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Bolat Atabajew – Über Kasachstan, das deutsche Theater und Kindheitserinnerungen

In der achten Folge des Steppenkinderpodcasts sprechen Ira Peter und Edwin Warkentin mit Bolat Atabajew. Der 1952 im Süden Kasachstans geborene Theaterregisseur gilt als der deutscheste Kasache in Kasachstan. Er studierte unter anderem in Leipzig Germanistik, war lange Zeit künstlerischer Leiter des "Deutschen Theaters in der Sowjetrepublik Kasachstan. Vor neun Jahren hat er aus politischen Gründen Kasachstan verlassen und kehrte im März 2021 zurück. Das Gespräch führte Edwin mit Bolat in München. Zum besseren Verständnis haben Ira und Edwin nachträglich Erklärungen eingebaut.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Edwin: Was müssen wir über die kasachische Kultur wissen?

Bolat Atabajew: Die kasachische Kultur war ein Zusammenschmelzen der sowjetischen, russischen und anderer Kulturen. Man wollte einen neuen Sowjetmenschen erziehen. Und wir waren beinahe sowjetische Menschen. Aber die traditionelle kasachischste Erziehung zu Hause hat das verhindert. Obwohl ich als kleines Kind mit meinen deutschen Nachbarn zusammenwohnte, bei Wees Marie mit deutschen Kindern zusammen Deutsch aufgewachsen bin. Für meine Kollegen, Schauspieler des deutschen Theaters, war ich immer ein Kasache. Mein Glück ist, dass ich überall, wo ich gearbeitet habe, ich so geblieben bin, wie ich war. Ich konnte toben, ich konnte Unzufriedenheit äußern.

Edwin: Du bist in einer besonderen Siedlung großgeworden, die heißt Baqanas. Es haben Menschen aus verschiedenen Kulturen in dieser Siedlung gelebt. Wann ist dir zum ersten Mal bewusst geworden, dass in deinem Dorf auch Deutsche leben und wie hast du das wahrgenommen?

Bolat Atabajew: Ich habe mit den deutschen Kindern gespielt und Wees Marie hat Deutsch gesprochen. Ich kann das nicht erklären, wann ich das zu begreifen begonnen habe. Als kleines Kind schon. Sie hat Deutsch gesprochen, wir haben reagiert. Wie Kinder eben zusammenspielen. Sie fragen nicht.

Edwin: Was habt ihr denn gespielt als Kinder?

Bolat Atabajew: Krieg haben wir gespielt. Peter war ein Russe, er war Partisan, ich Rotarmist und Otto, der Deutsche, war immer der Faschist. Einmal wollte Otto den Rotarmisten spielen. Ich habe gesagt: Was?! Du bist „nemec“ (Deutscher). Du wirst das ganze Leben lang Faschist sein. Ich erinnere mich an seine Tränen. Er wollte auch patriotisch sein. Wir haben viele Filme über den Krieg gesehen. Auf der Leinwand sind Faschisten und neben dir sitzen auch Deutsche, normale Menschen. Das konnte ich nicht begreifen. Wir haben zum Beispiel Otto in die Scheune gesteckt und verprügelt. Die Eltern haben das zwar gesehen. Die konnten doch sagen: Hört auf! Keiner hat was gesagt.

Edwin: Haben dir deine Eltern erzählt, wie die Deutschen dahingeraten sind?

Bolat Atabajew: Nein, ich wusste es nicht. Später am Deutschen Theater habe ich vieles erfahren.

Ira: Und hier kommt der erste Einschub von Edwin und mir. Edwin, was hat es mit der Siedlung Baqanas auf sich? Wo liegt das und warum haben dort Menschen aus verschiedenen Kulturen gelebt?

Edwin: Es ist eine relativ kleine Siedlung im Südosten Kasachstans im Gebiet Alma-Ata. In der Nähe des großen Sees Balchasch. Das Gebiet darum ist wüstenartig. Gegründet wurde sie 1932. Unser Gast erzählt von einem Dorf, das von verschiedenen Minderheiten bewohnt war und zufällig kommt die Familie eines sehr guten Freundes von mir auch aus dieser Siedlung. Er hatte mir erzählt, wie es dazu gekommen ist, das große Anteile deutschsprachiger Bevölkerung da in dieser Siedlung gelandet sind. Und zwar sind Teile seiner Familie 1941 im Zuge der Deportation der Russlanddeutschen in diese Gegend gekommen und lebten dort für die nächsten knapp 15 Jahre als Sondersiedler. Das heißt, sie standen unter Aufsicht der Behörden, durften nicht ausreisen oder zurück in ihre Heimat gehen. Neben den Deutschen, die dort gelebt haben, gab es natürlich auch die einheimische, kasachische Bevölkerung. Und nachdem die Sonderaufsicht über die Russlanddeutschen aufgehoben wurde, haben die Familien andere Familienmitglieder nachziehen lassen. So entstand ein relativ großer Anteil an deutscher Bevölkerung. In dieser Siedlung gibt es viel Landwirtschaft, die sich interessanterweise auf Reiszucht spezialisiert haben. Das ist ungewöhnlich für Kasachstan, weil die Region wasserarm ist und Reis eher in südlichen Regionen wächst. Das liegt an einer anderen dorthin deportierten Gruppe; die der Russlandkoreaner. Diese waren bereits 1937 nach Zentralasien aus dem russischen Fernen Osten deportiert worden. Später wurden in die kasachischen Steppen auch andere Minderheiten deportiert wie Tschetschenen, Krimtartaren oder türkische Meschetiner, die aus Georgien stammten. Ira, deine Großeltern wurden bereits 1936 aus der Westukraine nach Nordkasachstan deportiert. Wie haben sie oder deine Eltern von dem Ankommen in der Steppe berichtet?

Ira: Sie kamen im Herbst 1936 in der nordkasachischen Steppe an und waren davor einen Monat mit einem Viehwagon unterwegs. Sie wurden zum Punkt 28 gebracht. Es war eine Siedlung, die gar keinen richtigen Namen trug. Es handelte sich um eine Zwangsarbeitersiedlung, die von der GULag-Verwaltung geführt wurde. Und in diesem Außenlager lebten seit 1933 bereits Deportierte aus dem Gebiet östlich des Baikalsees. Hier warteten also immerhin schon halbfertige Lehmhäuser auf meine Großeltern und es war glücklicherweise ein milder Herbst. Meine Großaltern schafften es noch, Dächer zu bauen und Ställe für das Vieh. Der erste Winter soll besonders kalt gewesen sein. Die Deportierten hatten kaum etwas zu essen und zu heizen. Und im Januar 1937 kam ein Onkel von mir zur Welt und in seinen Memoiren schreibt er: „Meine Mutter soll nach der Geburt gesagt haben: ‚Wärst du doch lieber gestorben als in diese Hölle geboren zu werden.‘“ Es herrschten minus 35 Grad und sein Vater riss einige der Holzbalken der Baracke ab, damit sie wenigstens seine Windeln über dem Feuer trocknen konnten.

Edwin: Weißt du etwas über das Zusammenleben deiner Großeltern mit den kasachischen Nachbarn? Was wussten sie denn von der Kultur und Geschichte der anderen?

Ira: Ich vermute, sie wussten gar nichts. In der GULag-Siedlung selbst, in die meine Großeltern gerieten, lebten keine Kasachen. Aber ganz in der Nähe war ein Aul, also eine kasachische Siedlung und meine Mutter hat erzählt, dass Kasachen dann auch regelmäßig zu ihrem Vater kamen. Er war Schreiner und sie haben Möbelstücke bei ihm bestellt. Für sie als Kind war der Anblick der Kasachen immer sehr exotisch, weil sie traditionelle Kleidung und so besondere Mützen trugen.

Insgesamt war es ein friedliches Miteinander, auch später bis zu unserer Ausreise Anfang der 1990er.

Die Kasachen waren ja unter Stalin ähnlich unterdrückt wie auch die deportierten Russlanddeutschen und alle anderen Deportierten, die nach Kasachstan geraten waren. Bolat spricht immer von Wees Marie. Was bedeutet diese Anrede?

Edwin: Es deutet darauf hin, dass es eine wolgadeutsche Frau war. „Wees“ ist eine Anrede unter Wolgadeutschen gewesen für ältere Damen. Es kommt aus dem Süddeutschen und bedeutet sowas wie Base, was später abgewandelt worden ist zu dem Wort „Wees“. Base heißt ja Cousine. Und er spricht auch an einer anderen Stelle von „Vedder Heinrich“, das ist die Anrede für einen älteren Mann. In meiner Familie wurden ältere Familienmitglieder auch mit „Vedder“ oder „Wees“ angesprochen. Was ganz interessant ist: Die Wolgadeutschen hatten für die einzelnen Minderheiten auch ihre eigenen Namen. Bei ihnen hießen Kasachen „Traddr“. Das kam von deren Eindruck von dem Klang der kasachischen Sprache. Das klang für sie alles nach „tradaradaradara“.

Ira: Bolat sagt, er hat erst durch das Deutsche Theater von der Geschichte der Russlanddeutschen erfahren. Und Olga Martens, die wir kürzlich zu den Wolgadeutschen interviewt haben, hat das auch so erlebt. Obwohl sie selbst Russlanddeutsche ist, wurde in ihrer Familie über den Deportationshintergrund geschwiegen. Wie kommt es, dass Olga und Bolat über das Theater von der Deportationsgeschichte erfuhren?

Edwin: Tatsächlich war dieses Theater der Kristallisationspunkt für die kulturelle Wiederbelebung der Russlanddeutschen. Bis in die 1970er, 1980er Jahre gab es kaum institutionell geförderte Einrichtungen, die sich mit diesen Themen beschäftigt haben. Bis auf drei Zeitungsredaktionen: Neues Leben in Moskau, Freundschaft in Alma Ata und die Rote Fahne in Slawgorod. Das Theater war ganz nach sowjetischen Vorstellungen als ein Theater gedacht gewesen, dass die Internationalität des sowjetischen Vielvölkerstaates repräsentiert. Allerdings fingen die jungen Schauspieler, Dramaturgen und Regisseure, unter anderem auch Bolat Atabajew oder Rose Steinmark an, sich Gedanken darüber zu machen, dass Russlanddeutsche nicht für Schiller und Goethe stehen, sondern ihre eigene Geschichte haben, die aber tabuisiert wurde. Ab der Zeit der Perestroika haben die sich getraut, lauter darüber zu sprechen und so sind dann solche Stücke entstanden, wie „Auf den Wogen der Jahrhunderte“, „Menschen und Schicksale.“ Es war eine Trilogie von dem russlanddeutschen Autor Viktor Heinz. Bolat Atabajew erzählt auch, dass er zusammen mit ihm sich getraut hatte, diesen Stoff auf die Bühne zu bringen. Das war damals ein riesiger Skandal, weil sie Sachen angesprochen haben, die bis dahin nicht aussprechbar waren. Alleine der Umstand, dass auf der Bühne in deutscher Sprache gesprochen wurde, hat emotionale Ausbrüche bei den Zuschauern verursacht. Die Menschen saßen in Tränen da, nur weil sie ihre Muttersprache von der Bühne in einem offiziell genehmigten Raum hören konnten. Dieses Theater besteht nominell heute immer noch, aber die letzten Schauspieler der alten Generation sind 1994 ausgesiedelt.

Ira: Du sagst, die Schauspieler haben auf Deutsch gespielt. Wurde das dann übersetzt?

Edwin: Tatsächlich war die kulturelle und sprachliche Desintegration dieser Minderheit bis dahin sehr weit fortgeschritten, so dass die jüngere Generation kaum noch Hochdeutsch verstanden hat und so hatte man dann für diese Zuschauer eine mobile Dolmetschanlage ins Russische dabei gehabt. Das Theater war ein Tourneetheater. Die waren fast mehr unterwegs, als dass sie zu Hause waren, um ihr Publikum auch in den entferntesten Dörfern nicht nur Kasachstans, sondern auch Sibiriens, Usbekistans oder auch im Baltikum, zu erreichen. Dass die Vorstellungen gedolmetscht werden mussten, hat natürlich zu vielen Fragen geführt, aber das beschreibt den Zustand der Minderheit in dieser Zeit. Im Übrigen bin ich gerade dabei zu diesem Thema auch ein Webdokuprojekt umzusetzen, zusammen mit dem Regisseur Alexej Getmann.

Edwin: Du hast vorhin gesagt. Du hast dich erst an dem Deutschen Theater mit der Geschichte der Russlanddeutschen auseinandergesetzt. Mitte der 80er Jahre warst du ja sogar eine Schlüsselfigur bei der Emanzipationsbewegung der Deutschen in der Sowjetunion. Wie ist denn überhaupt ein ethnischer Kasache in diesen russlanddeutschen Strudel geraten?

Bolat Atabajew: Ich hatte viel mit Gerold Karlovich Belger, dem Schriftsteller, gesprochen. Er war ein Deutscher, der auf Kasachisch schrieb. Seine Sprache ist so reich und hat die Kasachen begeistert. Er konnte das sagen, was die Kasachen nicht sagen durften. Und so habe ich gesagt: Wenn das Belger macht, warum mache ich es nicht? Ich habe es also auf Deutsch gemacht. Ich sprach über die Probleme der Russlanddeutschen. Die Kasachen wunderten sich: Was hast du mit den Deutschen zu tun? Ich sagte: Ich arbeite am Deutschen Theater. Ich habe keine Zuschauer. Wozu braucht ihr denn das Deutsche Theater? Es gibt keine Zuschauer. Wenn das ein Deutscher gesagt hätte. Stell dir mal vor! Wir haben in Zelinograd gespielt und dort Flugblätter im dunklen Zuschauerraum verteilt. Am nächsten Morgen wurde ich bestellt zur Sekretärin des Gebietsparteikomitees: „Atabajew, Sie haben gestern Blätter verteilt?“ Ich habe gesagt: „Nein, das habe ich nicht gemacht. Keiner hat das gemacht.“ Das Skandalöse an diesen Flugblättern war, dass sie ein Aufruf zur Wiederherstellung der Wolgaautonomie waren. Das war das große Problem. Ich bereue nichts. Ich arbeite am Deutschen Theater, habe ich mir damals gedacht, ohne deutsche Zuschauer habe ich keine Zukunft, keinen Job. Man versteht meine Schauspieler nur durch Kopfhörer. Das kann doch nicht lange dauern. Das war eine so absurde Situation mit dem Deutschen Theater. Es gibt immer noch ein Deutsches Theater in Kasachstan. Kein einziger Deutscher ist dort auf der Bühne.

Ira: In dem Block, den wir eben gehört haben, spricht Bolat die Autonomiebewegung in Kasachstan an. Was hat es damit auf sich?

Edwin: Die Autonomiebewegung gab es unter den Russlanddeutschen nicht nur in Kasachstan, sondern überall dort, wo es Russlanddeutsche gab, die sich trauten laut ihre Rechte anzusprechen. Und zu dieser Wiederherstellung gehörte für manche auch die Wiederherstellung der wolgadeutschen Autonomie, die es zwischen 1918 bis 1941 um die Stadt Saratow herum gab. Alle Völker, die nach Zentralasien oder Sibirien verschleppt worden waren, konnten irgendwann mal wieder in ihre Heimat zurückwandern und zum Teil auch ihre Autonomien wieder zurückbekommen. Das gab es bei den Russlanddeutschen nicht. Neben der Autonomiebewegung gab es auch Bewegungen hin zur freien Ausreise nach Deutschland oder auch einer kulturellen Autonomie an den Orten, wo die Russlanddeutschen mittlerweile lebten. Das Theater hat sich sehr für die Wiederherstellung der Autonomie an der Wolga eingesetzt.

Ira: Und was hat es mit den Flugblättern auf sich?

Edwin: Das waren die ersten Äußerungen des zivilen Widerstandes. Es gab seit den 1960er Jahren Abordnungen von Russlanddeutschen, die nach Moskau gereist sind, um da Petitionen einzureichen. Das Theater war ein großer Multiplikator dieser Idee, hatte die Funktion in den späten 1980er Jahren übernommen. Überall da, wo das Theater gastiert hatte, wurden Unterschriften gesammelt. Von sowjetischen Bürgern deutscher Herkunft, die die Wiederherstellung ihrer früheren Autonomie und ihrer Rechte einforderten. Die Menschen haben sich zum ersten Mal getraut, mit ihrem vollen Namen, Adresse und Telefonnummer zu unterschreiben. Was für einen großen Mut sprach, weil es nicht so einfach war, wie wir auch den Erzählungen Bolats entnehmen können.

Ira: Im Interview sprecht ihr als Nächstes über sein politisches Engagement im Jahr 2011. Hier geht es nicht um die Deutschen in Kasachstan, sondern um Arbeiter eines staatlichen Ölunternehmens im Westen des Landes. Sie streikten 2011 zunächst für bessere Arbeitsbedingungen und später gegen ihre Entlassungen. Im Dezember 2011 eskalierte die Lage. Offiziell starben bei Zusammenstößen in der Stadt Schangaösen 14 Demonstranten und daraufhin kam es zu Aufständen auch in anderen Städten Kasachstans. Bolat hatte für die streikenden Ölarbeiter öffentlich Partei ergriffen und wurde verhaftet. Mit Hilfe deutscher Fürsprecher aus Politik und Kultur konnte er 2012 nach Deutschland ausreisen. Es gab sogar Sitzstreiks für ihn und seine Freilassung in Berlin, London und New York.

Edwin: Hat dein späteres politisches Engagement in den 2000er mit deinem Einsatz für die russlanddeutschen Fragen in den 1980er Jahren zu tun?

Bolat Atabajew: Insofern, als dass es um den Kampf für die Gerechtigkeit ging. Gerechtigkeit darf nicht situativ sein. Entweder musst du gerecht nach deinem Gewissen sein – in jeder Situation – oder du musst schweigen.

Edwin: Spätestens seit der Sowjetzeit war Kasachstan zu einem zentralen Verbannungsort geworden. Dabei bedeutet Kasachstan wörtlich übersetzt: Das Land der freien Menschen.

Bolat Atabajew: Ja, wir sind frei wie Wind. Aber das ist ganz natürlich: Jeder Mensch ist frei. Jeder Vogel ist frei. Aber woher kommt dann diese Unfreiheit, wenn wir alle frei sind? Je mehr man über die Freiheit spricht, desto stärker wird die Denkweise sklavisch. Das ist typisch sowjetisch, wenn Sklaven über die Freiheit nachdenken.

Edwin: Also, was macht man denn aus diesem GULag-Erbe heute in Kasachstan?

Bolat Atabajew: Das geht uns alle etwas an. Wir sind immer noch unfrei. Wir sind immer noch im GULag. Hier im Kopf. Man will die Finger reformieren, die Hände reformieren. Den Kopf aber muss man reformieren. Das ist ein ewiges Problem. Wir kommen nicht aus unserem Gefängnis raus.

Edwin: Bevor die ganzen Völker nach Kasachstan deportiert worden waren, hatten die Kasachen selbst ein Volkstrauma erlebt: 1930 im Zuge der Kollektivierung. Was war passiert?

Bolat Atabajew: Die größte Hungersnot. Millionen sind gestorben. Das war alles künstlich organisiert. Das Elend des Landes zieht sich bis heute. Immer werden Feinde gesucht: „Uiguren sind schuld“, „Russen sind schuld“. Kluge Jugendliche müssen verstehen, dass das jemand missbraucht.

Edwin: So wie ich das verstehe, ist diese Internationalität in Kasachstan von außen in der sowjetischen Zeit aufgesetzt worden. Das ist ein Erbe, mit dem Kasachstan heute umgehen muss.

Bolat Atabajew: Das ist ein explosives Fass.

Edwin: Wie hast du die Zeit Anfang der 1990er Jahre erlebt, als die Deutschen ausgesiedelt sind? Und wie hat es die kasachische Gesellschaft damals wahrgenommen?

Bolat Atabajew: Das war der kasachischen Gesellschaft einerlei. Konkurrenzen waren weg. Es war eine schwere Zeit: Not, kein Geld. Die Deutschen, die auswanderten, wurden ausgenutzt. Organisierte Banditen haben es so weit gebracht, dass die letzte Reise aus Kasachstan in Elend, in Trauer verlaufen ist. Die jüngere Generation darf sowas nicht vergessen.

Ira: Bolat erzählt, dass Deutsche, die ab Ende der 1980er Jahre aus Kasachstan nach Deutschland ausgereist sind, ausgenutzt wurden. Meine Eltern haben diese Erfahrung nicht so direkt gemacht, aber Tatsache ist, dass als sie 1992 ausreisten eine starke Inflation herrschte. Auf diese Weise haben sie für ihr Haus mit Garage und Bauernhof nur 10.000 Rubel bekommen, das entsprach damals zehn Litern Vodka. War quasi nichts wert. Unter welchen Umständen seid ihr denn ausgereist?

Edwin: Ich glaube, jeder hat eine negative Ausreiseerfahrung gesammelt. Bei uns war das so, dass wir eine Bibel bei der Ausreise dabei hatten, die seit mehreren Generationen in der Familie meines Großvaters war. Es ist eine Bilderbibel und ich vermute, sie wurde zur Hochzeit von meinem Ururgroßvater geschenkt. Jeder, der nach Deutschland ausgereist ist und solche Sachen mitnehmen wollte, musste sich eine offizielle Genehmigung an dem zuständigen Museum holen. Wir hatten nicht genügend Begleitpapiere dafür bekommen und so sagte dann der Grenzer, dass er sie nicht durchlässt. Das war ein Schock. Ich kann mich noch ganz genau an diesen 50-D-Mark-Schein erinnern, der in die Hände dieses Grenzers wanderten und dann hat man uns nicht mehr belästigt. Das waren eben die Zeiten damals.

Ira: Rund um unsere Ausreise gibt es auch verschiedene Geschichten, die auch teils absurd sind. Wir mussten drei Tage in Moskau verbringen, bevor wir weiter nach Frankfurt fliegen konnten. Wir kamen mitten in der Nacht in einem Hotel an. Damit wir ein Zimmer bekommen, musste meine Mutter die Rezeptionistin mit „kotlety“, also Fleischbällchen, bestechen.

Edwin: Das erklärt auch die Aussage von Bolat, dass es die Menschen in Kasachstan wenig interessiert hatte, dass die Russlanddeutschen aussiedelten. Die waren alle mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt.

Ira: Genau, die hatten ja selbst genug zu tun, weil auch zeitgleich, viele ethnische Kasachen nach Kasachstan zurückkehrten aus beispielsweise den Grenzgebieten in China, aus Afghanistan oder dem russischen Altai-Gebietin. Für die hiesigen Kasachen waren das fremde Menschen, obwohl es ja auch Kasachen waren. Und so ähnlich stell ich mir das vor, als wir nach Deutschland gekommen sind. Wir hielten uns für Deutsche, wurden aber teils als sonderbare Menschen, die Russisch sprechen, betrachtet.

Edwin: Ja. Absolut. Und was man dazu sagen muss, dass diese Geschichte mit den zurückkehrenden Kasachen zum Teil Aufarbeitung des totalitären Erbes war, weil diese Kasachen, die damals weggegangen sind, Menschen waren, die vor der Zwangskollektivierung geflohen waren.

Bolat Atabajew: Stell dir mal vor, es gab so eine Generation, die leiden musste, weil sie Deutsche waren. Nur deswegen, sie haben nichts getan. Nur deswegen wurden die verfolgt. Und das darf man nicht vergessen.

Edwin: Als ich in Temirtau geboren wurde, hatte man in die Geburtsurkunde bei der Nationalität der Mutter „kasaschka“ eingetragen. Meine Mutter hat dann gefragt, warum. Und da haben die russischen Mitarbeiterinnen gesagt, der Name sei so komisch und könne nur kasachisch sein. Und dann wurde es ausradiert und ganz fett „nemka“ hingeschrieben.

Bolat Atabajew: So ist das. Das ist Kasachstan, Sowjetunion. Da war der Mensch nichts wert. Hauptsache man muss irgendwas schreiben.

Edwin: Welche schönen Erinnerungen hast du an deine Kindheit in der Steppe? In deinem Geburtsort?

Bolat Atabajew: Saxaul, das Steppenholz. Vetter Heinrich hat Samen von Wassermelonen in diese Wurzeln gepflanzt und es kamen tatsächlich Wassermelonen raus. Mit dünner Haut, obwohl es kein Wasser gab. Wir sind hingelaufen und haben beobachtet, wann wir sie endlich essen können. Wir haben ungeduldig gewartet. Und Wees Marie hat immer diese Strudel gekocht und konnten es nicht abwarten. Ich habe mehrmals den Topf aufgemacht und der Strudel fiel dann zusammen. Wees Marie hat geschrien. Dieser Duft, mein Gott!

Edwin: Bolat, vielen Dank.

Bolat Atabajew: Nichts zu danken. Du hast mich in die Zeit zurückgebracht, wo ich glücklich gewesen war. Ich sehne mich nach diesen glücklichen Tagen. Alles ist vergänglich. Aber diese Momente.

Edwin: Du hast mir heute mitgeteilt, dass du zurück nach Kasachstan gehst. Und ich weiß, dass das ein sehr mutiger Beschluss ist, weil du nicht ganz einfach aus Kasachstan weggekommen bist. Und du bist ein sehr wertvoller Mensch für uns und für die Beziehungen zwischen der deutschen und der Kultur Kasachstans. Du hast auch zurecht die Goethe-Medaille bekommen. Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Kraft, Zuversicht und Inspiration in dem, was du noch vor hast.

Ira: Bolat hat Kasachstan vor neun Jahren direkt aus der Haft verlassen. Anfang März ist er zurückgekehrt. Wurde er direkt am Flughafen verhaftet?

Edwin: Nein, wurde er nicht. Er lebt, soweit ich weiß, jetzt bei seiner Familie. Er hinterließ aber auch eine politische Botschaft für den Fall, dass er doch repressiert wird: Der einzige Sinn in seinem Leben, den er jetzt noch sieht, ist weiterhin Stachel im Fleisch der korrupten Politikern zu sein.

Ira: Vielen Dank, dass du das Interview mit ihm gehalten hast. Ich fand das wahnsinnig interessant und sehr, sehr berührend. Kürzlich haben meine Mama und ich auch Strudel gekocht und das ganze Haus roch nach geschmortem Fleisch und Sauerkraut und meine Mutter hat dann tief eingeatmet und gesagt: Es riecht nach meiner Kindheit.