwirte waren, als ihre russischen Nachbarn, die bis 1862 noch Leibeigene waren.

Dr. Anke Giesen: Selbst wenn man aus solchen Sozialisationsgemeinschaften, oder aus solchen Ethnien kam, denen kollektiv unterstellt wurde, gegen den Aufbau des Sozialismus zu sein, konnte man sich praktisch, wenn man sich stark engagierte oder wenn man in die Partei eintrat, von dieser Sozialisationsherkunft loslösen. Auch einzelne Menschen polnischer Herkunft hatten wichtige Stellungen in der Partei und auch der Holodomor wurde auch von Ukrainern mitorganisiert, die in der Partei waren. Da sehe ich einen Unterschied zum Nationalsozialismus, wo es völlig egal war, wenn man eine bestimmte Abstammung hatte. Dann konnte man machen, was man will. Als Jude konnte man sich taufen lassen oder man konnte im Ersten Weltkrieg gekämpft haben, man konnte sich völlig als Deutscher verstehen. Es war völlig egal. Da zählten nur die Gene. Es war egal, was man dachte, und da sehe ich diesen Unterschied. Im Stalinismus geht es darum, wie der Mensch geprägt ist. Und wenn der Mensch sich von seiner Prägung völlig loslösen kann, wenn Kinder sich von Ihren Eltern distanzierten, dann gab es eine Möglichkeit von dieser Form von Verfolgung verschont zu werden.

Ira: Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an, der uns auch im Vorfeld interessiert hatte. Und zwar der Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus. Vorhin hatten Sie die Gesetze in Russland erwähnt im Rahmen von Geschichte, Geschichtsschreibung, Erinnerungskultur. 2021 trat in Russland ein Gesetz gegen Geschichtsfälschung in Kraft, dass unter anderem ein Gleichsetzten von Sowjet- und NS-Handlungen während des Zweiten Weltkriegs unter Strafe stellt. Wie schätzen Sie das denn ein? Ist es vielleicht doch berechtigt, die zwei System gleichzusetzten? Wie betrachten Sie das als Historikern?

Dr. Anke Giesen: Gleichsetzten sollte man sie auf keinen Fall. Man kann diese beiden Systeme vergleichen und das finde ich auch sinnvoll. Durch den Vergleich werden einem die Unterschiede bewusster, oder sie treten deutlicher hervor. Es gibt sicherlich bestimmte Züge, wo sich Stalinismus und Nationalsozialismus ähneln. Zum Beispiel in diesem Anspruch die Bevölkerung total zu kontrollieren und auch in der Form, einen Teil der Bevölkerung auszugrenzen. Auch, dass diese Ausgrenzung bis dahin geht, Teile der Bevölkerung zu ermorden. Da sind sicherlich Ähnlichkeiten. Aber ich denke, es gibt auch gravierende Unterschiede. Der Nationalsozialismus hat zum Beispiel weiterhin ein freies Wirtschaften zugelassen, was im Stalinismus durch diese totale Planwirtschaft, in der es kaum noch Privatbesitz gab, mit dem man hätte frei wirtschaften können, nicht möglich war. Das finde ich nochmal einen wichtigen Unterschied und die freie Wirtschaft hat sich in Deutschland auch mehr oder minder freiwillig mit in den Dienst des Hitlerregimes gestellt. Ich finde auch, dass die Form, wie die Bevölkerungen jeweils zu diesen Regimen standen sehr unterschiedlich ist. Da kann man eigentlich bei der deutschen Bevölkerung sagen, dass es eine erhebliche freiwillige Kollaboration gab und was den Stalinismus anbelangt, finde ich das sehr schwierig. Da haben auch Menschen kollaboriert, die haben auch denunziert, aber der Zwangscharakter, der war deutlich ausgebildeter als im Nationalsozialismus. Auch konnte sich der Nationalsozialismus auf antisemitische konservative Einstellungen stützen. Währenddessen glaube ich nicht, dass es eigentlich unter der Sowjetbevölkerung wirklich so viele linkseingestellte Menschen gab. Ich glaube, dass sich diese Staatsideologie, wie sie in den 1920er Jahren etabliert wurde und dann eben von Stalin mit dieser Rücksichtslosigkeit weiter durchgezogen wurden, dass die dem Volk eigentlich fremder war. Der Nationalsozialismus konnte auf massive Teile stark konservativer und antisemitischer Deutscher aufbauen. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass die Nazis einen Massenmord im industriellen Stil durchgeführt haben. Das war in einer Weise perfektioniert, das kann man über den Stalinismus nicht sagen. Die Frage ist ja auch immer: Gab es im Stalinismus einen Vernichtungswillen oder wurde der Tod vieler Menschen einfach in Kauf genommen? Um diese Frage letztendlich beantworten zu können, müsste man noch viel mehr Dokumente beforschen können, aber da jetzt im Moment der Zugang zu den Archiven fast nicht mehr möglich ist, fällt es schwer darauf eine Antwort geben zu können.

Edwin: Ich glaube, ein Unterschied ist auch, dass der Nationalsozialismus 12 Jahre dauerte und der Stalinismus bzw. das sowjetische Terrorregime Jahrzehnte dauerte und mehrere Generationen betraf und so auch eine bestimmte Entwicklung hatte, die der Nationalsozialismus auf Grund seiner Kürze nicht hatte. Welche Auswirkungen hatte denn der Stalinismus auf Osteuropa bzw. die früheren Staaten des Ostblocks und speziell der DDR? Spielt Stalinismus auch im Kontext dieser Länder, dieser Staaten eine Rolle?

Dr. Anke Giesen: Absolut. Erst einmal hat Stalin dadurch, dass durch die Konferenz in Jalta ein großer Teil Ostmitteleuropas und Osteuropas in seinen Einflussbereich geriet, entschieden, wer in diesen Ländern an die Macht gerät. Die Kommunisten, die während der Besetzung Europas durch die Nazis nach Moskau in Emigration gegangen waren und sich dort mit den stalinistischen Repressionen, den Säuberungen verstrickt hatten, in dem sie zum Teil ihre eigenen Genossen ans Messer geliefert hatten, wurden dann gezielt als Machthaber in den neuen, dann sozialistischen Ländern von Stalin an die Macht gebracht.

Edwin: Zum Beispiel Walter Ulbricht.

Dr. Anke Giesen: Zum Beispiel Walter Ulbricht. Praktisch die, die mit in diese Verbrechen verstrickt waren und damit in gewisser Weise auch in Stalins Schuld oder in einer Kumpanenschaft standen. Natürlich wurde auch in diesen dann sozialistischen Ländern gezielt gesäubert und Menschen verhaftet. In der sowjetischen Besatzungszone in Ostdeutschland hieß es zwar erstmal, man würde die Nazis verfolgen, aber sehr schnell stellte sich raus, dass man eben auch kritisch eingestellte Menschen verfolgte. Zum Beispiel Bauern, die sich gegen die Kollektivierung wandten, wurden schon in den späten 40ern, Anfang der 50er Jahre verhaftet und auch nach Moskau verbracht. Zum Teil wurden sie erschossen, zum Teil mussten sie in Workuta Zwangsarbeit in den Minen leisten. Auch kritische Verleger, Journalisten waren betroffen. Auf jeden Fall wurden diese Formen, diese Instrumente, wie man eine Gesellschaft unter seine Kontrolle bekommt, in dem man kritische Bürger verhaftet, umbringt, über Jahre zwangsarbeiten lässt in der Nachkriegszeit in den neuen sozialistischen Ländern und auch in der späteren DDR angewandt. Und natürlich der Aufbau der Geheimdienste. Die ostdeutsche Staatssicherheit wurde nach dem Vorbild des sowjetischen Geheimdienstes aufgebaut.

Edwin: Deswegen auch das Wachbataillon Dzierżyński, was die Ehrengarde in der DDR war, die im Namen den Gründer der Tscheka, der NKVD mitträgt.

Dr. Anke Giesen: Stasi-Mitarbeiter haben sich zum Teil stolz Tschekisten genannt.

Ira: Das heißt, der Stalinismus ist auch ein Teil unserer Geschichte. Vielleicht können wir später zum Punkt Aufarbeitung in Deutschland kommen. Wie wurde denn der Stalinismus nach dem Tod Stalins, der vor genau 70 Jahren war, in der Sowjetunion aufgearbeitet? Und vielleicht auch direkt im Anschluss in der DDR?

Dr. Anke Giesen: Von Aufarbeitung würde ich da nicht sprechen. Es gab einen gewissen Bruch und zwar 1956 auf dem 20. Parteitag durch Nikita Chruschtschow, der als Parteichef gefolgt war, aber man kann nicht sagen, dass es eine Aufarbeitung war. Chruschtschow war selber in den Terror verwickelt. Beria (sowjetischer Geheimdienstchef unter Stalin) wurde zwar verhaftet und erschossen, aber es ist die Frage, ob das nicht mehr eine machtpolitische Aktion war, als dass es darum ging, denjenigen, der große Teile dieser Terroraktion organisiert hatte, zu bestrafen. Es kam einfach eine Zeit, die offener war, wo zum Beispiel Solschenizyn sein Buch „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ veröffentlichen durfte, wo es um den Lageralltag eines Insassen ging. Aber man kann nicht von Aufarbeitung sprechen. Dass im großen Stil die Fakten über den Gulag oder die Säuberungen oder die Kollektivierung der Landwirtschaft veröffentlich worden wären, dass kann man nicht sagen. Oder das Historiker die Möglichkeit gehabt hätten, das zu beforschen, das war auch nicht so. Mit Brezhnevs Machtübernahme (1964 bis 1982 Staatschef der UdSSR) sprechen wir über eine Restalinisierung. Dann wurde das alles wieder weitestgehend tabuisiert. In der DDR wurde nach Stalins Tod die (Berliner) Stalin-Allee in die Frankfurter-Allee umbenannt und die Karl-Marx-Allee auch. Stalinstadt hieß dann wieder Eisenhüttenstadt, aber mehr ist da auch nicht passiert. Die deutschen Gulag-Insassen wurden mit den deutschen Kriegsgefangen 1955 entlassen und konnten nach Deutschland zurückkehren. Aber die befreiten Gulag-Insassen konnten dann in der DDR eigentlich nicht von ihrem Schicksal erzählen und auch die Familien, die Kinder waren tunlichst davor gewarnt in der Schule sowas zu erwähnen. So dass man da auch überhaupt nicht von einer Aufarbeitung sprechen kann.

Ira: Und deshalb haben auch Sie in Ihrer Familiengeschichte erst so spät Zugang dazu gefunden, richtig?

Dr. Anke Giesen: Ja, obwohl meine Großmutter mit meinem Vater und meinem Onkel nach der Verhaftung meines Großvaters direkt in den Westen gegangen ist. Die hatten schon geahnt, dass es mit einem Verwandten im Speziallager Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre kein Spaß ist, in Ostdeutschland zu leben.

Edwin: Und der Eiserne Vorhang hat so viele Menschen davon abgehalten, sowas ähnliches auch zu machen, wenn sie die Situation erkannt haben. Meinen Sie nicht, dass es irreführend ist, das sowjetische Terrorregime durch die Bezeichnung Stalinismus so an dieser einen Person auszurichten? Wir sprechen im deutschen Kontext ja auch nicht vom Hitlerismus, sondern vom Nationalsozialismus.

Dr. Anke Giesen: Gute Frage! Ich hatte bereits gesagt: In Deutschland kann man sagen, dass die Bevölkerung viel freiwilliger, viel subjekthafter im Rahme des Nationalsozialismus agiert hat. Von da aus wäre Hitlerismus in Deutschland wirklich ein falscher Terminus, weil es von breiten Teilen der Bevölkerung auch getragen wurde. Was die Sowjetunion anbelangt: Stalin hatte eine ganz massive Rolle in der Partei. Er hat sich in der Partei im Verlauf mehrerer Jahre nach Lenins Tod die Macht angeeignet. Ich denke schon, dass dieses Regime, dieses Gesellschaftssystem, was er aufgebaut hat, stark von seiner Person geprägt ist. Das ist immer eine spannende Diskussion. Das ist ja auch eine Diskussion, die wir jetzt haben. Inwieweit ist die russische Gesellschaft für den Krieg in die Verantwortung zu ziehen? Inwieweit ist die sowjetische Gesellschaft für den Stalinismus mit in die Verantwortung zu ziehen? Wir wissen, dass viele Leute ihre Nachbarn, zum Teil auch eigene Verwandte denunziert haben. Da ist natürlich eine Mitverantwortung. Auf der anderen Seite hatten wir es in Deutschland mit einem entwickelten Industriestaat zu tun, wo es schon eine gewisse demokratische Erfahrung gab, während es in der Sowjetunion in den Zeiten des Stalinismus noch viele Analphabeten gab. Inwiefern kann man eine bäuerlich geprägte Bevölkerung, die in weiten Teilen über wenig Bildung verfügt und wo es keine breite Tradition der mündigen Subjekte gibt, so in die Verantwortung ziehen, wie eben eine mitteleuropäische, vollindustrialisierte und bereits teilweise demokratisierte Gesellschaft? Das ist die Frage, die ich mir da stelle.

Edwin: Die Auswirkung sehen wir im Prinzip heute. In diesem postsowjetischen Imperialismus der Russischen Föderation. Ich persönlich finde nicht, dass man die Verantwortung für diesen neoimperialistischen Krieg alleine nur Putin übertragen sollte. Die Gesellschaft trägt es in gewisser Weise mit. Für mich ist es eine Folge der Nichtaufarbeitung dieses stalinistischen totalitären Erbes, dieses Landes, dieser Region und ich sehe darin ein Problem, dass man das nur auf die Person Stalins reduziert. Nach dem Motto Affe tot, klappe zu. 1953 ist er gestorben, da hat man die Straßen unbenannt und man hat den Kult an ihm verboten, aber eine Denkweise ist erhalten geblieben. Ein gewisser Druck auf die Gesellschaft ist erhalten geblieben. Sie haben gesagt, in der Zeit unter Brezhnev hat eine Restalinisierung stattgefunden. Insofern ist es nicht wirklich aufgearbeitet und ich finde es schwierig, wenn man das nur auf die Person Stalins reduziert, weil man alles andere da rausnimmt.

Ira: Sie sprachen ja von mündigen Subjekten und das ist auf heute bezogen relevant. Es sind in Russland ja auch mündige Personen und es ist immer diese Unterscheidung von Schuld und Verantwortung. Eine Ukrainerin hat mit letztens ein schönes Bild gezeichnet. Sie meinte, wenn ich meine Haustür öffne und da ist ein kleines Baby vor der Tür und das ist nicht meins, das hat da jemand abgelegt. Es ist ja nicht meine Schuld, dass es da ist, aber trotzdem stehe ich plötzlich in der Verantwortung. Ich glaube, das ist eine große Frage, die Menschen in Russland umtreibt, sofern sie sich diese Frage überhaupt stellen. Frau Giesen, wie sehen Sie das und wie nutzt Putin die Person Stalins? Da hat sich einiges in den letzten 20 Jahren getan. Die Umfragewerte für Stalin sind ganz schön nach oben gegangen. Er wird immer beliebte in Russland

Dr. Anke Giesen: Die russische Gesellschaft trägt heute eine andere Verantwortung als die Sowjetgesellschaft in den 20er, 30er Jahren, weil heute der Bildungsstand ein anderer ist, die Möglichkeit sich zu informieren eine andere ist und es schon Entwicklungen eines bürgerlichen Bewusstseins in Russland gegeben hat, was es zu Sowjetzeiten nicht gab. Ich will nicht sagen, dass dieses bürgerliche Bewusstsein breit ausgebildet ist – es ist sicherlich ausbaufähig – aber ich würde heute sagen, die russischen Bürger sind in anderer Weise für diesen Krieg verantwortlich als die Sowjetbürger damals für das stalinistische Gesellschaftssystem und den stalinistischen Terror. Wieso wird Stalin immer beliebter? Ich sehe die russische Gesellschaft ein Stück an einem Punkt, wo die deutsche Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg war. Dass es sowas gibt, wie ein massives Kränkungstrauma bezogen auf den Verlust des Sowjetimperiums. Und dass man sich noch nicht in einer Bürgergesellschaft eingefunden hat, sondern dass man sich noch im großen Maße über die Größe und die Bedeutung des Landes definiert, in dem man wohnt. Da hat der Zusammenbruch der Sowjetunion eine starke Kränkung ausgelöst. Diese Kränkung führt dazu, dass man eben bereit ist, jemand wie Putin zu unterstützen, der die Versprechung macht, diese Größe wieder herzustellen. Das ist natürlich ein Irrweg, aber die Kräfte in der Bevölkerung und das wurde bei meiner eigenen Forschung – ich habe Feldforschung in Perm, im Ural gemacht – immer wieder deutlich, wie stark noch große Bevölkerungsanteile darauf hoffen, dass irgendein mächtiger Patron ihnen ein gutes Leben ermöglicht und den Ruhm des Landes, in dem sie wohnen in der Welt wiederherstellt. Personen, die sagen, ich brauche Freiheit, um mich selbst zu verwirklichen und meine eigenen Ideen umzusetzen und Bürgerrechte zu nutzen, die sind nach wie vor in der Minderheit. Ich bin bei Memorial und ich würde auch sagen, dass die Nicht-Aufarbeitung der stalinistischen Repressionen und des Terrors dazu führt, dass Russland heute da ist, wo es ist. Aber was auch gefehlt hat, ist ein emanzipativer Schub. Ich würde sagen, in Deutschland kann man wirklich dankbar sein, dass von den Westalliierten und vor allen Dingen von der USA eine massive Forderung kam, das Bildungssystem zu reformieren und sowas wie Mündigkeit, Emanzipation als Bildungsideal einzuführen. Das ist nämlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland nicht passiert. Es gibt nach wie vor das Bildungsideal des gehorsamen Untertanen, der zuhört, was der Lehrer sagt, der brav mitschreibt. Auch in der Universität wird der offene Dialog nicht gefördert. Ich würde sagen, es ist so ein Zweiklang. Einerseits, dass man die Vergangenheit nicht versteht, aber andererseits, dass man in der Gegenwart in keiner Weise ermuntert wird, Fragen zu stellen, sich auseinanderzusetzen und Autoritäten in Frage zu stellen. Außer in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Nischen vielleicht. Das würde ich sagen, dass das dazu führt, dass wir heute eine russische Gesellschaft haben, wie sie denn ist.

Ira: Und Putin und seine Machtarme, die unterdrücken dieses Fragestellen ja ganz massiv, wie im Fall Memorial sichtbar ist. Putin nutzt ganz geschickt die Person Stalins für seine Machtzwecke.

Dr. Anke Giesen: Ja, und auch die Erinnerungen. Er stützt sich ja wirklich auf die Ü50-Generation, die sich noch an die Brezhnev-Ära erinnert und die Brezhnev-Ära in rosaroten Farben jetzt in Erinnerung hat. Das finde ich auch interessant. Es werden permanent diese ganzen netten Filme der Brezhnev-Ära im Fernsehen wiederholt.

Edwin: Wie „S ljochkim parom (Ironie des Schicksals)“.

Dr. Anke Giesen: Genau oder dieser schöne Film „Liebe im Büro“. Ich war selber 1980 zum ersten Mal in der Sowjetunion. Ich kann mich gut erinnern, wie schlecht die Leute angezogen waren. In diesen Filmen hat man schöne Möbel, man ist gut angezogen. Ich glaube inzwischen, dass nur noch eine Pseudoerinnerung an die Brezhnev-Ära existiert und dass man eigentlich so, wie es wirklich war verdrängt hat.

Edwin: Diese Art von Propaganda, die wirkt auch auf Menschen, die hier in Deutschland leben. Wir sprechen jetzt gerade über Menschen, die in der heutigen Russischen Föderation leben. Aber anfällig für diese Denkweise, für diese Narrative sind auch Teile unserer Bevölkerung. Wenn ich überlege, dass viele osteuropäische Staaten, allen voran die baltischen Staaten oder Polen, seit Jahr und Tag die Aufarbeitung des Stalinistischen Terrors fordern oder zum Beispiel einen gemeinsamen Gedenktag ausgerufen haben, der an die beiden totalitären Regime mahnen sollte, habe ich den Eindruck, dass bei uns in Deutschland noch relativ wenig Einsicht herrscht, dass das auch relevant ist für unser Geschichtsbewusstsein. Wie sehen Sie denn den Stand der Aufarbeitung des Stalinismus hier bei uns in unserer Gesellschaft in Deutschland.

Dr. Anke Giesen: Ich halte den auch nicht für besonders gut. Man kann natürlich sagen, auf der Ebene der Wissenschaft hat man viel Wissen, aber was das breite Wissen in der Bevölkerung anbelangt, ist das begrenzt. Das hat zum einen eben den Grund, dass in der DDR dieses Thema tabuisiert war und in der Bundesrepublik Deutschland nicht interessant war, bzw. durch die Linke eigentlich unterdrückt wurde. Man kann wirklich sagen auch in den 70er Jahren mit der Entspannungspolitik, das hatte natürlich seinen Nutzen und seine positiven Aspekte, aber es hat auch dazu geführt, dass die Sowjetunion zum Teil weichgezeichnet wurde. Wir haben ja mit Gulag-Überlebenden Kontakt, die sagten, dass sie in der Bundesrepublik damit keine Stimme hatten. Ihr Schicksal wollte niemand hören. Dann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion führte es dazu, dass man sagte, dass Russland so wie wir wird, dass es westlich wird. So dass man die Wissenschaften, die Osteuropawissenschaft, die Slavistik, die sich damit beschäftigten, in Deutschland abbaute. Ich gehöre zu der Generation von Slavisten, die umschulen mussten, weil man uns dann sagte, dass wir nicht mehr gebraucht würden. Die Russen lernen jetzt alle Englisch. Dann kam eben dazu ein gewaltiger Zuzug von Menschen aus dem postsowjetischen Raum, deren Geschichte niemand verstand oder versteht. Gleichzeitig war in der Zeit erinnerungskulturell noch ein Schub der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Es entstanden überall Geschichtswerkstätten, die sich mit der lokalen Geschichte beschäftigten und wo es darum ging, die Aufarbeitung des Nationalsozialismus stärker in der Bevölkerung zu verankern. Das war die gesellschaftshistorische Entwicklung und da hatte der Stalinismus einfach keinen Platz. Auch nicht in Ostdeutschland. Die DDR hatte auch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus blockiert. Eigentlich kann man sagen, dass erst durch den Ausbruch der russischen Aggression gegen die Ukraine wird deutlich, was da eigentlich noch für ein Potential steckt, was den Lauf der europäischen Geschichte bis heute beeinflusst, aber was eben von weiten Teilen der Bevölkerung wirklich gar nicht verstanden wird und wurde. Jetzt zum Beispiel in Berlin wurde hier bei uns in der Bildungsbehörde in aller Eile ein Programm aufgelegt, wo Leute in die Schulen gehen, und über diese Hintergründe berichten, damit Schüler überhaupt die Chance haben, diesen Krieg und diese Aggression zu verstehen. Das hätte eigentlich nicht sein müssen, wenn man sich schon vorher diesem Thema in den Schulen und auch in Volkshochschulen mehr angenommen hätte.

Edwin: Es ist noch einiges zu tun.

Dr. Anke Giesen: Da ist noch viel zu tun.

Ira: Frau Giesen, vielen Dank! Ich glaube, wir könnten das Gespräch noch stundenlang fortsetzten. Ich habe eine abschließende Frage: Wenn jemand merkt, dass seine/ ihre Großeltern auch im Gulag waren oder während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeit leisten mussten und wurden damit auch Opfer des Stalinismus. Wie kann Memorial Deutschland da konkret helfen, dass man vielleicht mehr über seine Angehörigen erfährt.

Dr. Anke Giesen: Wir haben noch Zugang zu den Datenbanken, die Memorial aufgebaut hat und wir recherchieren dann auch, oder wir sagen den Leuten, wo sie sich hinwenden können. Da stehen wir auf jeden Fall zur Verfügung.

Ira: Das ist ein toller Service. Um jetzt an den Anfang der Folge anzuknüpfen: Ich hatte damals auch ganz viel Unterstützung erhalten. Es ist kostenfrei und deswegen ist es auch wichtig, Organisationen wie Memorial mit Spenden zu unterstützen. Darüber würde auch ich mich freuen, weil diese Arbeit so wertvoll ist. Vielen Dank, Frau Giesen!

Edwin: Ich wünsche mir, dass das Bewusstsein in unserer Gesellschaft für diesen Teil der europäischen Geschichte, über den wir zuletzt gesprochen haben, geschärft wird und da könne wir nur zusammenarbeiten.

Ira: Absolut. Alles Gute für Sie weiterhin, danke für ihre Arbeit und danke an Memorial!

Dr. Anke Giesen: Vielen Dank

Edwin: Vielen Dank. Bis bald. Poka!

Ira: Poka!

Dr. Anke Giesen: Poka!