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Waldemar Zeiler: Demokratie, Wirtschaft und Herkunft neu denken

Nur vier Prozent der Aussiedler aus Kasachstan gehen in Deutschland einer beruflichen Selbständigkeit nach.* In dieser Folge sprechen wir mit einem von den wenigen: Waldemar Zeiler ist Mitgründer von „einhorn products“ und „Entrepreneur’s Pledge“, einer Initiative für mehr soziale Verantwortung von Unternehmen. Er ist Autor des Buchs „Unfuck the economy“ und setzt sich für das Wachstum unserer Demokratie ein. Auch ist der erfolgreiche Unternehmer Erfinder des Demokratiefestivals, das 2020 hätte in Berlin stattfinden sollen. Im Interview spricht Zeiler über all das sowie seine Kindheit als russlanddeutscher Aussiedler in Süddeutschland und warum er erst in den USA begann, sich nicht für seine Herkunft aus Kasachstan zu schämen.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Edwin: Ira, das ist ja dein Thema: Du bist auch selbstständig. Wie bist du dazu gekommen?

Ira: Ich habe mich vor vier Jahren als Online-Marketingberaterin selbstständig gemacht und damit gehöre ich zu den nur vier Prozent der Aussiedlerinnen aus Kasachstan, die in Deutschland leben und selbstständig sind. Durchschnittlich ist in Deutschland jeder zehnte Erwerbstätige selbstständig.

Edwin: Damit bist du eine ziemliche Ausnahme. So auch unser heutiger Gast.

Ira: „Geboren 1982 in der weiten Steppe stellt Waldemar Zeiler die Wirtschaft auf den Kopf“, heißt es in dem Einband seines Buches „Unfuck the economy“. Heute ist er erfolgreicher Unternehmer, hat das fairstainable Unternehmen Einhorn-Products in Berlin gegründet und setzt sich für das Wachstum unserer Demokratie ein.

Edwin: Die ersten sieben Jahre deines Lebens hast du im Gebiet Qaraghandy verbracht. Woran erinnerst du dich und wo genau kommt du her?

Waldemar Zeiler: Das war eine Bergarbeiterstadt: Schachtinsk. Ich habe kaum Erinnerungen. Mit sieben Jahren haben meine Eltern mich eingepackt und da sind wir rübergefahren. Ich weiß nicht was da passiert ist, ob ich dieses Rausreißen aus dieser Plattenbaustadt traumatisch verarbeitet habe. Da war wirklich auch nichts Schönes. Das war einfach nur ein Vier-Ecken-Plattenbau und eine Müllhalde in der Mitte. Inzwischen ist es eine Geisterstadt geworden.

Ira: Du warst sieben, als ihr nach Deutschland ausgewandert seid: Wie war das?

Waldemar Zeiler: Die Ausreise musste geheim gehalten werden. Damit sich die Kinder nicht verplappern, haben meine Eltern irgendein Phantasialand erfunden. Sie haben mir nicht gesagt, dass wir nach Deutschland fahren. Mein Vater war in einer relativ hohen Anstellung dort und die hatten einfach Angst, dass irgendjemand die Ausreise sabotiert.

Edwin: Weißt du, wie deine Eltern in Kasachstan gelandet sind?

Waldemar Zeiler: Meine Oma hat Opa in einem Arbeitslager kennengelernt - nördlich - fast schon Sibirien und dort ist auch meine Mutter geboren worden. Nach Ende der Trudarmee und Kommandantur war es ihnen nur erlaubt in Richtung Kasachstan weiterzuziehen. Die durften natürlich nicht in ihre Häuser ans Schwarze Meer zurück, die waren schon besetzt. Und dann sind sie über eine mehrere Wochen andauernde Wanderung nach Aqtas im Gebiet Qaraghandy.

Ira: Du selbst bist dann in einer Kleinstadt in Süddeutschland aufgewachsen. Wie bist du da aufgenommen worden?

Waldemar Zeiler: Wir sind 1989 hergekommen. In der Stadt hieß es zunächst: Ach, die Russen kommen. Das war noch ganz nett, weil es kamen noch nicht so viele. Wir waren die zweite Familie in dieser Stadt mit 10.000 Einwohner:Innen. Da wurde noch Kontakt gesucht, das hat sich natürlich ein, zwei Jahre später komplett umgedreht. Da war „die Russen kommen“ nicht mehr romantisch, sondern: Was passiert jetzt eigentlich? In dieser Stadt waren bis zu 1000 Russlanddeutsche. Viele Sachen kamen dann wieder in der Geflüchtetenkrise hoch und so habe ich mich total zurückerinnert gefühlt.

Edwin: Und du persönlich, wie fandest du neue Freunde, wie fandest du dich in der Schule ein?

Waldemar Zeiler: Ich hatte mega Glück. Ich bin direkt in die erste Klasse gekommen und da war das für mich relativ easy. Klar, es gab Hänseleien aber ich habe schnell die Sprache gelernt und konnte meinen Weg gehen. Aber meine Schwester war 14, sie war in der Pubertät und für sie war das Horror. Davor war sie eine Musterschülerin und eine richtig klasse Athletin. Aufgrund der Sprache hat man erst gesagt: Du gehst in die Hauptschule. Sie hat dort Schwierigkeiten gehabt, Freunde zu finden. Sie musste ihren Weg über die Hauptschule, die Realschule bis hin zum Lehramtsstudium hochkämpfen. Im Vergleich hatte ich es leicht.

Edwin: Zum Hintergrund: Die einzelnen Bundesländer haben dieses Problem damals auf unterschiedliche Art und Weise gelöst. Ich hatte zum Beispiel das Glück, dass wir nach Berlin kamen und da gab es Integrationsklassen. Nach einem halben Jahr oder nach einem Schuljahr hatte man eine Empfehlung für eine Schulform bekommen. Ist man nach Baden-Württemberg gekommen, so wie in deinem Fall, wurde man zurückgestuft und in eine niedrigere Schulform eingeschult. Insofern sind die schulischen Biografien bei den Aussiedlerkindern auch unterschiedlich.

Ira: Wolltest du eigentlich schon zu Schulzeiten Unternehmer werden und dich selbstständig machen?

Waldemar Zeiler: Gar nicht. Meine Eltern kommen aus der Sowjetunion, da gab es nichts Unternehmerisches. Ich glaube, das war reiner Zufall. Es war irgendwann im Abitur. Ich bin aufs Wirtschaftsgymnasium gegangen, aber das war eher weil ich in die nächst größere Stadt wollte. Dort habe ich mich erstmals mit Wirtschaft beschäftigt. Dann hatte ich mit meinem besten Freund, meinem Cousin, einfach eine Schnapsidee. Einmal diese Erfahrung gemacht und: Wow! Das ist also Unternehmersein? Wie geil! Das will ich jetzt haben und seitdem bin ich hooked.

Ira: Was war denn eure erste Idee?

Waldemar Zeiler: Z & B – Berufseinsteigeragentur. Wir haben Anschreiben gemacht und Lebensläufe optimiert, damit Leute eine Ausbildungsstelle oder einen Studienplatz bekommen konnten. Daraus haben wir dann ein Business gemacht. Unsere Freundschaft ist daran zerbrochen. Und das ist eines meiner Learnings: Gründet nie mit Familie und Freunden! Diese Säule ist so wichtig. Nie würde ich alles in einen Topf werfen und alles riskieren. Auch wenn es genug Beispiele dafür gibt, dass es auch klappt aber für mich habe ich beschlossen: Ich will das trennen.

Edwin: Ira hat am Anfang angebracht, dass relativ wenige Aussiedler:Innen selbstständig sind. Kannst du das aus deinem eigenen familiären Umfeld bestätigen. Beobachtest du es auch so?

Waldemar Zeiler: Voll. Das wundert mich eigentlich. Wenn man in die USA schaut, dann neigen Menschen mit migrantischen Historien eigentlich dazu, sehr oft zu gründen. Sie haben eigentlich nichts zu verlieren und gehen deswegen in die Gründung. Das ist jetzt nur eine Hypothese: Aber das habe ich bei Russlanddeutschen nicht so erlebt. Ich glaube, die sind eher vorsichtiger. Aber vielleicht hat das auch was mit der Historie aus der Sowjetunion zu tun und bloß nicht irgendwie erkannt werden oder rausstechen. Wie seht ihr dann das?

Edwin: Ich persönlich vermute, dass Menschen, die in einer Planwirtschaft sozialisiert sind und nur das unselbständige Arbeiten kennen, den Mut nicht haben, selbstständig zu sein.

Ira: Ich glaube, in vielen russlanddeutschen Familien spielt der Faktor Sicherheit eine wichtige Rolle. Als ich mich damals selbstständig gemacht habe – ich hatte einen unbefristeten Vertrag in einem guten Unternehmen, also eine sichere Position – konnten meine Eltern und mein Umfeld es nicht fassen. Vielleicht gehört da auch ein bisschen Mut dazu und vielleicht sind wir Russlanddeutschen ein bisschen sicherheitsbedachter als andere.

Edwin: Was ich auch noch beobachte ist eine Furcht vor Ämtern. Sie möchten die Berührung mit Staat und Ämtern möglichst verringern.

Ira: Ich habe in einem Interview gelesen, dass du dich zwischendurch mit einer Art Saunaunternehmen selbständig gemacht hast. Hat das irgendwas mit deiner Herkunft aus Kasachstan zu tun?

Waldemar Zeiler: Nein, aber ich mochte Saunen schon vorher. Das habe ich von meinem Vater. Er hat mich schon sehr früh in Saunen mitgenommen. Deswegen war ich auf jeden Fall offen fürs Sauna-Business.

Ira: Du bezeichnest dich selbst auch als Serienscheiterer. Das war nicht die einzige Business-Idee, die nicht auf Erfolg gestoßen ist. Was ist noch alles passiert, bis dann dein aktuelles Unternehmen kam?

Waldemar Zeiler: Da ist alles dabei: von virtuellem Goldhandel für World of Warcraft bis hin zu UMTS-Stick-Verleih. Also, ganz viele Sachen, viel gelernt und ja, viel Geld verbraten.

Ira: Bei deiner Firma, die du aktuell zusammen mit einem Partner mit Erfolg betreibst und auch gegründet hast, geht es um Produkte für Untenrum. So beschreibt ihr das. Ist es deinen Eltern peinlich, dass du mit Sex und Menstruation dein Geld verdienst?

Waldemar Zeiler: Meine Eltern haben mit mir schon alles Mögliche erlebt und waren neue ideen gewohnt. Aber als sie angerufen haben und fragten: Was machst denn du nach deiner Weltreise, deinem Auszeitjahr? – das ich vor Einhorn hatte – habe ich gesagt: Ich mache Kondome. Dann hat meine Mutter total gelacht, weil sie gedacht hat, dass ich sie veräpple. Das war ihr, auch den russlanddeutschen Verwandten, tatsächlich peinlich. Die sind ja total konservativ, zumindest die, die ich kannte. Über Sex und so weiter wird nicht gesprochen. Es war ihnen nicht mehr peinlich, als sie gemerkt haben, dass es auch um andere Themen geht und dass die Firma erfolgreich ist. Da war meine Mutter natürlich auch mächtig stolz.

Meinen Eltern habe ich sehr viel zu verdanken, weil sie nicht sehr viel falsch gemacht haben. Meine Eltern haben mir immer sehr viel Mut zugesprochen und mich bei den Sachen, die ich mache, ermuntert.

Ira: Ja, nicht nur deine Eltern haben scheinbar so einiges richtig gemacht, auch du. Dein aktuelles Unternehmen „einhorn products“ mit Sitz in Berlin ist sehr erfolgreich und auch sehr besonders. Was ist denn euer Konzept?

Waldemar Zeiler: Bei meinem letzten Start-Up vor Einhorn habe ich eine massive Sinnkrise gehabt. Es läuft so viel schief auf der Welt und die Wirtschaft spielt dabei eine zentrale Rolle. Zum Beispiel war für mich einer der Aha-Effekte, als das Fabrikgebäude in Rana Plaza eingestürzt ist. Da sind über 1000 Menschen gestorben und auf dem Boden lagen überall Klamotten mit Labels, die wir alle wahrscheinlich immer noch in unseren Schränken haben. Mir war bewusst, wie es dazu gekommen war: Weil die Wirtschaft sehr oft versucht Kosten zu sparen, outzusourcen, so viel wie möglich Profite für die Aktionäre zu erwirtschaften. Das führt eben dazu, dass wir – jetzt mal ganz kurz gesagt – unseren Planeten abfucken. Ich habe mich gefragt: Geht das auch anders? Dann haben wir eben dieses Unternehmenstestlabor einhorn gegründet und haben gesagt: Wir werfen alle bescheuerten Annahmen, die wir immer beim Business schlecht fanden, über Bord und versuchen es  ganz anders. Und schauen, ob die Wirtschaft überhaupt für Mensch und Natur irgendwie positiv sein kann. Witzigerweise war eben dieses Unternehmen das erfolgreichste bis dahin. Ich sage noch nicht, dass es der proof of concept ist, das wäre zu weit gegriffen, dafür sind wir natürlich noch zu klein. Aber es hat mir auf jeden Fall gezeigt, dass es ganz anders geht.

Edwin: Darum geht es ja auch in deinem Buch Unfuck the economy“  zum größten Teil. Was war dir so wichtig in diesem Buch zu formulieren und der Welt mitzuteilen?

Waldemar Zeiler: Ich habe es nicht alleine geschrieben, sondern das wäre ohne meine wunderbare Co-Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru nicht entstanden. Für mich war es wichtig aufzuzeigen, was die Wirtschaft konkret mit den globalen Herausforderungen, die wir haben, zu tun hat. Zum einen ist das die Klima- und die Biodiversitätskrise, als eine der größten Krisen, die wir haben: Das ist doch fast ausschließlich wirtschaftsgemacht. Dann das Thema Ungleichheit, soziale Gerechtigkeit, Diskriminierung. Warum ist der Planet so abgefuckt? Warum ist das so und was hat die Wirtschaft damit zu tun? Und dann natürlich die Demokratie. So geht’s nicht weiter und wir müssten die Wirtschaft neu denken. Wie genau weiß keiner, aber hier sind ein paar mögliche Lösungswege und die habe ich dann skizziert. Die Antwort darauf habe ich auch nicht, die gibt es nämlich nicht. Die Utopie müssen wir alle gemeinsam entwickeln, aber wir sollten uns alle auf den Weg machen.

Ira: Und einen ersten Versuch habt ihr letztes Jahr ja auch schon gewagt in Richtung Demokratie mit einem Festival. Was hat das damit auf sich?

Waldemar Zeiler: Obwohl wir als Firma nicht politisch sein wollten, haben wir uns zunehmend politisiert. Immer mehr als die Geflüchtetenkrise kam. Wir haben uns dann engagiert. Und so kam das nach und nach und irgendwann haben wir gesagt: Gibt es denn nicht Lösungen da draußen? Es gibt Lösungen! Es gibt tolle Wissenschaftler:Innen, tolle Expert:Innen. Es gibt Menschen, die sich Utopien überlegen, die überlegen, wie die Welt besser sein könnte, aber sie werden nicht gehört. Sie haben keine Bühne, keinen Raum. Und dann haben wir gesagt: Wir müssten diesen Raum schaffen. Wie wär‘s, wenn wir einfach den größten Raum Berlins mieten und dann sagen: Wir holen diese Wissenschaftler:Innen und wir feiern sie wie Rockstarts. Sie erzählen ihre Lösungen und das wird total gefeiert in einem ausverkauften Olympiastadion. Da werden die Leute zuhören, drüber berichten und wir geben allen diesen 70.000 Menschen ein Wirksamkeitsgefühl.

Der Hack: Wir erzählen nicht nur von diesen Lösungen, sondern wir gießen diese Lösungen sofort in Petitionen. Eine Petition an den Bundestag braucht 50.000 Stimmen, um vor dem Bundestag angehört zu werden. Wenn wir da 70.000 sitzen und dann hören wir diese Lösungen, dann geben wir sie da ein und dann stimmen alle mit unseren Handys automatisch ab und jazzen sozusagen jede Petition, die wir wollen sofort in den Bundestag. Daraus haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gemacht. 1,8 Millionen für das Olympiastadion hatten wir dann zusammen.

Ira: Ihr habt viel Energie reingesteckt in dieses Demokratiefestival und es konnte am Ende gar nicht stattfinden. Wie ist der aktuelle Stand?

Waldemar Zeiler: Ein Stadion mit 70.000 Leuten ist jetzt während Corona nicht die beste Lösung. Deswegen überlegen wir uns eine Alternative dafür. Gerade jetzt im Superwahljahr. Wir haben klasse Organisationen kennengelernt. Wir haben zwar die gesamten zwei Millionen zurückgezahlt, davon haben aber 500.000 von den Tickethalter:Innen an tolle Organisationen gespendet. Immerhin ist aus einem Viertel der Kohle noch was Gutes zustande gekommen. Zwei der Petitionen sind tatsächlich in den Bundestag gekommen. Kürzlich war die erste Anhörung für den Klimabürger:Innenrat. Man kann sich seit dem 4. Februar die ganze Misere auch im Fernsehen anschauen. Persönlich war es die größte Wachstumskurve, die ich in den letzten Jahren hatte, auch wenn ich mir gerne viele persönliche Angriffe erspart hätte.

Edwin: Vor vier Jahren, vor den letzten Bundestagswahlen, entstand in der Öffentlichkeit ein Bild von den Russlanddeutschen – eigentlich kann man nicht von den Russlanddeutschen sprechen – die zu rechts- oder linkspopulistischen Parolen neigen, bzw. zum Teil als Steigbügelhalter für die AfD verschrien wurden oder als fünfte Kolonne Putins beschrieben wurden. Hast du damals diese Berichterstattung mitgekriegt und wenn ja, fühltest du dich da angesprochen und motiviert in deinem Einsatz für die Demokratie?

Waldemar Zeiler: Ja, ich habe das mitbekommen und war ganz überrascht, weil wir uns da in der Geflüchtetenkrise auch engagiert hatten, auch als company und ich persönlich. Wie kann das sein? Wie können Leute, die Diskriminierungserfahrung gemacht haben, so etwas sagen? Mich hat meine Vergangenheit, mein Erlebnis in Deutschland auch in einer Turnhalle anzukommen, eingeholt. Ich konnte voll mit den Geflüchteten mitfühlen, wollte aktiv werden und helfen. Deswegen war für mich das total unlogisch, warum man als Russlanddeutsche so reagiert.

Ira: Du sprichst sehr offen darüber, dass du selbst eine Psychotherapie gemacht hast und du sagst auch, jeder sollte eine machen. Wie war das denn bei dir? Hat deine russlanddeutsche Herkunft eine Rolle gespielt bei deiner Psychotherapie?

Waldemar Zeiler: Bisher noch nicht. Aber ich meine, das kann ja daran liegen, dass ich das immer noch unter den Teppich kehre und mich nicht mit meiner Vergangenheit beschäftigen will. Ich habe ja erst durch euch angefangen, da tatsächlich zu graben.

Ich glaube, ich bin generell wie alle Deutschen. Das ist ein krasses Tabuthema, obwohl die Hälfte wahrscheinlich von uns zur Psychotherapie geht. Aber es ist tabu, drüber zu sprechen. Bei allen holen wir uns Coaches – also ich meine aus Unternehmersicht – aber da holst du dir keinen, der dir mal die Gedanken sortiert. Seitdem bin ich da und wir versuchen immer das, was wir erleben, auch der ganzen Firma offenzulegen. Wir haben Obst in der Firma, wir haben Yoga-Stunden und wir haben jetzt auch Psychotherapie für alle, die möchten.

Ira: Durch welche Taten möchtest du eines Tages Vorbild für deinen Sohn sein?

Waldemar Zeiler: Ich will auf jeden Fall, dass wenn er zurückblickt sagt: Papa, damals 2020 - Pandemie und Klimakrise - was hast du denn da eigentlich gemacht? Da will ich ihm erzählen können, dass ich mich zumindest eingesetzt habe. Ich habe vielleicht nichts erreicht, ich habe ein Riesenstadion gemietet und es ist niemand hingekommen, aber ich habe es versucht. Und versuchen ist wichtig. Man muss einfach versuchen, egal wie viel Macht man hat.

Edwin: Würden deine Eltern die Aussiedlung nach Deutschland als einen Gewinn oder Scheitern bezeichnen?

Waldemar Zeiler: Voll Gewinn. Ich bewundere ihre Selbstaufgabe. Dieses „alles für die Kinder“. Das habe ich nie wieder irgendwo so kennengelernt. Meine Eltern haben gesagt: Wir sind hier angekommen und es war uns total klar, alles was wir hier machen, ist für euch. Das habe ich ihnen teilweise auch vorgeworfen, dass ich gesagt habe: Wieso habt ihr euch aufgegeben? Ihr hattet Karrieren in Russland, in Kasachstan. Warum habt ihr hier nicht weitergekämpft? Was ja auch megaüberheblich ist von mir. Sie hatten genug zu tun mit der Integration. Ich glaube, für sie war das ein Erfolg, dass beide Kinder einen sicheren Job haben, also fast sicher. Meine ältere Schwester ist verbeamtet, die ist noch sicherer. Aber um mich haben sie sich auch nie Sorgen machen müssen.

Ira: Eingangs sagtest du, du hast leider keine Erinnerung an die Steppe, sondern nur an diesen Wohnblock, in dem du aufgewachsen bist. Hast du vor, mal nach Kasachstan zu fahren?

Waldemar Zeiler: Ich habe tatsächlich mit meinen Cousin Alex, mit dem ich die erste Firma gegründet hatte, eine Bucket-List. Wir haben gesagt, wir wollten gerne mal die Reise meiner Oma von diesem Arbeitslager im Wald bis hin nach Aqtas machen. Das haben die zu Fuß gemacht, teilweise mit dem Pferd und Eisenbahn. Das ging wochenlang. Wir haben gesagt: Irgendwann machen wir das und laufen diese Strecke ab. Natürlich ganz anders als meine Oma. Natürlich mit super Outdoor-Ausrüstung und wahrscheinlich einem Guide und allem Drum und Dran. Witzigerweise nach Schachtinsk zieht es mich nicht. Damit verbinde ich nichts Nostalgisches. Zeitweise sah es so aus, dass ich beruflich in Moskau lande. Das hätte ich mir durchaus vorstellen könne, aber nicht nach Kasachstan. Wir haben ja nichts von der kasachischen Kultur kennengelernt. Dafür hat auch die Sowjetunion gesorgt. Die Kasachen waren wahrscheinlich genauso unterdrückt wie wir Deutschen. Von Kasachstan kenne ich nur meine Platte. Wie ist denn bei euch?

Ira: Ich habe meinen Eltern kürzlich einen Bildband von Kasachstan geschenkt. Wir haben ihn gemeinsam angeguckt und waren völlig hin und weg, wie schön dieses Land ist. Meine Eltern hatten natürlich auch nicht die Möglichkeit gehabt, dort zu reisen. Wir saßen im Norden fest, der ist nicht so attraktiv wie der Süden mit seinen Bergen.

Edwin: Ich finde die Idee mit dieser Reise richtig klasse. Ich hoffe, ihr dokumentiert sie auch ordentlich, wenn ihr sie macht. Weil ich finde, diese Perspektiven fehlen unserer Gesellschaft. Spontan noch eine Frage zur Selbstwahrnehmung: Deinen Zivildienst hast du in den USA gemacht. Wenn dich Menschen gefragt haben, wo du herkommst, was hast du gesagt?

Waldemar Zeiler: Ich habe mich bis zum Abitur mega geschämt, dass ich aus Russland komme und habe versucht das zu verheimlichen. Und tatsächlich war für mich dieses Ankommen in den USA und gefragt zu bekommen: Where are you from? Und dann zu sagen, ja, eigentlich in der Sowjetunion geboren und jetzt in Deutschland. Und die so: Boah, wie geil ist das denn?! Was? Du kannst auch Russisch, wow! Zum ersten Mal reagierte jemand nicht komisch darauf, wenn ich meine Geschichte erzähle. Dann wirst du natürlich mutiger und selbstbewusster. Das war dann total wichtig für mich, dieses Erlebnis zu haben. Wäre ich in Deutschland geblieben, hätte ich das wahrscheinlich noch viel mehr verdrängt und vielleicht nie so den Stolz rausgeholt.

Edwin: Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei deinen Vorhaben und viel Erfolg beim positiven Scheitern.

Waldemar Zeiler: Dankeschön und danke euch, für das, was ihr macht. Das ist so, so wichtig, das aufzugreifen, sich die Mühe zu machen und das zu erzählen. Ohne euch wäre ich nicht auf diesen Trichter gekommen. Vielen Dank dafür!

*Quelle: „(Spät-)Aussiedler aus den postsowjetischen Staaten – Ankunft und Integration in Deutschland“ von Jannis Panagiotidis (Stand: 26.02.2021)