
Bilder: Kulturreferat für Russlanddeutsche
Studienfahrt nach Kasachstan – Spurensuche und Begegnungen zwischen Europa und Asien
9.-19. Juni 2025 |
Veranstalter: Haus der Heimat Baden-Württemberg & Kulturreferat für Russlanddeutsche
In den Pfingstferien 2025 organisierte das Haus der Heimat Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat für Russlanddeutsche eine besondere Studienfahrt für 30 Lehrkräfte weiterführender Schulen nach Kasachstan. Ziel der Reise war es, den Teilnehmenden vertiefte Einblicke in die vielfältige Geschichte, Kultur und Gesellschaft Kasachstans zu ermöglichen – mit einem besonderen Fokus auf die deutsche Minderheit im Land.
Bevor das offizielle Programm begann, wurde die Gruppe von der deutschen Botschaft in Astana von Botschafterin Monika Iwersen informiert. In ihrem Überblick über die aktuellen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen Kasachstans betonte sie die Rolle des Landes als stabilisierender Faktor in Zentralasien, aber auch die Herausforderungen durch die geopolitische Situation, Reformprozesse und die Pluralisierung der Gesellschaft. Das Gespräch bot einen fundierten Einstieg in die Thematik und warf einen ausgewogenen Blick auf ein Land zwischen Wandel und Kontinuität.

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Astana – Begegnungen, Bildung und Erinnerung
Die Reise begann in der Hauptstadt Astana, einem Ort mit einer sowjetischen Vergangenheit und einer modernen Gegenwart. Hier besuchte die Gruppe das erst vor drei Jahren eröffnete Deutsche Haus, in dem die Aktivitäten der deutschen Minderheit gebündelt werden. Als Sitz der Gesellschaftlichen Stiftung "Vereinigung der Deutschen Kasachstans "Wiedergeburt"“ werden von hier aus Kulturarbeit, Jugend- und Bildungsprojekte und soziale Aktivitäten landesweit koordiniert. Ein Schwerpunkt lag auf der Vorstellung eines anstehenden Schulbauprojekts, das künftig als Begegnungs- und Bildungszentrum für deutschsprachige Angebote dienen soll.
Zu Zeiten der Sowjetunion lebten bis zu einer Million Deutsche in Kasachstan – viele von ihnen Nachkommen der während des Zweiten Weltkriegs deportierten Russlanddeutschen. Heute sind es noch rund 220.000, womit die Kasachstandeutschen nach wie vor die fünftgrößte Minderheit in dem multiethnischen Land bilden. Sie bilden für Kasachstan ein wichtiges Bindeglied zur Bundesrepublik Deutschland.

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Ein eindrucksvoller Programmpunkt war der Besuch der Gedenkstätte ALZHIR, einem der bedeutendsten Erinnerungsorte an den stalinistischen Terror. Die Gedenkstätte erinnert an das Lager für sogenannte „Frauen von Volksverrätern". Dort wurden von 1938 bis 1950 Frauen und Kinder aus allen Landesteilen der Sowjetunion interniert, deren Ehemänner oder Väter den stalinistischen Säuberungen zum Opfer gefallen waren. Das Bewusstsein für die Tragweite dieses Ortes entwickelte sich in der früher mehrheitliche von Kasachstandeutschen bewohnten Siedlung Malinowka - dem heutigen Akmol - als der damalige Bürgermeister Iwan Scharf, nach dem Auffinden eines Massengrabes Recherchen anstellen ließ. Nach der Gewissheit ermittelte er Zeitzeuginnen und ließ eine erste Erinnerungsstätte errichten. Die Reisegruppe legte in Gedenken an die tausenden Schicksale der unschuldig verurteilten am Denkmal Blumen nieder. Der Ort hinterließ bei den Teilnehmenden einen bleibenden Eindruck und führte zu intensiven Gesprächen über politische Verfolgung, Identität und Erinnerungskultur.

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Begegnungen auf dem Land – Roschdestwenka / Kabanbay Batyr
Ein besonders eindrücklicher Programmpunkt war der Ausflug in das Dorf Roschdestwenka, das heute Kabanbay Batyr heißt – benannt nach einem kasachischen Kriegshelden des 18. Jahrhunderts, dessen historische Begräbnisstätte sich auf dem Gemeindegebiet befindet. Das Dorf gilt als das älteste deutsche Dorf auf dem Gebiet Kasachstans.
In Kabanbay Batyr kam die Gruppe mit einigen der wenigen verbliebenen Deutschen ins Gespräch, darunter Elsa und Valerij, die offen über ihren Alltag, ihre Familiengeschichte und den Wandel im Dorf erzählten. Im Laufe der letzten 30 Jahre sind mehr als 900.000 Menschen als deutsche Spätaussiedler nach Deutschland emigriert.
Ein symbolträchtiger Ort ist die ehemalige evangelisch-lutherische Kirche, die heute als Moschee genutzt wird. Der örtliche Imam berichtete kurz vor dem Freitagsgebet von der spannenden Geschichte des Gebäudes, das zu den architektonisch und historisch interessantesten der Siedlung zählt – ein eindrucksvolles Beispiel für den Wandel religiöser Identität und kulturellen Erbes in einem sich verändernden Kasachstan.

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Almaty – Kultur und Austausch im Süden
Im Süden des Landes stand die Metropole Almaty im Fokus, die als wirtschaftliches, wissenschaftliches und kulturelles Zentrum Kasachstans gilt. Die Studiengruppe besuchte hier unter anderem die Deutsch-Kasachische Universität, das Goethe-Institut sowie die Redaktion der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ).

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An der Deutsch-Kasachischen Universität kam es zu einem besonders lebendigen Austausch mit Studierenden, die offen und interessiert aus ihrem Unialltag an der einzigen deutschsprachigen Universität Zentralasiens berichteten. Die Gespräche boten spannende Einblicke in die akademische Ausbildung, den interkulturellen Alltag der Studierenden sowie ihre Perspektiven auf die deutsch-kasachischen Beziehungen.

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Ein besonderer Höhepunkt war der anschließende Besuch im Deutschen Theater Almaty, das in diesem Jahr sein 45-jähriges Jubiläum feiert. Der festliche Theaterabend stand daher nicht nur im Zeichen des dargebotenen Stücks, sondern war auch der bewegten Geschichte des Theaters gewidmet – einem wichtigen kulturellen Ankerpunkt für die deutsche Minderheit in Kasachstan.
Auf dem Weg zum Theater machte die Gruppe zunächst einen Zwischenstopp am Denkmal für Herold Belger, dem bedeutendsten Schriftsteller aus den Reihen der deutschen Minderheit in Kasachstan. Belger war eine prägende intellektuelle Figur, Brückenbauer zwischen Kulturen und engagierter Fürsprecher der deutschen Sprache und Literatur in Zentralasien. Sein Werk und Wirken stehen beispielhaft für die kulturelle Tiefe und Vielfalt der deutschen Minderheit im postsowjetischen Raum.

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Nach der eindrucksvollen Aufführung des Stücks „Wolgakinder“, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Gusel Jachina, fand eine öffentliche Veranstaltung statt. In einem intensiven Publikumsgespräch diskutierten die Autorin Gusel Jachina, Theaterleiterin Natascha Dubs und Kulturreferent Edwin Warkentin unter der Moderation von Anton Genza (DAZ) über die historische Erfahrung der Russlanddeutschen, Erinnerungskultur und die künstlerische Auseinandersetzung mit Identität, Sprache und Heimat.
Natur, Geschichte und Nomadenkultur
Einen Eindruck von der kasachischen Naturvielfalt erhielt die Gruppe im Nationalpark Buyratau, dessen Steppe, Wälder und Felsformationen einen Kontrast zur urbanen Moderne Astanas boten und das ökologische Bewusstsein in der Region verdeutlichten. Im Nationalpark leben neben seltenen auch endemische Tierarten, solche wie die fast nur in Kasachstan heimische Saiga-Antilope.
Einen weiteren landschaftlichen Höhepunkt bildete der Ausflug zum Jessik-Gebirgssee, eingebettet in die Ausläufer des Tienschan-Gebirges unweit von Almaty. Die Szenerie war nicht nur atemberaubend schön, sondern vermittelte auch ein Gespür für die geographische Vielfalt Kasachstans – zwischen Steppe, Gebirge und urbaner Verdichtung. Auch gilt dieses Gebiet als einer der letzten Rückzugsorte für den äußerst seltenen Schneeleoparden. Mit diesem Ausflugsziel erreichte die Gruppe den östlichsten Punkt der Reise: keine 300 Kilometer entfernt befindet sich die Grenze zum Uiguren-Gebiet der Volksrepublik China.

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Im Ethnocenter Nomad erhielt die Gruppe Einblicke in die Traditionen der kasachischen Nomadenkultur: die Kunst des Reitens, die Jagd mit Steinadlern und das Leben in der Jurte wurden ebenso anschaulich vermittelt wie die Bedeutung von Musik, Handwerk und Gastfreundschaft. Diese Begegnung mit der indigenen Kultur des Landes ergänzte auf eindrucksvolle Weise die zuvor behandelten Themen zur Geschichte der deutschen Minderheit.

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Die Studienfahrt eröffnete vielschichtige Perspektiven auf ein Land zwischen Europa und Asien, zwischen Vergangenheit und Neuanfang. Sie zeigte, wie lebendig und facettenreich die deutsche Minderheit in Kasachstan nach wie vor ist – als Teil der Gesellschaft, als Träger des kulturellen Gedächtnisses und als Brücke zwischen zwei Welten.
Die Reise hat nicht nur fachlich bereichert, sondern auch persönlich bewegt – und wird zweifellos in den Unterricht, die schulische Bildungsarbeit und die eigene Haltung zu Fragen von Migration, Erinnerung und kultureller Vielfalt einfließen.