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Warum nur …?

Die Geschichten, die Omama ihrem Enkel Robert im kirgisischen Tokmak erzählt, widersprechen den Inhalten, die er in der Schule über die Vergangenheit lernt. Und auch später in Deutschland klaffen die eigene Geschichte und die öffentliche Sicht weit auseinander.

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Artur Rosenstern studierte bereits in Kirgisien, als er 1990 nach Deutschland aussiedelte. Er schreibt Lyrik und Prosa. Shortlist beim Berliner Schreibwettbewerb „Federleicht 2012“ und ist Preisträger beim „Federleicht 2013“ in Berlin sowie beim Leverkusener Short-Story-Preis 2015. Heute ist der Autor Vorsitzender des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e. V. und gibt darüber hinaus regelmäßig Anthologien und Monografien russlanddeutscher Autor*innen heraus. Mehr zum Autor auf www.artur-rosenstern.de
Begreife dieses: Du hast in deinem Inneren ein zweites All im Kleinen, in dir ist eine Sonne, ein Mond und sind auch Sterne.
Origenes

1980, Tokmak (Kirgisien, UdSSR)

In einer klirrendkalten Nacht vor Weihnachten

„Oma, wie ging es weiter, habt ihr das Goldstück von deinem Vater gefunden?“ „Oh nein, mein Junge. Wir haben es aber versucht. Den ganzen Garten metertief umgegraben. Nirgends war es, weit und breit.“ „Dann wart ihr also arm geblieben, ja? Trotz der Weinfabrik, die dein Papa früher besessen hat?“ „Alle waren arm zu dieser Zeit, alle mussten ihre Pferde, Kühe und sogar Gartengeräte an die Kolchose abgeben. Es hieß dann: alles gehört allen.“ „Aber das ist doch schön! Dann wurden alle Menschen gleich … fast so wie im Paradies.“ „Ach was, Kind. Nur auf dem Papier war alles schön und gut. Die Partei … was die uns nicht alles versprochen haben. In Wirklichkeit was das eine riesengroße Katastrophe. Die Menschen haben deshalb nicht genug zu essen gehabt, viele sind an Hunger gestorben. In der deutschen Wolgarepublik sogar Tausende.“ Oma Frieda rieb sich mit Spiritus ihre narbenübersäten Beine ein und stöhnte bei jeder Bewegung. Den Geruch mochte Robert nicht leiden. Da er aber das Zimmer beinahe von Geburt an mit seiner „Omama“ teilte, konnte er dem nicht entkommen. Er drückte sich oft die Nasenlöcher zu oder verkroch sich ins Dunkle unter der Bettdecke, aber natürlich nur dann, wenn Oma gerade nicht von früher erzählte. Manchmal stelle er sich mitten in der Nacht schlafend, wenn sie dem Druck ihrer altersbedingt schwachen Blase nachgeben musste, den Nachttopf unter ihrem quietschenden, metallischen Bettgestell hervorholte und ungeniert reinmachte. In der Annahme, dass ihr Enkelsohn tief in Schlaf versunken von irgendwelchen Gestalten aus dem Brüder-Grimm-Märchenbuch träumte, das er so oft mit sich herumschleppte. Auch das Klappern des Deckels, der scharf-säuerliche Geruch des Urins und das schabende Geräusch des Metalls auf dem alten Holzboden sollten ihm ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Genauso wie all ihre seltsamen, ganz und gar nicht in die Zeit passenden Geschichten. Geschichten, die von Dingen handelten, über die niemand, weder in der Schule noch unter Freunden, sprach. „Oma, und nach Opa habt ihr nicht mehr gesucht? Ich meine, nach seinem Grab?“ „Nein, Kind. Die Stadt Tawda ist ja im sibirischen Hinterland. Da fährt man tagelang mit dem Zug hin.“ „Dort ist er gestorben. Ja?“ „Ja. Dort war Opa in der Trudarmee und musste sehr schwere Arbeit leisten. Und du weiß ja, ich bekomme nur drei Rubel im Monat an Rente. Meine letzte Reise liegt schon zwanzig Jahre zurück, als wir von dem Verbannungsort in Nordkasachstan nach Kirgisien gezogen sind.“ „Und nach Elisabethtal, nach Hause … Warum konntet ihr noch mal nicht zurück? Der Krieg, der war doch schon längst zu Ende.“ „Ach …“ Oma Frieda seufzte tief. „Wenn ich das nur wüsste ...“ Sie stellte die Schnapsflasche zurück in den Nachtschrank, manövrierte ihre Beine keuchend ins Bett und rollte die Decke darüber. „Der Kommandant hat uns gesagt, ihr seid frei, aber in eure Heimatorte und Häuser dürft ihr nicht mehr zurückkehren. Ihr seid Feinde des Volkes. Für immer und ewig! So war das damals. Was hätten wir schon machen können?“ Sie schwieg und atmete schwer. Im Heizkörper gluckerte das Wasser und sorgte für die wohlige Wärme im Haus. Robert hatte das Gefühl, er verstünde nur die Hälfte von dem, was Großmutter sagte. Er ging bereits in die fünfte Klasse und galt als ein vorbildlicher Schüler. Als vor zwei Jahren die Schulleiterin angesagte hatte, dass dem leninschen Pionierverband als Erstes nur drei Kinder je Klasse beitreten dürfen, und zwar die besten, fiel die Wahl auch auf ihn. Natürlich trug er erhobenen Hauptes das rotleuchtende Pionierhalstuch und vernahm mit Genugtuung die neidvollen Seitenblicke seiner Schulkameraden. Manche nahmen es ihm übel und hetzten sogar gegen ihn. „Du Streber …“, riefen sie ihm nach. Doch als guter Pionier nahm er dieses Opfer gern in Kauf, denn von Soja Nikolajewna, seiner Lehrerin, wusste er, Pioniere hatten mutig und immerzu zum Kampf bereit zu sein. Für Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden … Genauso wie der glorreiche Lenin es war. Immer bereit! Robert kam es zuweilen vor, als lebte er in zwei Welten. Er wagte nicht, weder den von Soja Nikolajewna eingestimmten Lobgesang auf Lenin und die Partei in Zweifel zu ziehen noch hatte er einen Grund, die Erzählungen seiner Großmutter über das Leid, die Hetze und die Vertreibungen als pure Fantasie oder gar als Hirngespinst abzutun. Jahrelang hatten die Sowjetdeutschen grundlos Erniedrigungen über sich ergehen lassen müssen. Doch wie sollte Robert diese Widersprüche unter einen Hut bringen? Heute war die Partei die beste auf der Welt, setzte sich für das Wohl der Armen ein, und erst vor zwei, drei Jahrzehnten soll sie seiner Familie, den Eltern, Großeltern, allen Tanten, Onkeln so etwas Unrechtes angetan haben? Er kannte niemanden aus seiner Verwandtschaft, der oder die nicht nach Kasachstan oder Sibirien deportiert worden war. Fast alle kamen damals in Arbeitslager, genauso wie seine beiden Großväter.
„Erzähl das bloß nicht in der Schule, Kind! Das beschert dir nur Ärger …“, hörte er halb in Schlaf versunken Omas Warnung. ,W… warum?‘ wollte er noch fragten, aber da überwältige ihn schon die Müdigkeit. Doch am Abend darauf wiederholte seine Großmutter noch einmal ihre Warnung. Zwiegespalten zu sein und eine Maske zu tragen, lernte Robert sehr früh. Er verfeinerte diese Kunst bis zur Perfektion. Sobald er nachmittags die Schule verließ, legte er den Schalter um und lenkte sich ab, um die innere Zerrissenheit zu verdrängen. Hobbys wie Fotografie, Lesen, Musik oder das stundenlange Beobachten von kunstvollen Flugbahnen, die seine Tauben am azurblauen, sonnengefluteten Himmel hinlegten, halfen ihm eine Zeit lang dabei. Diese Beschäftigungen wurden allmählich zu seinen über alles geliebten Fluchtinseln. Die Taubenzucht sogar zur Passion. Bald begann er den Unterricht zu schwänzen. Soja Nikolajewna hakte nach: „Was ist los mit dir, Junge? Was ist nur aus dem guten Pionier Robert geworden? Statt Einser bekommst du nun plötzlich eine Fünf in Mathe …“ Mit zunehmendem Alter gelang es Robert immer weniger, seiner Umgebung etwas vorzumachen. Er wuchs aus den einst haargenau passenden Gesichtsmasken heraus. Das politische Tauwetter der Achtziger kam ihm gelegen. Es war seine Rettung.

2010, Düsseldorf

An einem schwülwarmen Abend im Juni

Robert saß wie gebannt vor seinem Rechner. Immer und immer wieder spielte er das Video ab, das inzwischen über 10.000 Klicks angesammelt hat. Das nur fünf Tage, nachdem es hochgeladen wurde. Den Link dazu hat ihm seine vierzehnjährige Tochter Lea geschickt, mit einem flapsigen Kommentar versehen, gefolgt von einem emoji, das ein mit zwei Händen bedecktes Gesicht darstellte: „Stimmt das, dass Russlanddeutsche bei der Waffen-SS waren? … hat uns Fr. Vogelsang in der Schule auch erzählt …“ Auf dem Video sah er einen gebrechlichen Mann, der eine Art Protestrede auf dem Platz vor dem Landtag zu halten versuchte, umringt von ein paar Mitstreitern, die verschüchtert selbstgemalte Plakate gen Himmel streckten. „Russlanddeutsche sind keine Faschisten!“ – stand auf dem einen gut lesbar. Die mit Dialekt angereicherte Ansprache des Greises, seine zitternde Stimme, war hingegen nur phrasenweise zu verstehen. Die „Gegendemo“ bestand aus ein paar dunkel gekleideten jungen Gestalten, die unüberhörbar laut skandierten: „Nazis, raus! Nazis, raus ...!“
Die Szene erschien Robert dermaßen skurril, als wäre sie in den 40er- oder 50er-Jahren irgendwo tief in Russland gedreht worden. ,Was ist da eigentlich los? Spinnen die alle?‘, fragte er sich. Nachdem er sich das Video mehrfach angesehen, mit Lea gesprochen und einen Blick in ihr Geschichtsbuch geworfen hatte, konnte er die Ereignisse vor dem Landtag endlich einordnen. Die Menschen protestierten gegen das Buch, das an deutschen Schulen im Unterricht im Einsatz war. Darin fand er eine kurze Passage über Russlanddeutsche, speziell über Bessarabiendeutsche, von denen viele während des Zweiten Weltkrieges bei der Waffen-SS gedient haben sollten. So ein Buch würde sicher keine Lügen verbreiten, dachte sich Robert. Dass viele Russlanddeutsche in den von NS-Truppen besetzten Gebieten der Sowjetunion von der Wehrmacht zwangsrekrutiert worden waren, war kein Geheimnis. Niemand in seiner Umgebung leugnete das. Doch wieso, überlegte er, räumen die Verfasser in diesem Schulbuch dem überschaubaren Haufen von NS-Verbrechern so viel Platz ein? Fertigen aber die kriegsbedingte Vertreibung von mehr als 900.000 Sowjetdeutschen und die damit verbundenen, opferreichen Folgen in nur zwei Sätzen ab? Verlieren kein Wort über die Deportation und die abertausenden Toten durch die Zwangsarbeit. Warum nur…? Er fühlte sich plötzlich in die Kindheit versetzt, klein und verwirrt, wie damals, als seine Lehrerin, Soja Nikolajewna, tagtäglich Wundermärchen von der unbesiegbaren Roten Armee und der besten Partei der Welt erzählte.