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MARIT CREMER: Identität als Strategie – wie Deportation und Migration die Identitäten der Russlanddeutschen form(t)en

Was macht die Identität eines Menschen aus und welchen Wandlungen unterliegt sie in Prozessen wie Repression, Migration und Integration?

Jahrzehntelang suchten Russlanddeutsche in der Sowjetunion nach Wegen im Umgang mit ihrer ethnischen Herkunft unter dem Einfluss des gesellschaftlichen Stigmas, ein innerer Feind zu sein. Mit der Aussiedelung nach Deutschland müssen dieselben Menschen nun die Fremdwahrnehmung „Russen“ in Deutschland zu sein bewältigen. Soziologische Untersuchungen zeigen auf, welche Strategien ein Individuum entwickelt, um mit dieser Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung umzugehen.

Als Soziologin ist Dr. Marit Cremer Expertin für russlanddeutsche Identitäten, tschetschenische Diaspora in Deutschland und die Ostukraine. In ihren Arbeitsgebieten der Biographieforschung, Migrationssoziologie und Kultursoziologie erkundet sie Auswirkungen von Kollektivtraumata und Repressionen auf das Individuum. Sie engagiert sich für die Menschenrechtsorganisation Memorial Deutschland e.V., wo sie Projekte zur Erinnerungspolitik im postsowjetischen Raum und Deutschland betreut. In ihren jüngsten Forschungen beschäftigt sie sich mit tschetschenischen Geflüchteten in Deutschland. Zuvor erforschte sie Identitätsstrukturen der zweiten Generation deportierter Russlanddeutscher und Erinnerungen von Kindern deutscher GuLag-Häftlinge.

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Bild: Marit Cremer. Rechte: Kulturreferat

Ira: Was ist eigentlich Identität und woraus wird Identität geformt?

Marit Cremer: Identität wandelt sich und das kann man innerhalb von Biographien nachweisen. Durch die Veränderungen in der Gesellschaft verändert sich auch der Mensch, der mit ihr in unmittelbarer Kommunikation lebt. Identität ist etwas, das immer herausgefordert wird. Und auf das, was mit dem Menschen passiert, reagieren muss.

Edwin: Nimmt Migration Einfluss auf eine Identitätsbildung und wenn ja, was kommt bei diesen Menschen dazu?

Marit Cremer: Je nach dem, wohin man migriert, muss sich die Person neu orientieren und gleicht zunächst die Wertvorstellungen, die sie zuhause gelernt hat, mit dem was in der neuen Gesellschaft üblich ist ab. Wenn die neue Gesellschaft sehr anders ist als die Herkunftsgesellschaft, dann wird die Person zwangsläufig damit konfrontiert, dass mitgebrachte Verhaltensweisen anders aufgenommen und zum Teil mit Befremden gesehen werden. Es ist immer ein Abgleichen und Reflektieren der eigenen Werte. Manchmal sind sie auch erstmal überfordert und stützen sich viel mehr auf die eigenen Werte, die sie mitgebracht haben, die ihnen vielleicht gar nicht so bewusst waren. Es gibt auch Menschen, die dann noch viel stärker ihr Wertesystem verteidigen und noch konservativer werden, als die Menschen in der Herkunftsgesellschaft selbst sind.

Ira: Du hast Dich in einer Forschungsarbeit 2018 mit der Identität von Russlanddeutschen befasst. Was hast Du herausgefunden?

Marit Cremer: Ich habe mich gefragt, wie die Identität von den Kindern, der unter Stalin deportierten Russlanddeutschen ist. Die die Erfahrung gemacht haben, in den Verbannungsorten ihrer Eltern aufgewachsen zu sein. Zum Teil sind diese bereits in den Dreißigerjahren verbannt worden, aber größtenteils sind sie 1941 deportiert worden, weil die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfallen hat. Ich wollte wissen, wie es für diese Deutschen war, mit dem Stigma „Faschist“ in der Verbannung aufzuwachsen. Die Schuld Nazideutschlands wurde im Grunde auf alle Deutschen, die in der Sowjetunion gelebt haben, übertragen. Auch wenn sie  mit dem dritten Reich direkt nichts zu tun hatten. Sie trugen trotzdem die Schuld an den Opfern des Krieges in der Sowjetunion.

Was weiß man eigentlich noch so von seinen Vorfahren und was passiert dann, wenn man dann Land verlässt und in das Deutschland zurückgeht, aus dem die Vorfahren irgendwann gekommen sind? Viele von denen, die ich interviewt habe, konnten mir kaum etwas über die Herkunft ihrer Eltern sagen. Manche wussten es gar nicht, manche wussten es ungefähr. Bei einigen lag es daran, dass ihre Eltern zur Zeit der Deportation selber noch Kleinkinder waren. Das Wissen, woher deren Eltern kamen, ist völlig verloren gegangen. Das konnte oder wollte ihnen auch keiner mehr sagen.

Edwin: Die Zuwanderungsgrundlage der russlanddeutschen Aussiedler ist das Kriegsfolgenschicksal und weniger ihre deutsche Herkunft, bzw. die deutsche Herkunft hat mit ihrem Repressionsschicksal etwas zu tun. Wie zentral und wie wichtig ist diese Repressionserfahrung in der Identitätskonstruktion oder Identitätsbildung?

Marit Cremer: In der Sowjetunion haben sie alle die Erfahrung gemacht als Deutsche diskriminiert worden zu sein und die meisten haben versucht, diese deutsche Herkunft auch unkenntlich zu machen. Deswegen ist es so spannend, was dann passierte, als nach der Perestroika die Möglichkeit bestand etwas leichter nach Deutschland zurückzuwandern.

Ira: Wie kann man denn seine Herkunft unkenntlich machen?

Marit Cremer: Das kann damit beginnen, dass man sich von der Religion, die zur deutschen Identität gehörte, löste und den Glauben nicht ausüben wollte, weil die Sowjetunion ein atheistisches-kommunistisches Land war. Das kann auch die Sprache gewesen sein, weil Deutsch als die Sprache der Faschisten wahrgenommen wurde. Dann sprachen die Kinder mit den Eltern Russisch und nicht Deutsch. Später gingen diese Menschen gemischte Ehen ein, damit sie den deutschen Namen sozusagen losgeworden sind, der ihre deutsche Identität immer verraten hat.

Die Sowjetunion war eine Defizitgesellschaft. Bildung, Wohnen oder Arbeit waren knappe Güter, für deren Erlangung Beziehungen vonnöten waren. Da war es schlecht, wenn man deutscher Herkunft war.

Edwin: Die Interviews führtest Du hier in Deutschland, das heißt, Du hast dich mit Aussiedlern unterhalten. Wie gehen die denn heute hier in Deutschland mit ihren Strategien um? Bereuen sie es, dass sie ihr Deutschsein dort nicht eher bewusst gelebt haben oder versuchen sie das in Deutschland durch irgendwas Anderes zu kompensieren?

Marit Cremer: Erstmal mussten sie vor den Behörden in Deutschland nachweisen, dass sie Deutsche sind. In der Sowjetunion mussten sie es nicht. Es wurde einfach angenommen. Da wurde die Nationalität in den Pass eingetragen. Oft war der Nachweis ein langer, schwieriger und auch teurer Prozess. Und dann kamen sie nach Deutschland und dachten, jetzt sind sie endlich in einem Land, wo Deutschsein völlig in Ordnung ist, akzeptiert wird und wo sie eben nicht mehr als Faschisten diffamiert werden und wo sie einfach Deutsche unter Deutschen sein können. Und was passiert? Sie werden von dem Großteil der Bevölkerung als Russen wahrgenommen und besonders tragisch finde ich, dass sie abwertend als „Russen“ bezeichnet werden. Der Russe, ist im deutschen Sprachgebrauch oftmals auch einer, der irgendwie aus unzivilisierten Gegenden kommt. Diese Vorurteile haben noch etwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Jetzt standen sie wieder vor der Situation sich dazu verhalten zu müssen.

Ihre deutschen Attribute versuchten einige Repatriierte wieder kenntlich zu machen und zum Teil besonders herauszustellen. Das konnte auch das Bekenntnis zur evangelischen Konfession sein. Jedenfalls deklarieren sich viele als evangelisch, weil das als eine deutsche Religion wahrgenommen wurde. In den Interviews merkte ich aber, dass durch die Deportation ganz viel an Wissen über das evangelische Glaubensbekenntnis verloren gegangen ist.

Viele haben jedenfalls das Gefühl, auch hier nicht dazu zu gehören.

Edwin: Ich finde das auch in Zusammenhang mit Aussiedlern aus anderen postsozialistischen Staaten spannend. Ich glaube, der Mehrheitsgesellschaft fehlt die Kenntnis, dass es nicht primär um ihre deutsche Herkunft geht, sondern um ihre Repressionserfahrung aufgrund ihres Deutschseins und dass sie stigmatisiert wurden. Bis heute sieht man in Debatten oder Beiträgen in sozialen Netzwerken, dass sehr viele auch aufgeklärte und kluge, gebildete Menschen diesen feinen Unterschied gar nicht erkennen. Und Aussiedler kommen immer wieder in die Situation, sich zu erklären. Und wenn ihnen oder anderen Menschen, die jetzt gerade nach Deutschland migriert sind, diese Fragen gestellt werden, fehlt ihnen oft das Instrumentarium, um es korrekt zu erklären.

Ira: Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass als Russlanddeutsche oder generell als Aussiedlerin man so einen Rechtfertigungsdruck hat zu erklären, warum man eigentlich in Deutschland ist.

Kannst Du uns beschreiben, welche Strategien Russlanddeutsche für sich gewählt haben, um mit den Erfahrungen des unterschiedlichen Selbst- und Fremdbildes sowie des doppelten Ausschlusses umzugehen?

Marit Cremer: Es ist auf jeden Fall eine bittere Erfahrung und ich glaube, es ist insbesondere die Erfahrung gerade, als sie nach Deutschland gekommen sind, die sie erstmal nicht so erwartet haben. Es gibt diejenigen, die versucht haben hier Anschluss zu finden, die auch Jobs gefunden haben. Die versucht haben, Teil dieser Gesellschaft zu werden. Auch deren Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. Manche reagieren auf diese Ablehnung sehr empfindlich und ziehen sich in eine russischsprachige Community zurück. Es gibt aber auch einen ganz anders gelagerten Fall zum Beispiel derjenigen, die schon viel früher ausgewandert sind und sich selbst mehr als verfolgte Christen beschrieben haben. Sie waren zwar auch Deutsche, für sie war aber die Identität als verfolgte Christen in einem atheistischen-kommunistischen Staat viel stärker ausgeprägt. Sie haben auch in der Sowjetunion segregiert im Schutz ihrer Gemeinschaft gelebt. Diese Erfahrung wurde mitgenommen und dann kommt es erstmal darauf an, wie geht man im neuen Land damit um. Eine Strategie wäre auch zu sagen, man bleibt in seiner Community und pflegt das Gefühl immer noch bedroht zu sein.

Edwin: Gibt es unter diesen Strategien auch sowas wie Überassimilation?

Marit Cremer: In der von mir untersuchten Generation habe ich das so nicht nachweisen können. Es betrifft eher die nächste Generation, die versucht diese russlanddeutsche Identität nicht nach außen hin ständig kenntlich zu machen, sondern maximal angepasst zu leben. Das versuchen manchmal auch die Eltern in der Erziehung ihrer Kinder. Es gibt einige, die ihren Kindern kein Russisch mehr beigebracht haben, weil sie meinen, dass die Kinder nur Nachteile dadurch haben. In einem Sample macht es eine Mutter so, weil sie will, dass ihre Tochter unbedingt eine Heimat haben soll und nicht wie sie selbst diese Heimat immer haben wollte, aber nicht bekommen konnte.

Ira: Als wir nach Deutschland gekommen sind, habe ich darauf bestanden, dass meine Eltern mit mir und meinen Geschwistern Deutsch sprechen. Als Erwachsene habe ich festgestellte, dass ich das Russische gar nicht mehr kann und finde es nun schade. Mittlerweile ist das so, dass ich meine Eltern darauf aufmerksam mache, dass sie mit mir Russisch sprechen. Aber sie haben es leider verlernt im Kontext mit mir Russisch zu sprechen.

Edwin: Den Menschen ist es nicht zu verdenken, dass sie diese Wahl getroffen haben. Bei denen, die in den 80ern und Anfang 90er Jahren kamen, galt das Motto als Deutsche unter Deutschen zu leben. Und das nicht nur im ethnischen Kontext, sondern dass man hier nicht mehr der Gefahr ausgeliefert ist, als eine Minderheit ausgegrenzt zu werden, sondern ein Teil einer Mehrheit zu werden.

Ira: Das birgt ja auch Konfliktpotential. Also, wenn du dich zum Beispiel in Deutschland ausgegrenzt fühlst und dann sagst: Ich bin nicht russlanddeutsch, ich bin nicht Deutsch, ich bin ein „Russak“ und dich dann in deine russischsprachige Community zurückziehst. Welche Strategien gibt es denn von Seiten der Gesellschaft?

Marit Cremer: Meine Erfahrung auch mit den tschetschenischen Geflüchteten, mit denen ich auch viele Interviews geführt habe ist, zeigt, dass die ersten Jahre in Deutschland wahnsinnig wichtig sind. Und wenn sie dann die Erfahrung machen, hier nicht gewollt zu werden, dass sie als Fremde wahrnehmen werden, dass die Menschen sie nicht hierhaben wollen oder immer wieder als Russen bezeichnen, ist es für sie sehr schmerzhaft.

Und was dafür getan werden muss, ist ganz viel an Aufklärung. Zum einen, dass die Schüler und Schülerinnen heute auch im Geschichtsunterricht und in anderen Fächern lernen, wie deutsche Aus- und Einwanderung historisch stattgefunden hat. Und, dass es kein Privileg ist deutsch zu sein. Es wird zwar oft als Privileg empfunden, weil es mit bestimmten Vorzügen verbunden ist als Deutscher geboren zu sein. Dafür hat jedoch der Einzelne nichts getan. Deutschland ist längst zu einer Zuwanderungsgesellschaft geworden. Ein Viertel der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Wir sind längst darüber hinaus zu sagen, nur wer hier geboren ist und deutsche Vorfahren hat, der bekommt hier bestimmte Sonderrechte, die den anderen vorenthalten werden. Hier geht es oft um den Kampf um Ressourcen. Es sollte aber vorbei sein.

Edwin: Das ist auf jeden Fall ein Motto für die Zukunft. Wie wollen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten und die deutsche Einheit auch als Vielheit gestalten? Ich denke, der europäische Weg ist auf jeden Fall das, wo man mit den unterschiedlichsten Identitäten hin will. Aber im Großen und Ganzen ist das für Deutschland das Grundgesetzt, das ist die Europäische Union, das ist das Bekenntnis zum freiheitlich-liberalen Staat und der offenen Gesellschaft.

Marit Cremer: Wenn man sich die Biographien anschaut, auch dieser besonderen Generation der Kinder der deportierten Russlanddeutschen, dann kann man da auch sehr schön nachweisen, dass Identität eine Strategie ist. Und je nach dem, was die Gesellschaft an Anforderungen an die Individuen stellt, wird diese Identität gestaltet. Die wird auch möglicherweise immer mal wieder umgeformt, was für das Überleben auch wichtig ist. Wenn die Erfahrung ist, dass eine bestimmte Herkunft, eben die deutsche Herkunft, das Überleben geradezu bedroht, wie im Fall einer Interviewten, dann ist es ja nur verständlich, dass sie jetzt nicht damit hausieren geht. Sondern sie muss etwas finden, um zu überleben. Und das ist, diese Herkunft unkenntlich zu machen. Und gerade in der Sowjetunion ist es wichtig gewesen Beziehungen überall hinzuhaben, um überleben zu können. Um sich und ihre Familie gut durchzubringen, ändern sie je nach Lage, je nach System ihre Identität. Sie ändern sie dann nochmal, als sie dann wieder in Deutschland sind, weil da die Anforderung, die die Gesellschaft an sie stellt, wieder anders sind.

Ira: Abschließend können wir sagen, es gibt keine homogene russlanddeutsche Identität. Identität ist etwas, dass im Wandel ist und auch manchmal kontextabhängig. Und es sollte auch niemand Deutungshoheit über die russlanddeutsche Identität haben.