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Von Hunden und Bubble Gum

Die Erinnerungen an seinen in Kasachstan zurückgelassenen Welpen führen den Autor zu Gedanken über unausgesprochene Gefühle und versperrte Wahlmöglichkeiten bis zu emotionalen Gräben zwischen den Generationen. Viktor Funk setzt sich in seinem Text mit dem Innenleben der sogenannten mitgebrachten Generation der Aussiedlerkinder auseinander.

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Viktor Funk kam 1978 in Kasachstan zur Welt, wuchs dort auf und siedelte mit seinen Eltern 1990 nach Deutschland um. Seit 2008 ist er Redakteur bei der Frankfurter Rundschau und arbeitet dort im Ressort Politik. 2017 erschien von ihm mit „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ sein erster Roman. Mehr Informationen über den Autor finden sich auf www.viktorfunk.de.

Der Schäferhund biss schneller zu, als ich reagieren konnte. Ich hatte den Welpen, einen weißen Straßenmischling, dem angeketteten Wachhund der Nachbarn vor die Nase gehalten, sie sollten sich kennenlernen. Da biss er zu.

Das Jaulen meines Hundes hallt in meinen Erinnerungen nach. Die folgenden Tage und Wochen haben sich ins Gedächtnis eingebrannt, die Bilder, wie Dimka fiept und seine Beine hinter sich herzieht, und fiept und fiept und fiept. Ich heule und heule. Und dann gibt Vater doch noch den Gedanken auf, den Hund in den Beiwagen unseres Ural-Motorrads zu packen, mit ihm in die Steppe zu fahren und ihn „zu erlösen“.

Zweite Hälfte der 80er Jahre, Balchasch im sowjetischen Kasachstan. Es ist Sommer, drei Monate Ferien, es ist heiß, wir Kinder streunen durch die Straßen, ich bringe einmal eine junge Katze zu den Großeltern, wir sperren sie in einem Raum im Saraj, dem Kaninchen- und Hühnerstall, ein. Sie soll sich erst einmal an uns gewöhnen. Sie bekommt Milch und bestimmt auch etwas zu essen, aber was, das weiß ich nicht mehr, sie hat ja auch genug Mäuse, die sich im Saraj am Futterkorn und anderen Saaten laben.

Erinnern kann ich mich daran, wie die junge, graugestreifte Katze die erste Möglichkeit nutzt und flieht, als ich sie aus dem Stall rauslasse. Sie springt in das Sonnenblumenfeld und über den Nachbarszaun, und auf deren Saraj, und immer weiter über die Dächer der Hühner- und Schweineställe. Wir hatten noch nicht einmal einen Namen für sie.

Dann fand ich den weißen Welpen, brachte ihn wieder zu den Großeltern. Natürlich durfte ich ihn behalten. Ich durfte sowieso viel zu viel bei meinen Großeltern, Verbote existierten in ihrem Haus nicht.

Dimka sollte der Welpe heißen, und er durfte bleiben. Ich trug ihn stolz durch die staubige, unbefestigte Straße der Kleinhaussiedlung, zeigte ihn anderen Kindern und Hunden ... und dann der Biss.

In Deutschland habe ich nie einen streunenden Hund gesehen, nur einmal im Wald. Aber selbst dieser, auch ein Mischling, Golden Retriever und eine andere Rasse, – selbst dieser eine Hund streunte nicht wirklich herum. Er suchte nur nach seinen Besitzern, irrte ein wenig auf dem Gehweg hin und her, lief in die eine, dann in die andere Richtung, bis zwei Jogger vorbeikamen und ihm halfen. Sie nahmen ihn einfach am Halsband und führten ihn zu dem Parkplatz, auf dem die Gassi-Geher gerne parkten.

Dimka, mein Welpe, muss auch sehr verwirrt gewesen sein. Erst fing ich ihn auf der Straße, dann war ich dafür verantwortlich, dass er jetzt litt. Vielleicht gab es Kleintierärzte in der Stadt, das sind so Gedanken, die heute, mehr als 30 Jahre nach dem Ereignis, aufkommen. Aber bis ich 1990 nach Deutschland kam, wusste ich gar nicht, dass es Kleintierärzte gibt.

In Kasachstan waren Tiere immer Nutztiere, auch Hunde. Sie waren immer angekettet, und die nicht angeketteten waren Streuner, und Streuner wurden weggefangen und was mit ihnen geschah – diese Frage stellte ich mir als Kind nicht.

Dimka hatte ich von der Straße weggefangen, und dann lag er winselnd und fiepend in der Wohnung und ich heulend daneben.

Seine Schmerzen ließen nach. Er fraß. Er fraß aggressiv, verteidigte seinen Napf und schleifte seine hintere Körperhälfte hinter sich her. Und vielleicht haben ihm auch seine Aggressivität, sein Lebenswille, meine Anhänglichkeit, unsere Geduld ... was auch immer ... geholfen. Eines Tages – und dieses Bild von dem Tag habe ich wieder ganz lebendig vor Augen – stand er auf. Seine Hinterbeine eng zusammen, wackelig, immer kurz davor zu einer Seite zu kippen. Aber er stand.

Sein Schwanz bewegte sich, er machte die ersten Schritte und plumpste wieder auf den Hintern, weil seine kranken Beine noch nicht taten, was gesunde Beine tun. Es dauerte noch, vielleicht Wochen, vielleicht sogar Monate, aber spätestens im nächsten Frühjahr reichte ein Pfiff, wenn ich zum Haus der Großeltern ging, und Dimka kroch unter dem großen Tor durch und schoss mir entgegen.

Draußen im Hof der Großeltern saß ich manchmal bei Malysch, der schon älter war, mein erster Hund, der ins Haus kam, als ich gerade laufen lernte. Ich wuchs mit ihm auf, verbrachte unzählige Stunden in seiner Hundehütte. Er war der Wachhund, Dimka war der Spielhund. Und Malysch, der alte Weise, verstand das und ließ den jungen Wilden auch aus seinem Napf fressen. Die beiden Hunde sah ich das letzte Mal im Januar 1990 zusammen. Dimka sah ich nie wieder.

Deutschland hatte uns mit seinem nasskalten Winterwetter empfangen. Im Gegensatz zu vielen anderen blieben wir nur wenige Tage im Aufnahmelager Bramsche bei Osnabrück. Ich erinnere mich an den kleinen Abenteuerspielplatz namens Doppelstockbett, an die Decken, die zwischen den Betten gehängt wurden, für die Privatsphäre auf 0,80 Mal zwei Meter. Und am intensivsten erinnere ich mich an Bubble Gum, jene zuckrigen Kaugummis, die ich nur aus einem sowjetischen Zeichentrickfilm kannte, in dem ein verwöhnter, dicker Kater davon schwärmt. Der Zeichentrickfilm war kapitalismuskritisch, weiß ich heute. Damals wollte ich nur wissen, wie Bubble Gum schmeckt.

Später saß ich im winterlichen, norddeutschen Grau und kaute, schmatzte und machte pinke Kaugummiblasen und ahnte noch nicht, was kommt.

Kein Bubble Gum der Welt lässt dich die Hunde deiner Kindheit vergessen, und kein Bubble Gum kann dich von der Anspannung und dem Stress befreien, der in der neuen ... ja, was denn eigentlich, Heimat? ... begann. Aber das ist schon viele Jahre her.

Beim Schreiben dieser Zeilen, frage ich mich, ob das ein Zufall ist, dass ich ausgerechnet mit der Geschichte über Dimka diesen Text begonnen habe. Er hatte keine Wahl, was mit ihm geschah. Ein kräftigeres Wesen – ich – fing ihn und brachte ihn in eine ausweglose Situation.

Wie viel von diesem Welpen steckt in den Kindern und Jugendlichen, die von den Eltern mitgenommen und in eine neue Umgebung geworfen werden? Von Eltern, die selbst oft genug nicht genau wissen, wie sie in dieser Umgebung zurechtkommen? Wie viel von dem Schock, aus einer gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden, bleibt unausgesprochen, unbesprochen, unverarbeitet zwischen den Eltern und Kindern, bestehen?

Diese unausgesprochenen Gefühle, diese nicht erzählten Erinnerungen, ziehen sich wie ein unsichtbarer, tiefer, trennender Graben zwischen den Generationen. Die Großeltern, verschleppt und in die Steppe geworfen – sie schwiegen vor ihren Kindern, unseren Eltern.

Die Eltern, überfordert und abgekämpft nach der Umsiedlung – auch sie schwiegen zu lange vor uns. Und später, als sich vieles, vor allem materiell, gut fügte, da schien es nicht mehr passend, über die Vergangenheit zu sprechen. Aber vergangen sind ihre Erfahrungen nicht. Sie sind in uns, sie ticken in uns, prägen und lenken uns, machen uns zu ihren Gefangenen – wenn sie nicht ausgesprochen werden; wenn wir nicht erkennen, welche Gefühle unsere und welche Gefühle die unausgesprochenen, vererbten Gefühle unserer Ahnen sind.

Im August 1992 waren wir das letzte Mal nach Balchasch gereist. Wir waren zuerst mit einem Nachtzug von Wolfsburg nach Moskau gefahren, dann weiter nach Karaganda geflogen, dann noch einmal eine lange Nacht unterwegs im Zug. Er hielt öfter, als er fuhr. Die Fenster im Abteil waren geöffnet, stickig war es trotzdem, die Luft der sommerlichen Steppe kühlte kaum ab. Die lauten Durchsagen an den kleinen Haltepunkten weckten uns immer wieder, für die knapp 400 Kilometer bis Balchasch brauchte der Zug fast zwölf Stunden.

Der Bahnhof liegt am Stadtrand, direkt an der Siedlung mit den kleinen Häusern, wo auch meine Großeltern lebten. Mutter, Schwester und ich gingen zu Fuß zu ihnen, Vater war mit all den Koffern im Taxi vorgefahren. Vor zweieinhalb Jahren hatten wir meine Großeltern, die Eltern meiner Mutter, zurückgelassen. Und nun waren wir wieder da. Nachdem ich mich aus ihren Umarmungen gelöst hatte, ging ich zu Malysch, der an der Kette bellte. Alt war er geworden, seine 14 Jahre zeigten sich grau um seine Schnauze. Er schnupperte an mir und erkannte mich.

„Wo ist Dimka?“, fragte ich Großvater.

Er sah mich an und hob die Schultern. Er sei eines Tages nicht wiedergekommen. Er hätte sich oft vom Hof davongemacht, aber wäre immer am selben Tag zurückgekehrt. Doch eines Abends nicht, erzählte Großvater.

Malysch war ein Trost, er ließ mich zu sich. Er roch immer noch, wie in meiner Kindheit, nach Staub und Kohle, weil er neben einem Kohleverschlag angekettet war. An den Abenden, wenn wir alle zusammen unter dem wilden Wein der Sommerterrasse saßen, löste Großvater die Kette, und Malysch legte sich zwischen uns alle. Es waren die letzten Momente mit ihm.

Wenn es so etwas, wie eine Heimat je in meinem Leben gegeben hat, dann verschwand sie in jenem August. Balchasch, Kasachstan, war mir fremd geworden. Die Fenster meines Kindergartens waren eingeworfen, auf dem Basar ging es lauter zu als früher, viele japanische Automarken fuhren in der Stadt und von den ehemaligen Symbolen der Sowjetunion war im Straßenbild nichts mehr zu sehen. Damals habe ich dem noch wenig Beachtung geschenkt, aber meine Mutter hatte die Reise schlecht verarbeitet. Sie war enttäuscht über den Verfall ihrer Stadt, sie sorgte sich um die zurückgelassenen Eltern, sie fühlte sich fremd. Und ich sog ihre Gefühle mit auf.

Nicht lange nach der Rückkehr nach Deutschland erhielten wir einen Brief vom Großvater. Wie alle seine Briefe begannt auch dieser mit dem Satz: „Meine lieben Kinder und Enkelkinder, uns geht es gut, wir sind gesund, was wir auch euch wünschen.“ Ich fand das damals eigenartig, immer dieser erste Satz, immer die Gesundheitswünsche. Jetzt, fast 30 Jahre später, schreibe ich in jede private Mail „bleib gesund“.

In jenem Brief berichtete Großvater auch vom Tod des Hundes, mit dem ich unter dem Tisch herumgekrochen bin, in dessen Hütte ich mich versteckt hatte, und der einfach immer da war. Und erst diese Nachricht löste endlich das aus, was schon seit Jahren wie ein Kloß in mir steckte und Gefühle blockierte. Die Trauer über den Tod von Malysch befreite auch die Trauer über den Verlust von kindlicher Unbeschwertheit, über den Verlust der Nähe zu den Großeltern, Verwandten und Freunden. Zu sehr hatte Deutschland verlangt, sich einzufügen in den neuen Alltag, schnell die neue Sprache zu erlernen, schnell so zu werden, dass du nicht weiter auffällst. Zu wenig Zeit war gegeben, sich vom alten Leben zu verabschieden. Erst drei Jahre nach der Übersiedlung war es dann endlich möglich geworden.

Dass ich ausgerechnet nach der Nachricht über Malysch und nach den verweinten Nächten die ersten Freunde in Deutschland fand, ist kein Zufall, denke ich. Einer davon ist bis heute ein enger Freund geblieben.