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Ein jedes Wort – Über die Sprache und Erzählkultur in den Familiengeschichten der Russlanddeutschen

Die Schriftstellerin berichtet in diesem Essay, wie unmöglich es zuweilen ist, über traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit zu sprechen, zumal ein gelerntes Schweigen und eine verordnete Sprachlosigkeit die Kommunikation darüber noch erschweren. Dem oft geführten Vorwurf, Russlanddeutsche sind in ihren Äußerungen rückwärtsgewandt, entgegnet sie mit dem Wunsch nach mehr Empathie und Anerkennung für ein unaufgearbeitetes Kollektivschicksal.

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Eleonora Hummel ist 1980 als Kind mit ihren Eltern aus dem sowjetischen Zelinograd in die DDR ausgewandert. Ihr erster 2005 veröffentlichte Roman Die Fische von Berlin brachte ihr eine bundesweite Bekanntheit und die Auszeichnung mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis der Robert Bosch Stiftung ein. Seitdem setzt sie sich regelmäßig mit Themen russlanddeutscher Aussiedler und ihrer Lebenswelten auseinander. Mehr zur Autorin unter eleonora-hummel.de
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“
Matthäus 4,4

Mit diesem Bibelzitat begann in den 1980ern eine Sendung der Stimme Amerikas, die ich regelmäßig zu verfolgen versuchte, wenn durch das Rauschen der sowjetischen Störsender überhaupt etwas zu verstehen war. Schon als Kind wurde mir klar: Wie viel Angst die Mächtigen vor Worten haben mussten, dass sie ihre eigenen Bürger mit nicht geringem Aufwand vor falschen (Freiheits-)Botschaften behüten wollten! Welche Macht hat die Sprache!

Sehr gründlich und rückblickend überaus erfolgreich war die Sowjetregierung darin, der russlanddeutschen Minderheit die Muttersprache zu nehmen, was zuvor zwei Jahrhunderte im zaristischen Russland fernab der historischen Heimat nicht geschafft hatten. Während die Eltern noch deutschsprachige Schulen besucht hatten, wuchs die Nachkriegsgeneration fast ausschließlich mit Russisch auf. Ein paar abgeschiedene Dörfer durften irgendwo in Sibirien und Kasachstan als Sprachinseln mit altdeutschen Dialekten überdauern, ein interessantes Forschungsfeld für Philologen. Für die Mehrheit der Russlanddeutschen bedeutete die Deportation aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten an der Wolga und am Schwarzen Meer jedoch den Verlust ihrer Muttersprache. Sie verschwand nicht von selbst, sondern gezwungenerweise. Auch wenn es kein gesetzliches Verbot gab, Deutsch zu sprechen, taten der soziale Druck und die Angst aufzufallen, ihr Übriges dazu. Anerkennung und Wertschätzung als vollwertige Bürgerinnen und Bürger blieb den Russlanddeutschen im Staat der vielen verbrüderten Völker besonders lange versagt.

Wenn sich gebürtige Sowjetbürger heute an die Sowjetzeit erinnern, höre ich oft: Wir hatten ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, und zu Hause konnten wir freiheraus über alles reden. Es ging uns gut! „Habt ihr denn alles schon vergessen?“, möchte ich dann fragen.

Nichts habe er vergessen, sagt mein Vater, aber bis heute fehlten ihm die Worte, um das Erlebte zu beschreiben. Das heißt nicht, dass es ihm an Sprachkenntnissen oder geschliffener Ausdrucksweise mangelt, sondern dass die Erlebnisgeneration häufig verstummt ist aufgrund der traumatischen Erfahrungen während der Zwangskollektivierung, des stalinistischen Terrors und der Kriegs- und Verbannungsjahre. Zwischen 1914 und 1955 [Jan. 1956] – als die Meldepflicht bei der Kommandantur für Deutsche endlich aufgehoben wurde – war ihr Leben freudlos und voller Entbehrungen. Selbst auf Hochzeitsfotos lächelten die Menschen nicht. Sie schwiegen, weil sie nicht anders konnten, jahrzehntelang aus Angst und später aus Gewohnheit, weil ihre Traumata niemanden kümmerten und sie selbst gar nicht auf die Idee kamen, sich Hilfe zu holen. Schweigen, tagein tagaus harte Arbeit, vielleicht Alkohol, um sich zu betäuben, etwas anderes war nicht verfügbar, bis auf den Gedanken: Wenigstens die Kinder und Enkel sollten unbelastet von der Vergangenheit aufwachsen und es einmal besser haben.

Das bedeutet jedoch, dass viele der Jüngeren die eigene Geschichte nicht kennen, nicht wissen, was die Älteren zum Schweigen gebracht hat. Und selbst wenn Oma und Opa was erzählt haben, heißt das nicht, dass sie auf offene Ohren gestoßen sind, waren doch alle nach der Ankunft in Deutschland damit beschäftigt, sich den verlorenen Wortschatz mühsam wiederanzueignen und eine neue Existenz aufzubauen, erneut bei null anzufangen wie schon mehrmals zuvor.

Die Alten haben neben der Familienbibel, ein bisschen Hausstand und in der Sowjetunion begehrten, in Deutschland aber nutzlosen Wertgegenständen – wie etwa Schmuck aus Rotgold, dem man die Herkunft der Trägerin sofort ansieht – ihren Rucksack voller Erinnerungen mitgebracht.
Diesen Rucksack kann man nicht nach Belieben ablegen, wenn er einen irgendwo drückt. Denn darin befinden sich die Erlebnisse mehrerer Generationen als Erbe. Ein Erbe, welches die Nachkommen ungefragt in die Wiege gelegt bekommen, um sich später wohl oder übel damit auseinandersetzen zu müssen. Durch Schweigen entstehen Lücken. Leerstellen, die einen irgendwann im Leben einholen und zu einem Suchenden machen, um sie füllen. Die einen zu einem Fragenden machen. Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich?

Das Unausgesprochene steht zwischen den Menschen und belastet die Beziehungen in den Familien. Es ist doch so: Man spürt das Hintergründige, auch wenn es verschwiegen wird.
Die Russlanddeutschen haben als Kriegsfolgenschicksal nicht nur die Muttersprache, sondern alles verloren: Haus und Hof, Land, ihre Familienverbände, ihre Dorfgemeinschaft, ihre Kultur, für lange Zeit den Zugang zu Universitäten und höheren beruflichen Positionen, und obwohl alle gleich waren im weltersten Arbeiter- und Bauernstaat und alle Völker darin – ob groß, ob klein – Brüder, fanden sich die Mitbürger mit den deutschen Nachnamen auf Jahrzehnte Diskriminierungen ausgesetzt. Ihre Heimat hat ihnen keine Geborgenheit, Wertschätzung und Anerkennung gegeben, sondern sie klein gehalten und schikaniert.

Ich bin damit aufgewachsen, dass der Verlust seines Vaters für meinen Vater ein lebenslanges Trauma ist, das ihn nie loslässt, und in unserer Familie auch mehr als 80 Jahre später noch sehr präsent ist. Mein Großvater Eduard Hummel wurde im Oktober 1937, als mein Vater 2 Jahre alt war, in Odessa als Volksfeind und Konterrevolutionär zum Tod durch Erschießen verurteilt. Erst 1961 wurde er rehabilitiert. Mein Vater hat kurzerhand die Rehabilitationsbescheinigung zerrissen und weggeworfen. Denn die vielen Jahre dazwischen hat es die sowjetische Obrigkeit nicht für nötig gehalten, Eduard Hummels Familie über dessen Hinrichtung zu informieren und sie damit in falscher Hoffnung gewogen, er könne in irgendeinem Gulag noch am Leben sein und man müsse nur geduldig auf ein Wiedersehen warten. Nun ist der Fall Eduard Hummel nur einer von Millionen Repressierter, deren Leid sich auf die Nachkommen auswirkt und sie generationenübergreifend beschäftigt. Als ich vor einigen Jahren das Staatsarchiv in Odessa aufsuchte, um die Akte meines Großvaters einzusehen, saßen dort Enkel und Urenkel über vergilbte Dokumente gebeugt, um zu ergründen, was ihren Vorfahren an staatlich organisierter Gewalt widerfahren war.
Man kann geschehenes Unrecht nicht mehr ändern und Tote nicht lebendig machen, aber wenigstens daran erinnern, darüber öffentlich sprechen, Gehör einfordern und sich Verständnis für das erlittene Leid erhoffen. Ich wünsche mir, dass es statt „so war das halt damals; so ging es vielen; legt endlich euren Opferstatus ab“ öfter heißt „das, was ihr durchgemacht habt, ist wirklich tragisch, das verdient Beachtung“. Erst dann ist es vielleicht möglich, damit „Frieden zu machen“, als Gesellschaft und als Betroffene. Denn bis heute ist die Aufarbeitung sehr lückenhaft, die im Auftrag der Sowjetmacht handelnden Täter konnten größtenteils unbehelligt in Rente gehen, außer der nutzlosen Rehabilitationsbescheinigung gab es keine offizielle Stellungnahme, keine Entschädigung, keinen ernsthaften Versuch der Wiedergutmachung. Die Geschichte ist nicht abgeschlossen und treibt noch die Urenkel um. Die Nachkommen der Opfer wollen späte Gerechtigkeit, die Nachkommen der Täter üben sich in Ignoranz.
Jeder mag anders damit umgehen; wenn ich für mich sprechen darf, dann spüre ich beim Gedanken an das schwere Schicksal meiner Eltern und Großeltern eine nicht versiegen wollende Wut über die ihnen widerfahrene Ungerechtigkeit. Vielleicht ist das der Antrieb, darüber zu schreiben, dafür die richtigen Worte zu finden, Öffentlichkeit zu suchen. Insofern ist das eine produktive Wut. Natürlich erwarte ich nicht, dass sich jeder mit der Geschichte der Russlanddeutschen auskennt, aber ein wenig mehr Offenheit und Interesse seitens der Mehrheitsgesellschaft für immerhin drei Millionen Mitbürger wäre schon schön. Oder sollte ich sagen: Es wäre mehr als angebracht? Denn es liegt nicht nur an uns, lauter und sichtbarer zu sein, sondern auch am Willen der anderen Seite, vorurteilsfrei zuzuhören.
Die aus den Repressalien der Stalinära resultierende Angst hat sich bei den Russlanddeutschen tief eingebrannt und eine Mentalität hervorgebracht, ja keine Angriffsfläche zu bieten, bloß nicht aus der Masse hervorzustechen. Das muss man verstehen. Eine in der Sowjetunion oft benutzte Redewendung lautet: Bleib unten, rage nicht heraus! Wer herausragt, kann schnell eins auf den Deckel bekommen. In irgendeiner Art aufzufallen galt als dem eigenen Wohlbefinden nicht zuträglich. Und so hatten sie es verinnerlicht, der eine mehr, der andere weniger, und an ihre Kinder weitergegeben, so dass die Nachwirkungen bis heute spürbar sind. Auch in der Bundesrepublik bleiben die Russlanddeutschen unauffällig.
Die Statistik sagt, dass sie sich in einem geringeren Maße politisch engagieren, seltener öffentliche Ämter ausüben und weniger Unternehmen gründen als der Durchschnitt. Sicherheitsdenken statt Risiko. Man könnte ja nochmal alles verlieren. Nicht zu hoch pokern. Sie haben die deutsche Sprache gelernt, studiert, Berufe gelernt, Häuser gebaut, Familien gegründet. Die mitgebrachte Generation muss noch ab und zu ihre komisch klingenden Geburtsorte erklären. Sie seien „gebürtige Kasachen“ lesen sie in der Presse über sich. Wenn andere über uns schreiben, empfinde ich es selten als positiv oder gar mitfühlend. Ich hoffe sehr, das bleibt nicht so.

Mir war es lange Zeit unangenehm, zu sagen, wo ich herkomme. Ich habe die Frage „Woher kommst du?“ regelrecht gefürchtet, weil ich irgendwann keine Lust mehr auf lange Erklärungen hatte. Dass ich mich als Deutsche sehe, wurde stets infrage gestellt. Zuerst in der DDR, später in der Bundesrepublik. Wie ein roter Faden zieht sich das „Argument“ durch die letzten 40 Jahre: Wer aus Kasachstan kommt, könne unmöglich Deutscher sein. Dieses Besser-wissen-wollen Nichtwissender ist ärgerlich und hört leider trotz aller Aufklärungsversuche nicht auf.
Vielleicht macht auch immer wieder erlebtes Unverständnis auf Dauer wortkarg. Weil Erklärungen nichts ändern und sich erklären müssen einen irgendwann ermüdet. Auch die Angst vor Zurückweisung und Desinteresse mag hineinspielen. Nach langer Sprachlosigkeit fällt es schwer, die Stimme zu erheben und für seine Belange einzutreten. Es gibt einen erheblichen Nachholbedarf in der Erzählkultur.
Manchmal höre ich den hilflosen Vorwurf, die Russlanddeutschen sollten sich weniger auf die Vergangenheit fokussieren, es gebe in der Gegenwart genug, wofür man sich engagieren kann.
Das stimmt natürlich. Ich will meinen Blick auch nicht ausschließlich auf vergangene Diktaturerfahrungen lenken, aber diese als Teil meiner Identität akzeptiert wissen.

© Eleonora Hummel 2021