Skip to main content

Das Trauma in den Genen: Eine unheilbare Diagnose?

Wie wirken sich bereits vor Generationen erlebte Traumata auf das Leben der Nachkommen aus? Werden sie unterschiedlich empfunden und bewertet? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, sie aufzulösen oder gar zu heilen? Christina Pauls sucht im ihrem Essay nach Möglichkeiten, Vergangenheit unter Einbeziehung der eigenen Identität neu zu erzählen, um sie wiederherstellen zu können.

Youtube Vorschau - Video ID AvID09kpREADurch Klicken werden externe Inhalte geladen und die Google-Datenschutzerklärung akzeptiert.

Christina Pauls ist Forscherin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an Universität Augsburg und hat 2021 zur narrativen Durchbrechung von Annahmen transgenerationaler Traumatisierung unter Russlanddeutschen veröffentlicht. Sie ist in Kasachstan geboren und siedelte mit ihrer Familie im Kindesalter nach Deutschland aus.

Es ist nicht lange her, dass ich meine sowjetische Geburtsurkunde in den Händen hielt und dort einen mir fremden Namen las: Kristina Michaelovna Patrakova. Mir war, als hätte ich zwei Identitäten: eine, die diesen fremden Namen trägt, in Kasachstan geboren ist, und eine andere, die deutsche Wurzeln und einen deutschen Namen hat. Als junges Mädchen habe ich mich für meinen Migrationshintergrund geschämt und wollte zur Mehrheitsgesellschaft gehören. Meine Abwendung von der russischen Sprache und Kultur war sowohl durch familiäre Strukturen als auch durch gesellschaftliche Diskurse beeinflusst. Aber die sowjetische, ukrainischstämmige Variante von mir war anwesend, und ich sollte erst später verstehen lernen, dass sie mehr war als meine eigene Biographie. Sie zeigte sich in den Liedern, die wir auf Familienfesten sangen, im Akzent meiner Mutter, in den oft traurigen Augen meiner Großmutter, in meinem sehnsüchtigen, suchenden Blick gen Osten. Hier waren Geheimnisse verborgen, die das Tor zu einem breiteren Verständnis meines In-der-Welt-Seins öffnen sollten. Aber Kasachstan blieb im russlanddeutschen Teil meiner Familie lange so etwas wie eine ‘weit hinter uns liegende Vergangenheit’, von deren Fesseln ich mich durch überdurchschnittliche Leistungen in Schule und Gesellschaft entledigen wollte. Es war ein metaphorischer Nicht-Ort, der allein durch seine Abwesenheit und meine zwanghafte Abwendung von allem, was er repräsentierte, Wirkung entfaltete.

Die Einsicht, dass darin eine tief verborgene Konflikt- und Schmerzquelle meines Lebens lag, ebnete den Weg, den ich mit meiner Masterarbeit beschritten habe – ich begann, mich intensiver mit der Geschichte meiner Vorfahren auseinander zu setzen und stieß schnell auf die Annahme einer kollektiven Traumatisierung von Russlanddeutschen in der Sowjetunion. Ich begegnete dem Begriff ‘Trauma’ mit einer humanistischen Perspektive, die davon ausgeht, dass Trauma eine Wunde ist, die von einer verletzenden Erfahrung bleibt und die Beziehungen einer Person (oder Gruppe) zu sich selbst, anderen und der Welt beeinträchtigt. Als ich in den biographischen handschriftlichen Aufzeichnungen meiner Großmutter und ihrer Schwester blätterte, sprangen mir Worte wie ’GULag’, ’Trudarmee’, ‘Deportation’ und ‘Verbannung’ entgegen. Bei meiner Recherche erkannte ich, dass es für Russlanddeutsche in der Sowjetunion weniger das eine traumatische Ereignis gab, sondern eher eine Reihe von Traumatisierungen, die sich in überlagernden Prozessen, Erfahrungen und Situationen manifestieren.

In meiner Arbeit habe ich eine qualitative narrative Studie mit sechs Russlanddeutschen der zweiten Generation durchgeführt, und festgestellt, dass die Familiengeschichten sich unterschiedlich auf ihre Leben auswirken. Diese Studie erhebt keinerlei repräsentativen Anspruch, sondern ermöglicht einen Einblick in die Vielfalt von Deutungen in den Leben junger Russlanddeutscher in Deutschland. Es lassen sich daher keine pauschalen Aussagen treffen, wie konkret sich solche transgenerationalen Traumata manifestieren - schließlich sind sie nur durch die betroffenen Personen selbst identifizierbar. Ansonsten würde ich pathologisierende Diagnosen aufstellen, für die es ja nicht einmal wissenschaftlich festgelegte Charakteristika gibt. Aber vielleicht liegt das in der Natur der Sache, denn je nach konkreten Erlebnissen der Vorfahren, ihrem Umgang in der Familie, ihrem sozialem Kontext und Umgebungsraum, variieren die Effekte von traumatischen Familiengeschichten. In einigen Fällen, in denen Verschweigen und emotionale Abtrennung der familiären Vergangenheit üblich waren, zeigten sich deutliche emotionale Belastungen. In anderen schienen allerdings die wiederholten familieninternen Leidenserzählungen hohe Belastungen nach sich zu ziehen. Manche nahmen die Erkundung ihrer Familiengeschichten selbst in die Hand und trugen so performativ zu Heilungsprozessen in sich und ihren Familien bei. Es geht bei transgenerationalem Trauma also weniger um objektive Symptombehandlung oder Erlösung, sondern um subjektive Bedeutungszuschreibungen und die eigene Positionierung in den Familiengeschichten, sowie ihren Verflechtungen mit gesellschaftlichen Zusammenhängen. Es geht letztlich darum, dafür zu sorgen, leidschaffende Wirkungsweisen solcher transgenerationalen Traumatisierungen zu unterbrechen und sich dafür zu entscheiden, diese nicht an kommende Generationen weiterzugeben.

Für mich persönlich macht es durchaus Sinn, meinen beständigen Bewegungsdrang und meine Unrast mit transgenerationalen Vermächtnissen in Verbindung zu bringen. Die Einsicht, dass ich Gefühle der Heimatlosigkeit und Deportation geerbt habe, die nicht die meinen sind, entlastet mich zumindest in dem Bedürfnis, ausschließlich innerhalb meiner persönlichen Biographie nach Ursachen und Lösungsansätzen zu suchen. Das heißt nicht, dass sie nicht auch hier in meiner Biographie liegen, aber dass meine Familiengeschichten zusätzlich Wirkung entfalten. Schwierig wird es dann, wenn über Generationen hinweg verschwiegene Sinnzusammenhänge nicht mehr herstellbar erscheinen. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lässt sich festhalten, dass traumatische Erfahrungen über Familiensysteme weitergegeben werden, vor allem dann, wenn sie unbewusst, unbearbeitet und unreflektiert bleiben. Denn nur, was tatsächlich als ererbtes und empfangenes Trauma erkannt wird, kann auch als solches bearbeitet werden. Die Intensität, mit der es sich bemerkbar macht, hängt offenbar stark davon ab, ob das Trauma erkannt und angesprochen werden konnte. Erst dann kann es integriert werden. Trauma wirkt nämlich in konkreten Beziehungen und das oftmals auf unbewussten und unterbewussten Ebenen. So kann sich die Beziehung zwischen Großeltern und Eltern in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern spiegeln und eine Sequenz an Beziehungsmustern auslösen, die von Generation zu Generation weitergetragen wird.

Wenn Leidensgeschichten als Grundlage unserer Gruppenidentität aufgefasst werden, dann liegen Diskurse um Schuld und Opferdasein nicht fern, die aber von starken Vereinfachungen und porösen Grenzen zwischen Opfer- und Täter-Werdungsprozessen geprägt sind. So wirkt diese transgenerationale Traumatisierung auch in und durch selbstviktimisierende Narrative. Allerdings haben mir die Gespräche im Rahmen meiner Studie bestätigt, dass traumatisierende Erfahrungen nicht notwendigerweise mit Opfer-Täter-Zuschreibungen einhergehen müssen. Diese zweigeteilte Kategorisierung reduziert die Komplexität und die Gleichzeitigkeit von widersprüchlichen Geschichten, und übt durch diese reduktionistische Einfachheit selbst eine Form von Denkgewalt aus. Als ich 2019 mit meinem ruandischen Partner und unserem gemeinsamen Sohn in meinem Geburtsdorf in Kasachstan zu Besuch war, war ich durch meine langjährige Beziehung für Rassismen derart sensibilisiert, dass ich feststellte, dass dort die indigene kasachische Bevölkerung von meiner ukrainischstämmigen Familie mit großer Abwertung behandelt wurde. Ich erinnerte mich plötzlich auch an antisemitische und rassistische Äußerungen in Erzählungen von Russlanddeutschen. Ich begann, mich zu wundern - wenn meine Familiengeschichten von Deportation und Repression geprägt sind, wie verhielt sich diese ‘Gruppenidentität’ zu anderen Gruppen in der ehemaligen Sowjetunion? Welche Solidaritäten gab und gibt es mit anderen marginalisierten Bevölkerungsgruppen? Und welche Rolle spielt der ursprüngliche Siedlerkolonialismus in der Gruppenkonstruktion der Russlanddeutschen? Welche Auswirkungen hatten die Siedlungen auf lokal ansässige Bevölkerungen und Lebens- und Weltzusammenhänge? Mit solchen Fragen weichen meine Opfer- und Täterkategorien auf und ebnen den Weg für ein komplexeres, dadurch auch schwerer aushaltbares Verständnis der Vergangenheit.

Es geht mir nun also darum, wie wir unsere komplexen Identitätskonstruktionen erzählen. Den Titel meiner Arbeit “re-storying the past”, das bedeutet so viel wie die Vergangenheit neu zu erzählen und zugleich wiederherzustellen, verstehe ich als eine beständige Wiederaushandlung der Geschichte und eigener Identitätsaspekte. Das bedeutet, von dem Bedürfnis loszulassen, sich auf feste, unveränderliche Geschichten zu berufen, und stattdessen die Offenheit zu bewahren, die es uns ermöglicht, auch nachträglich Verbindungen zu erkennen, die uns vorher unbewusst, unbekannt oder unzugänglich waren. Deshalb stellt sich die unbequeme Frage: modellieren wir unsere Geschichten, sodass sie in einen kanonisch vorgegebenen Rahmen passen, oder sprengen wir den Rahmen mit ungeschriebenen Geschichten und kreativen Annäherungen an das Unsagbare?

Wenn ich von transgenerationaler Traumatisierung spreche, dann geht es mir auch darum, Trauma weder individualistisch zu verstehen noch kollektiv-homogenisierend von einer gruppenbasierten Verletzung auszugehen. Stattdessen verstehe ich, dass meine Familiengeschichte(n) zwar familien- und gruppenspezifische Erfahrungen erzählen, aber zugleich Teil eines größeren, komplexen kollektiven Unbewussten sind. Dies erfordert ein Eingeständnis, dass Vergangenheitsbewältigung die Bewältigung der Gegenwart (und der Vergangenheit in der Gegenwart) mit einschließt. Auch eine Haltung, von der aus historische Erkundungen familiärer und gesellschaftlicher Geschichten als wertvoll und wichtig erachtet werden, trägt dazu bei, Bewusstsein und Anerkennung über transgenerationale Traumatisierung zu schaffen. Dafür brauchen wir – wie hier in Detmold – Räume zur Bewusstwerdung, zum Austausch und zur Vernetzung und damit Möglichkeiten, sich diesen Themen sensibel zuzuwenden.

Heilung ist in diesem Zusammenhang ein irreführender Begriff, der meines Erachtens nicht ganz halten kann, was er andeutet. Was in der Vergangenheit geschah, wird nicht ungeschehen, und die Wunden, sprich Traumata, werden zu Narben und beeinflussen weiterhin, wie wir zueinander in Beziehung treten. Vielleicht geht es eher darum, die eigene Einbettung in der Welt in ihrer ganzen Komplexität anzunehmen und Schicht für Schicht aufzudecken – und so die Beziehung zu sich selbst und anderen mit dieser Sensibilität zu pflegen.