Katharina Heinrich und Dr. Dmytro Myeshkov: Russlanddeutsche Geschichte im öffentlichen Bewusstsein
Was muss in Deutschland bekannt sein, um die Geschichte der Russlanddeutschen zu verstehen? Wer ist berechtigt, die Geschichte dieser Gruppe weiterzutragen? Wo wird russlanddeutsche Kultur und Geschichte in Deutschland und den Herkunftsländern der Russlanddeutschen wie die Ukraine, Kasachstan oder Russland sichtbar?
Im Podcast-Gespräch mit der russlanddeutschen Journalistin Katharina Heinrich und dem Historiker Dr. Dmytro Myeshkov vom Nord-Ost-Institut in Lüneburg gehen die Herausgeber*innen des Steppenkinder-Podcasts Ira Peter und Edwin Warkentin diesen Fragen nach. Heinrich bringt ihre persönlichen Erfahrungen als Kind deportierter Deutscher in Kirgistan ein, während Myeshkov einen Überblick über den internationalen Forschungsstand und die Zukunft des Themas Russlanddeutsche in der Geschichtsschreibung gibt.
Diese Folge entstand in Kooperation mit www.dekoder.org und ist auch hier zu finden: nemcy.dekoder.org
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Edwin: Ira, du warst die letzten zwei Wochen in Odessa, wie hast du dich dort vorgestellt?
Ira: Ich bin derzeit Stadtschreiberin in Odessa und habe wegen Interviews viel Kontakt mit Einheimischen. Ich stelle mich dann immer als Deutsche aus Kasachstan vor, die in Deutschland lebt, aber deren Großeltern in der Ukraine gelebt hatten. Ansonsten ist es mit den Begriffen ein bisschen schwierig, weil wir in Deutschland oft Russlanddeutsche oder Deutsche aus Russland sagen, auch wenn wir eigentlich aus der Sowjetrepublik Kasachstan stammen – so wie du und ich. Und wenn man das Ganze aber ins Russische nimmt, also rossijskij-nemcy, dann ist das in der Ukraine ein bisschen schwierig. Die können oft mit dem Begriff nicht so viel anfangen, weil sie dann an das Land Russland denken und das nicht als Sammelbegriff wahrnehmen, wie er hier in Deutschland verwendet wird.
Edwin: Das betrifft nicht nur die Ukraine, sondern auch alle anderen postsowjetischen Staaten, die ihre Beziehung zu ihren Deutschen nach dem Zerfall der Sowjetunion neu austarieren und sie als Teil ihrer Gesellschaften sehen. Das Gleiche betrifft auch die Deutschen in Kasachstan. Dort ist es auch nicht so einfach von Russlanddeutschen zu sprechen.
Ira: Diese Begriffe – Russlanddeutsche, Deutsche aus Russland und so weiter – wie sie hier bei uns und in den Herkunftsländern gebraucht werden, darüber möchten wir heute sprechen.
Edwin: Außerdem möchten wir allgemein über historische Themen in Bezug auf die Russlanddeutschen sprechen, über aktuelle Debatten und Entwicklungen in diesem Bereich. Dafür haben wir zwei Gäste eingeladen. Unsere zwei Gäste sind Katharina Heinrich und Dr. Dmytro Myeshkov. Er ist Historiker, stammt aus der Ukraine und wurde 2005 zum Thema „Die Schwarzmeerdeutschen und ihre Welten 1781-1871“ an der Universität Düsseldorf promoviert. Seit 2017 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nordost-Institut und forscht dort zur Geschichte der Deutschen im Russischen Reich und in der Sowjetunion mit dem Schwerpunkt Ukraine. In seinen laufenden Forschungsprojekten beschäftigt er sich mit den Ukrainedeutschen im Zweiten Weltkrieg.
Ira: Katharina Heinrich ist ausgebildete Journalistin und beschäftigt sich mit Osteuropas Medien und Politik. Katharinas Eltern stammen aus Sibirien, sie kam 1979 im Kindesalter nach Deutschland. Sie ist politisch engagiert und setzt sich unter anderem als Beiratsmitglied im Lew-Kopelew-Forum für historische und politische Aufarbeitung des Stalinismus ein. Katharina, du bist in der russlanddeutschen Community immer wieder sichtbar und bringst dich in öffentliche politische Debatten ein. Wie bezeichnest du dich im Sinne deiner Herkunft selbst und warum?
Katharina Heinrich: Ich bin Rheinländerin und lebe seit über 40 Jahren hier. Wenn ich den Rhein, die Mosel sehe und die Weinberge, geht mein Herz auf. Ich sage aber auch, dass ich wolgadeutsche Wurzeln habe. Meine Eltern sind zwar in Sibirien aufgewachsen, aber sie stammen von der Wolga. Und dann habe ich noch einen Exotenstatus: Ich komme aus Kirgistan an der Grenze zu China und da mein Herz so groß ist, geht mein Herz auch auf, wenn ich schneebedeckte Gipfel wie in Kirgistan sehe. Irgendwo die Sechstausender und oben das Eis und dann weiß ich, das ist für mich auch ein Stück Heimat. Ich glaube, ich suche mir das dann immer passend aus.
Ira: Innerhalb der russlanddeutschen Community gibt es auch immer einen Disput darüber, wie man sich selbst bezeichnet. Also: Russlanddeutsche, Deutsche aus Russland, Deutsche aus der Sowjetunion und so weiter. Wie beurteilst du das und wie wichtig ist es, das richtige Wording zu wählen, auch in den Medien?
Katharina Heinrich: Ich weiß gar nicht, ob es da so ein richtiges Wording gibt. Ich benutze alle möglichen Begriffe. Wenn man im Russischen spricht, dann heißt das rossijskie nemcy oder russkie nemcy. Also, das rossijskie entspräche ungefähr den Deutschen aus Russland. Russkie nemcy wäre so etwas wie Russlanddeutsche. Ich glaube, es gibt Leute, die sagen, wir sind nicht Russlanddeutsche. Wir sind deutsch und dieser russische Teil ist nicht so groß bei uns. Dann gibt es Menschen, die sagen: Wie können die sich Russlanddeutsche nennen, die kommen doch aus Kasachstan? Das ist immer ein guter Einstieg in eine Diskussion. Dann sage ich: Das ist ein historischer Begriff aus dem Russischen Reich. Dazu gehören zum Beispiel auch Wolhyniendeutsche, heute wären das Ukrainedeutsche. Dann gibt es die Kasachstandeutschen, die Kirgistandeutschen. Aber ursprünglich sind die alle ins Russische Reich eingewandert. Um einen Sammelbegriff zu haben, sagt man Deutsche aus Russland. Ich benutze beide Begriffe, wobei Russlanddeutsche für mich einfach griffiger ist. Aber ich finde, dass man alles benutzen kann. Sowjetdeutsche benutze ich nur, wenn ich wirklich über die Zeit spreche, die in der Sowjetunion spielt.
Edwin: Wie ist es mit Deutschrussen?
Katharina Heinrich: Das geht gar nicht. Wir kommen aus einem Land, in dem es sehr viele Volksgruppen gab. Wenn jemand sagt Deutschkasachen, dann muss ich ja auch kasachische Wurzeln haben, die habe ich ja nicht. Ich glaube die einheimischen Deutschen machen das, weil für die ganz klar ist: Der kommt aus dem Land Kasachstan, dann ist das so. Aber ich finde das ist ein ganz schlechter Begriff, der eigentlich nichts beschreibt.
Ira: Jetzt lebst du schon seit über vierzig Jahren in Deutschland. Wie ist es denn in deiner Erfahrung als Journalistin aber auch als Privatperson: Musst du den Begriff, sei es jetzt Russlanddeutsche oder Deutsche aus Russland, noch erklären, oder wissen die meisten über die Geschichte dieser Gruppe in Deutschland Bescheid?
Katharina Heinrich: Wenn sie was wissen, dann eher rudimentär und meistens steigen wir in Gespräche ein über Vorurteile. Da gibt es drei, die ich am meisten höre. Das eine ist die Geschichte mit dem Schäferhund, die höre ich quer durch die Gesellschaftsschichten. Angefangen bei rechts außen, in der Mitte der Gesellschaft und auch links außen. Dann muss ich immer sagen, nein ich bin nicht in Deutschland wegen des deutschen Schäferhundes. Ich muss dann erstmal erklären, dass wir ein Kriegsfolgenschicksal haben, das in Deutschland anerkannt worden ist. Wir sind aus Wiedergutsmachungsgründen hier. Wir sind auch dankbar dafür, aber wir sind hier nicht wegen eines Schäferhundes. Dann gibt es ein Vorurteil: Die sind deutsch, aber können kein Deutsch. Stimmt, viele können es vielleicht nicht oder können kein modernes Deutsch. Meine Großeltern sprachen einen wolgadeutschen Dialekt. Was man an Kultur und Tradition retten konnten, hatte man mitgebracht. Die dritte Geschichte, die mir immer wieder begegnet ist, neben dieser vermaledeiten Geschichte mit der AfD: die wären so nationalistisch. Dann muss ich auch immer sagen, nicht mehr und nicht weniger als ihr einheimischen Deutschen auch.
Edwin: Dmytro, in einem der Beiträge zum Russlanddeutschen Diarama erklärt dein Kollege Viktor Dönninghaus die Hintergründe des Begriffs Russlanddeutsche. Kannst du uns die zentralen Thesen darstellen und kannst du uns einen Überblick über die Entstehung des Begriffes und die Weiterentwicklung geben?
Dmytro Myeshkov: Unter Russlanddeutsche versteht man hauptsächlich Nachkommen der bäuerlichen Auswanderer aus den deutschen Kleinstaaten, die Ende des 18. und im 19. Jahrhundert nach Russland gekommen sind und sich in den damals überwiegend noch dünn besiedelten Randgebieten des Zarenreichs, an der unteren Wolga und im nördlichen Schwarzmeergebiet, niederließen. Umgangssprachlich ist das der am meisten verwendete Begriff. Doch würde man diese damals noch ziemlich übersichtliche Gruppe von Ansiedlern aufmerksamer betrachten, würde man schnell merken, dass diese weit gefasste Beschreibung nicht immer zutrifft. Genau das hat mein Kollege Viktor Dönnighaus vom Nord-Ost-Institut versucht in seiner populärwissenschaftlichen Übersicht für das Russlanddeutsche Diarama deutlich zu machen.
Ursprünglich handelt es sich bei diesen Einwanderern aus deutschen Kleinstaaten ins Russische Reich um sozial, sprachlich und konfessionell ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen, die oft zu ganz unterschiedlichen Zeiten ins Zarenreich gekommen waren, räumlich oft sehr weit voneinander lebten und lange Zeit nach ihrer Ansiedlung kaum etwas Gemeinsames hatten. Erst im späten 19. Jahrhundert, das heißt, erst hundert Jahre nach der ersten Masseneinwanderung, fanden Schritt für Schritt einzelne Gruppen zueinander und so begann langsam, nicht zuletzt durch die Zuschreibungen von außen, eine Art kollektive Identität zu entstehen. Der Begriff Russlanddeutsche wird umgangssprachlich und in der Wissenschaft verwendet. Dort wird er immer mehr mit Kritik betrachtet, weil zum einen Begriffe wie Volksgruppe etwas belastet sind. Zum anderen beschreibt der Begriff nur oberflächlich und sehr allgemein diese Gruppe.
Wenn man sich wissenschaftlich mit dieser Gruppe auseinandersetzt, dann stößt man sehr schnell an die Grenzen dieses Begriffs. In letzter Zeit wird immer deutlicher, dass man das nur aus pragmatischen Gründen im wissenschaftlichen Diskurs verwendet, um schnell deutlich zu machen, worum es geht. Aber wenn man ein differenziertes Bild machen möchte, dann bedarf es anderer Bezeichnungen wie Ukrainedeutsche oder Deutsche aus der Sowjetunion oder aus den postsowjetischen Staaten, damit man sie dann richtig räumlich und zeitlich einordnen kann.
Edwin: Um es zusammenzufassen: Der Begriff Russlanddeutsche umfasst eine sehr vielfältige Gruppe und das Russland in diesem Begriff bezieht sich auf das Russische Reich und nicht auf die heutige Russische Föderation. Inwiefern waren denn die Russlanddeutschen zarentreu?
Dmytro Myeshkov: Die waren insofern treu, als ihre Einladung von den Zaren erfolgte, ihnen Privilegien gewährt wurden und viele Kolonisten diese Privilegien fast hundert Jahre lang genossen. Sie betrachteten ihre Ansiedlung und Zuteilung von Ländereien eigentlich als eine Art Deal mit der Monarchie. Und es wird immer wieder in den Archivdokumenten sichtbar, dass sie versucht haben, wenn es um existentielle Fragen ging, einen direkten Kontakt zu dem Zaren zu suchen.
Ira: Meine Großeltern haben bis 1936 in einer deutschen Kolonie in Wolhynien, in der Westukraine, gelebt. Wenn man sie vor der Deportation nach Kasachstan gefragt hätte: Wer seid ihr? Was hätten sie gesagt?
Dmytro Myeshkov: Ich kann mir gut vorstellen, dass viele vielleicht gesagt hätten: Wir sind tutejschij, wir sind von hier. Man hätte dann vielleicht auch Kolonienamen hinzugefügt, aus Pulin oder Josefovka. Dann hätte man vielleicht auch die konfessionelle Zugehörigkeit kundgetan. Es gab und es gibt viele Möglichkeiten, sich selbst zu identifizieren und zu beschreiben. Auf keinen Fall hätten sie dann gesagt, wir sind Russlanddeutsche oder Deutsche aus Russland oder aus dem Russländischen Reich oder dem Zarenreich. Der Horizont war zu eng dafür, um sich so beschreiben zu können.
Edwin: War der juristische Status als Kolonist identitätsstiftend?
Dmytro Myeshkov: Ja, aber nicht für die Wolhyniendeutschen, die in ihrer Mehrheit diesen Kolonistenstatus nicht bekommen haben und mehr sogar: Ende der 19. Jahrhunderts, also kurz nach ihrer Massenansiedlung – das waren ja eigentlich Pächter, die aus polnischen Gebieten kamen und billigere Ländereien hier in Wolhynien gepachtet haben – haben sie in diesen Grenzgebieten die ersten Einschränkungsmaßnahmen gegen die deutsche Gefahr erfahren. Sie hätten sich nicht auf den Kolonistenstatus und Privilegien beziehen können. Obwohl es in anderen Gebieten, zum Beispiel im Schwarzmeergebiet, mit Sicherheit so gewesen wäre. Dort war der Kolonistenstatus ein starker Bezugspunkt und ein Identifizierungsmerkmal.
Edwin: Wir haben also am Anfang und in der heutigen Zeit zwei juristisch Status, über die sich diese Menschen identifizieren. Am Anfang Kolonisten und jetzt als Aussiedler. Dmytro, was und wie wird heute über Russlanddeutsche in der heutigen Ukraine, Russland oder in Kasachstan erzählt und an welchen Orten findet das statt? Spielt es eine Rolle im Schulunterricht oder in der Landeskunde? Wie spricht man über die Deutschen, die da mal gelebt haben oder jetzt vielleicht noch leben?
Dmytro Myeshkov: Die Erzählung und die Forschung zur russlanddeutschen Geschichte hatten in der Ukraine und in der Russländischen Föderation, wie auch in anderen postsowjetischen Staaten, viel Gemeinsames. Besonders in den spätsowjetischen Zeiten, aber auch nach der Wende. In den 1990er Jahren und in den frühen 2000er. Das hat damit zu tun, dass damals die Entdeckung dieses früher tabuisierten Themas, in enger Zusammenarbeit erfolgte. Man hatte gemeinsame Forschungsprojekte durchgeführt, man inventarisierte Archivbestände, es entstanden neue Museen, in alten Museen wurden Ausstellungen durchgeführt. Die Arbeit hatte starke Auswirkung und wirkt immer noch nach. Doch nach und nach drifteten diese Forschungstraditionen auseinander. In Russland hat die Entwicklung eine andere Richtung genommen. Dort haben nicht alle Bürgerinitiativen überlebt und die, die das getan haben, wurden bestraft und dann staatlich organisiert.
In der Ukraine sehe ich es ein bisschen anders. Es gibt den Rat der Deutschen der Ukraine, der Kulturarbeit betreibt und sehr sympathische Projekte verwirklicht. Diese Unterschiede sind nicht nur durch die Unterschiede in der staatlichen Politik zu erklären, sondern auch durch die Besonderheiten der Geschichte der Ukrainedeutschen. Denn man darf nicht vergessen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine nichts von den deutschen Siedlungsgebieten übriggeblieben ist. Die wenigen Tausend, die dort durch das ganze Land zerstreut bleiben konnten, lebten nach meinen Einschätzungen zu 80 bis 90 Prozent in gemischten, ukrainisch-deutschen Familien. Unter diesen Umständen wurde das Tradieren von Erinnerungen, von Traditionen von einer Generation zu der anderen noch mehr erschwert, als es dann in Deportationsgebieten der Fall gewesen sein durfte. Diese Unterschiede wirken nach und beeinflussen auch die Erinnerungsarbeit. Es gibt nur wenige Menschen, die nicht ausgewandert sind und die sich an irgendwas erinnern können. Zunehmend sehe ich in den ehemaligen Zentren des deutschen Lebens, wie in Odessa, interessante Projekte, die mit Erinnerungspolitik zu tun haben.
Ira: Es gibt verschiedene Beispiele dafür, dass die deutsche Geschichte in der Ukraine sichtbar gemacht wird. Gibt es da geographisch betrachtet Zentren, wo du das mehr wahrnimmst?
Dmytro Myeshkov: Forschungszentrum bleibt neben Kyiv meine Heimatstadt, Dnipropetrowsk, jetzt Dnipro. Dort werden an der Universität seit gut zwanzig Jahren die deutsch-ukrainischen Beziehungen sowie die Geschichte der Deutschen in der Ukraine erforscht. Ich würde sagen, jedes von den großen Museen in Dnipropetrowsk, Odessa, Cherson oder auch auf der Krim hat eine eigene Ausstellung oder eine eigene Sammlung zur deutschen und anderen ethnischen Minderheiten. Es ist immer noch von Wolhyniendeutschen die Rede, von Bessarabiendeutschen, Deutschen in Nordbukowina oder in den südlichen Steppengebieten der Ukraine.
Edwin: Es gibt einen gewissen Unterschied zwischen der Präsentation dieses Kulturerbes in den Herkunftsgebieten und in Deutschland. Das Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold präsentiert zum Beispiel die Wandergeschichte dieser Gruppe. In den früheren Siedlungsgebieten ist das ein Teil der Landeskunde. Wenn man zum Beispiel in Saratow in dem Gebietsmuseum ist, dann ist das eine Abteilung genauso wie eine Abteilung, die zum Beispiel die Russen, Ukrainer oder Kasachen darstellt.
Ira: Meine Eindrücke in Odessa sind so, dass die ethnische deutsche Community recht aktiv ist, gerade vertreten durch den Rat der Deutschen der Ukraine. Sie geben beispielsweise Bücher heraus wie einen Stadtführer zu Odessa auf Deutsch und Russisch, in dem bestimmte Orte in der Stadt, bestimmte Gebäude, die eine deutsche Geschichte innehaben, vorgestellt werden. Es gibt auch einige Dörfer, wo nicht nur ethnische Deutsche sich dafür engagieren, dass die Geschichte der Deutschen in der Region sichtbar wird. Ein Beispiel findet sich in Tarutyne in Bessarabien. Dort hat eine Frau eine Initiative gestartet und hat aus einem ehemaligen deutschen Kolonistenhaus ein Hotel gemacht im Stil der damaligen Siedler.
Katharina, wie schreibt sich die Geschichte der Russlanddeutschen aus deiner Perspektive in die gesamtdeutsche Geschichte ein? Wo wird sie sichtbar und wie bewertest du die Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten?
Katharina Heinrich: Ich finde, dass die tatsächlich sehr sichtbar ist. Ich wundere mich aber, dass sie außer mir und anderen Deutschen aus Russland keiner sehen kann oder mag. Man tut so, als wären die Deutschen aus Russland irgendwann ausgewandert – 1763 – und dann nach 250 Jahren auf einmal zurückgekommen. Dem ist aber doch gar nicht so. Wenn man die Geschichte betrachtet, dann sieht man, dass es immer sehr enge Verbindungen zwischen den Kolonien und der alten Heimat gegeben hat. Es war immer ein Geben und Nehmen, immer eine ganz, ganz enge Verbindung. Diese Verbindung bekam immer dann Risse, wenn Russland und Deutschland oder das Russische Reich und das Deutsche Reich im Krieg miteinander waren. Dann waren die Russlanddeutschen die Leidtragenden, die Schuld an der Situation hatten.
Im Ersten Weltkrieg kämpften in der Zarenarmee 3.000 Russlanddeutsche. Und als dann Russland Verluste erlitt an der Front, hieß es, die Russlanddeutschen in der Armee hätten aus Vaterlandsliebe zum Deutschen Reich die Niederlage herbeigeführt. Man hatte sich also keine Gedanken darüber gemacht, warum man nicht gut auf diesen Krieg vorbereitet war, sondern waren die Deutschen schuld. Die Folge war dann die Verbannung der Wolhyniendeutschen, Verbot der deutschen Sprache, der deutschen Bücher, der deutschen Zeitungen. Es gab sogenannte Liquidationsgesetze. Und zwar sollten als „Rückeroberung“ des russischen Bodens alle Russlanddeutschen aus dem europäischen Teil verbannt werden. Das hat dann nochmal „super“ funktioniert in der Sowjetzeit, nämlich 1941, als dann die Republik der Wolgadeutschen aufgelöst wurde. Bis in die 1990er Jahre, bis nach der Perestrojka, war es den Russlanddeutschen nicht möglich in ihrer alten Heimatgebiete zurückzukehren, sie konnten sich auch nicht im europäischen Teil ansiedeln. Das heißt, es war vollkommen egal, ob man Kommunist war oder nicht, ob man für oder gegen die Revolution war und für den sowjetischen Staat. Wenn es hart auf hart kam, war man Deutscher, der innere Feind und musste dafür büßen. Und so geschah es dann auch 1941, als nach dem Angriff Nazi-Deutschlands alle nach Sibirien und Kasachstan deportiert und auf ewig verbannt worden sind. Du musstest für etwas büßen, wofür du überhaupt nichts konntest.
Edwin: Im August dieses Jahres jährt sich zum 80. Mal die Deportation der Russlanddeutschen und der Beginn des sogenannten Kriegsfolgenschicksals. Dmytro, was wird darunter verstanden?
Dmytro Myeshkov: Unter dem Kriegsfolgenschicksal versteht die bundesdeutsche Gesetzgebung eine Politik von einigen osteuropäischen Staaten, die als Folge des von NS-Deutschland begonnen Kriegs zu massiven rechtlichen Diskriminierungen der deutschen Minderheiten, wie zum Beispiel Deportation und Zwangsarbeit geführt hatte. Als Nachfolgerin der Dritten Reiches übernahm die Bundesrepublik damit die Verantwortung für diesen Vernichtungskrieg, indem sie den betroffenen Menschen deutscher Herkunft die Möglichkeit für die Übersiedlung eingeräumt hatte.
Seit Beginn des Jahres 1993, anders als es bei den Spätaussiedlern aus Rumänien und Polen der Fall gewesen ist, sah das neue Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vor, dass die Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion diese Diskriminierungen nicht individuell nachweisen mussten. Denn bei dieser Gruppe ging man von einem besonderen Schicksal aus. Für uns stellt sich hinsichtlich dieses Begriffs die Frage, welche erinnerungspolitischen Auswirkungen diese Rechtsnormen und Praktiken in Zusammenhang mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz auf die Spätaussiedler aus dem postsowjetischen Raum hatten. Sicherlich spielte eine solche Betrachtung von Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion eine wichtige identitätsstiftende Rolle, denn sie trug eine legitimierende Bedeutung für diese neue Gemeinschaft, die hier auf dem Bundesgebiet noch entstehen musste. Sie konnte bei vielen auch dazu führen, dass die Leiderfahrungen noch mehr in den Vordergrund gerückt und als ein unabdingbares Merkmal betrachten wurden. Und das sowohl in eigener Selbstbeschreibung als auch in der Wahrnehmung der Mehrheitsbevölkerung.
Ira: Katharina, was wurde über die Deportation innerhalb deiner Familie erzählt?
Katharina Heinrich: Ich finde, dass die Geschichte meiner Familie typisch ist für alle anderen russlanddeutschen Familien. Unsre Verbannung, Arbeitslager, Entrechtung, keine Möglichkeit zu haben in den europäischen Teil zu gehen, zumindest für die Generation meiner Eltern, auch nicht die Möglichkeit zu studieren – sogar für die Generation derer, die nach 1950 geboren worden sind – sind nichts Besonderes. In der Sowjetunion wurde darüber nicht gesprochen. Und wenn, dann nur unter Ausschluss der Kinder. Meine Mutter sagte mir, sie haben das aus Schutz gemacht. Man wusste nicht, wie lange man noch in der Sowjetunion bleiben würde. Wir haben über die Erlebnisse erst gesprochen, als wir 1979 nach Deutschland gekommen sind und ich dann auch meine Eltern und meine Großeltern gefragt habe. Ich spreche heute noch mit meiner Mutter darüber. Das sind traumatische Erfahrungen.
Meine Mutter besitzt ein einziges Foto aus ihrer Kinderzeit und das zeigt sie im Alter von elf Jahren. Auf diesem Foto sitzt meine Großmutter mit ihren fünf Kindern, der Mann ist im Arbeitslager, die Kinder sind in Lumpen gehüllt, meine Mutter steht barfuß da, ihre Zwillingsschwestern haben Löcher in den Strümpfen, meine Großmutter hat diese kirzovye sapogi, diese schweren Stiefel, die man für die Arbeit gebraucht hat und die älteren Geschwister haben diese wattierten Jacken an. Wenn ich dann Fotos sehe noch nicht mal von einheimischen Deutschen, sondern von Menschen, die zu der Zeit in Moskau gelebt haben oder in anderen großen Städten, dann sehe ich, dass die ganz anders angezogen sind. Ich weiß sehr wohl, dass in Russland sehr viele Menschen gelitten haben nach dem Zweiten Weltkrieg und sehr viele Menschen nichts zu essen hatten. Aber wenn ich diese Fotos vor mir sehe, dann wird mir so richtig klar, in was für einem Elend meine Familie gelebt hat, und dass dieses Elend auch nicht wirklich aufgehört hat.
Es wurde in den 1960er, 1970er Jahren finanziell besser, das ist gar nicht die Frage, aber es war immer so, dass man sich dann dafür rechtfertigen musste, dass man deutsch aber kein Nazi war. Wenn wir in der Schule Texte gelesen haben, zum 9. Mai oder zu anderen Feiertagen, wenn es darum ging, wie die Sowjetunion die Faschisten besiegt hat, dann hieß es in den Texten immer, die Sowjetunion hat die Deutschen besiegt. Für mich als Kind war das immer schwierig, weil das ja nicht ich war. Wenn ich die Texte in der Klasse vorgelesen habe, dann habe ich das Wort Deutsche immer gegen das Wort Faschisten ausgetauscht. Und wenn wir dann diskutiert haben mit Kindern, dann habe ich immer gesagt: Marx und Engels sind ja Deutsche, die haben den Kommunismus gebracht, also was wollt ihr? Und der Lenin, der hat eine deutsche Mutter. Ich musste mich irgendwie rechtfertigen. Das fand ich schon sehr hart. Wenn ich mir meine Familie angucke und mich, dann hat diese Familiengeschichte uns zu Menschen gemacht, die immer Angst vor Behörden haben. Das ist das, was ich noch immer mitschleppe.
Edwin: Dmytro, wie bewusst ist heute das Repressionsschicksal der Deutschen und im Allgemeinen der Minderheiten während der Sowjetzeit in der Ukraine, der Russländischen Föderation oder auch in Kasachstan?
Dmytro Myeshkov: Das Thema Repressionen in der Stalinzeit ist in der Ukraine sehr präsent, weil neue Impulse von der Öffnung der Archive ausgingen. Die Öffnung von ehemaligen KGB-Archiven schafft ganz neue Voraussetzungen für die Forschungsarbeit und nicht nur dafür. Viele Bürger suchen nach Informationen über das Schicksal ihrer Familie. Das Dekommunisierungsgesetz ist eine der gelungensten Reformen, die nach der Euromaidan-Revolution konsequent durchgeführt wurden. Wir haben natürlich auch als Institut davon profitiert, indem wir eine sehr umfangreiche Sammlung von Dokumenten über die deutsche Operation veröffentlicht haben. Somit steht jetzt auch der deutschen Öffentlichkeit eine sehr große Sammlung an Originaldokumenten zu dieser Geschichte zur Verfügung. Das ist eine der Operationen des NKWD, die unter anderen nach ethnischen Kriterien durchgeführt wurde. In Russland sind heute Dokumente, die in den 1990er Jahren, Anfang der 2000er Jahre noch zugänglich waren, nicht mehr zugänglich.
Ira: Wir haben darüber gesprochen, dass das kollektive Erinnern an die Geschichte der Russlanddeutschen, vor allem auch an die Deportation der Russlanddeutschen, in den Herkunftsländern, teilweise herausfordernd ist. Dmytro, was macht das denn so schwierig?
Dmytro Myeshkov: Es wird erst dann schwierig, wenn man mit diesen Widersprüchen in den verbreiteten Vergangenheitsbildern konfrontiert wird. Man möchte das nicht wahrhaben, was nicht in den Kanon passt. Wenn man zum Beispiel auf unangenehme Geschichten aus der Kriegszeit hinweist, dass nicht alle Opfer gewesen sind, sondern es auch Täter gab unter den Deutschen, die während des Zweiten Weltkrieges unter Besatzung waren. Die Aufgabe eines Wissenschaftlers ist es, nicht nur das Leben zu erforschen, das wir sehen oder wahrnehmen können, sondern auch das, was wir nicht erfahren konnten. Ich habe mich schon mit Kollegen getroffen oder mit Vertretern der Interessengemeinschaft, die das einfach nicht glauben konnten und die einfach gesagt haben, das ist jetzt nicht wahr und auf etablierte Vergangenheitsbilder bestehen. Meine Beobachtung ist, dass es für viele Menschen, die sich nicht ernsthaft mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, einfacher ist, alles Widersprüchliche zur Lüge zu erklären.
Ira: Katharina, was weiß die russlanddeutsche Community selbst über die Deportationsgeschichte, gerade die jüngere Generation?
Katharina Heinrich: Ich glaube, dass man sich in der Sowjetunion kurz nach der Perestroika tatsächlich mit der Geschichte der Sowjetunion beschäftigt hat. Auch mit der Deportation der Russlanddeutschen und das dank Memorial und anderen Organisationen. Aber dann hat es auch nachgelassen. Das heißt, meine Generation, meine Klassenkameraden aus Kirgistan, die hatten in den 1990er Jahren gar kein Interesse. Die jüngere Generation der Russlanddeutschen interessiert sich aber dafür. Wahrscheinlich muss zwischen der Großeltern-, der Eltern-, der Kindergeneration immer eine Generation dazwischen sein, damit man sich dafür öffnet und damit man auch den Großeltern zuhört. Ich stelle fest, dass die 30-Jährigen heute ein großes Interesse an dem Thema haben, sehr viele auf sogenannter Wurzelsuche sind, Texte schreiben, recherchieren und das Dank des Internets auch machen können. Das finde ich toll, weil das in meiner Generation nicht so oft vorkommt.
Edwin: Ich begegne oft Russlanddeutschen, die Vorbehalte haben, sich damit auseinanderzusetzen, weil sie das Thema gleich als Opfernarrativ abtun. Aber es ist wichtig, zu verstehen, warum unsere Aussiedlung überhaupt stattgefunden hat, was die Gründe oder die juristische Grundlage waren. Ich denke, es ist auf jeden Fall sinnstiftend sich auch mal Gedanken darüber zu machen und sich zu informieren.
Katharina Heinrich: Ich finde, neben diesem Opfernarrativ gehört es dazu, dass man über den Tellerrand guckt und in der Lage ist, zu gucken, wie es den anderen ergangen ist. Ohne diese Empathie funktioniert das nicht.
Ira: Viele Russlanddeutsche fordern von den Medien, von der Öffentlichkeit in Deutschland, dass man sich für ihre Geschichte interessiert. Was müssten wir dafür tun, dass das passiert? Wie würdest du dieses Thema, also Russlanddeutsche oder auch ihre Deportationsgeschichte, als Journalistin in die Medien transportieren?
Katharina Heinrich: Ich glaube, man muss immer den Bogen schlagen. Entweder zu anderen Menschen, zu anderen Geschichten oder eben in die heutige Zeit. Ich habe mich vor kurzem mit einer Kollegin unterhalten, die einen ostdeutschen, älteren Mann kennengelernt hat, der wiederum die Geschichte seines besten Freundes, der Russlanddeutscher ist und der gestorben ist, aufschreiben möchte. Wir haben uns überlegt, wie man das denn erzählen kann. Und das ist die Geschichte. Ein ostdeutscher alter Mann lernt jemanden kennen und ist von dessen Geschichte so begeistert, dass er ihm auf dem Sterbebett verspricht: Ich werde deine Geschichte erzählen. Das ist genau das, wie man so etwas erzählen sollte.
Ich finde es für mich wichtig, dass die Gesellschaft meine Geschichte kennt, aber es ist genauso auch für die deutsche Gesellschaft sehr wichtig, dass sie die Geschichte kennt. Ich bin ein Teil dieser Gesellschaft, also muss die Gesellschaft auch wissen, was ist meine Geschichte, und zwar meine Geschichte als Russlanddeutsche aber auch die Geschichte der Gastarbeiterkinder, oder der Iraner, oder jetzt der Syrer. Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft. Es kann nicht sein, dass nur wir die Geschichte hier kennen, aber die unsere Geschichte nicht. Und was die Russlanddeutschen betrifft, da finde ich, dass die Gesellschaft wissen muss, was mir und meiner Familie passiert ist und warum ich hier bin. Die Gesellschaft übernimmt damit Verantwortung, der Staat hat diese Verantwortung schon übernommen, deswegen bin ich hier, aber die Gesellschaft muss das verstehen. Und wenn wir uns als einen Teil dieser Gesellschaft fühlen wollen – und wir fühlen uns so – und diese Gesellschaft das von uns auch erwartet, dann muss die uns etwas entgegenbringen. Und das Mindeste ist das Interesse.
Edwin: Wir sehen die Tendenz der letzten Jahre, dass es immer mehr Initiativen gibt. Es gibt immer mehr spannende Projekte, auch im Bereich der Wissenschaft. Also, zum Beispiel mit der Juniorprofessur in Osnabrück oder das Nord-Ost-Institut arbeitet ja auch so auf Hochtouren. Dmytro, welche Themen sind für die akademische Welt noch spannend in Hinsicht auf die Russlanddeutschen?
Dmytro Myeshkov: Ich glaube, die Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich der Forschungsarbeit zur Geschichte der Russlanddeutschen ist unter dem Zeichen der Verwissenschaftlichung und Weiterentwicklung von Forschungsansätzen gelaufen. Die Juniorprofessuren am IMIS war nicht die einzige, es gibt weitere. Dann gibt es noch zwei Konzeptpapiere – die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien ist für diesen Bereich zuständig – mit der wichtigen Idee, dass man die Geschichte der Russlanddeutschen nicht isoliert von den Siedlungsgebieten betrachten sollte, sondern in Zusammenhang mit den Nachbarn, historischen Kontexten und so weiter. Das eröffnet neue Perspektiven für die Forschung.
Zum Schluss wollte ich ein paar Themen nennen, die aus meiner Sicht in Zukunft von besonderem Interesse sein werden, und zwar postkolonialer oder kolonialer Diskurs und Kontext. Das ist, glaube ich, noch zu wenig beschrieben worden und wurde meistens ausgeklammert. Die Kolonisten an der Wolga und dem nördlichen Schwarzmeergebiet haben in dünnbesiedelten Gebieten ihre Dörfer gegründet. Dünnbesiedelt waren sie wohl, aber leer auf keinen Fall. Für viele bedeutete die Ankunft der Deutschen, dass man diese Ländereien räumen musste. Das sieht man in Dokumenten.
Viele Anzeichen sprechen dafür, dass diese Geschichte von den Deutschen selbst geschrieben wurde. Historiker russlanddeutscher Herkunft, von denen ich manche sehr gut kenne und deren Leistung ich sehr respektiere, besonders in den 1990er und 2000er Jahren, erheben jetzt Deutungsanspruch. Es wird immer wieder behauptet, dass die Geschichte der Russlanddeutschen von den russlanddeutschen Historikern geschrieben werden sollte. Und das muss ganz genau überprüft werden. Das ist schon als historische Problematik typisch nicht nur für die Russlanddeutschen, sondern auch für die Sudetendeutschen und die Bessarabiendeutschen. Da leiteten auch oft Historiker die Vereine und Landsmannschaften und schrieben dann ihre Geschichte. Man muss hier einfach gucken, was für eine Geschichte geschrieben wurde und warum sie so geschrieben wurde und nicht anders. Das ist das, was mich jetzt gespannt auf die nächsten Jahre macht.
Edwin: Ich glaube, die schrieben in einer Zeit, in der sich die Öffentlichkeit nicht dafür interessierte und sie waren durch ihr persönliches Interesse daran gebunden, das zu machen. Heute ist dieses Thema mehrheitsgesellschaftlicher geworden und auch ziemlich divers. Deswegen ist es gut, dass man sich aus verschiedenen Blickwinkeln diesem Thema nähert. Ich finde gerade den postkolonialen Diskurs sehr passend. Wenn man überlegt, wie Anfang des 20. Jahrhunderts die deutschen Kolonisten ihre Tochterkolonien im nördlichen Kasachstan gegründet haben, da wurden ja auch die kasachischen Nomaden in die mittleren sehr unfruchtbaren Regionen der Steppe vertrieben. Ich glaube, das könnte noch stärker untersucht werden.
Gerade in diesem Jahr ist das Thema Erinnerungskultur sehr aktuell. Im russlanddeutschen Kontext wegen dem 80. Jahrestag der Deportation der Russlanddeutschen. Die Erinnerungskultur wandelt sich auch. Wo seht ihr beide die zukünftigen Tendenzen der Ausübung oder der Gestaltung der Erinnerungskultur?
Dmytro Myeshkov: Ich glaube, das Interesse wird sich weiterhin halten, aber es wird sich einiges ändern, nachdem sich die Erlebnisgeneration aus dem Leben verabschiedet hat. Das wird in den nächsten Jahren geschehen. Dann werden die Voraussetzungen für das kommunikative Gedächtnis innerhalb der Familie oder innerhalb der Gruppe nicht mehr da sein. Dann werden die Erinnerungen weiter auf anderen Wegen tradiert. Da kommt die sogenannte dritte Generation ins Spiel, die sich mit der Vergangenheit nicht mehr innerhalb der Familie, sondern anhand von Dokumenten und der Literatur mehr oder weniger ernst beschäftigen wird. Das ist ein Phänomen, das auch aus anderen Gruppen bekannt ist. Ich glaube, das wird dann auch nicht anders sein in Russland und in der Ukraine. Wobei ich es für die Ukraine nicht so optimistisch sehe, weil dort die Auswirkungen des Krieges und die Auslöschung der ehemaligen Siedlungsgebiete weiter nachwirken. Es wird dann immer weniger Menschen geben, die sich dieser Gruppe zugehörig fühlen. Deswegen wird das für viele ein abstraktes Interesse sein. In Russland wird das anders, weil dort die Gruppe zahlenmäßig repräsentabler ist.
Katharina Heinrich: Wir haben eben darüber gesprochen, dass man Geschichte nicht immer nur selbst schreiben sollte. Auf die Geschichte der Russlanddeutschen sollten auch andere Historiker ihren Blick haben. Ich finde es wichtig, dass man über die Russlanddeutschen nicht nur in der Landsmannschaft spricht oder in den Vereinen der Russlanddeutschen, sondern dass wir im Lew-Kopelew-Forum und auch andere Vereine darauf zugehen und zumindest den Russlanddeutschen die Möglichkeit geben, sich dort zu präsentieren. Und ich glaube, dass das so die Zukunft bringen wird in den nächsten Jahren. Also, dass wir einerseits sehr viele junge Leute haben, die hier studiert haben, die Journalisten, Wissenschaftler sind und die dieses Thema in die Gesellschaft als eine Selbstverständlichkeit einbringen. Dann wird das hier auf verschiedenen Ebenen diskutiert und es wird in den verschiedensten Vereinen, also auf verschiedenen Ebenen gezeigt. Das finde ich ist ganz wichtig. Es ist nicht immer so dieses sein eigenes Süppchen kochen, sondern das ist jetzt inzwischen größer. Das ist das, was ich mir tatsächlich erhoffe in der nächsten Zeit. Ich sehe da schon die Bestrebungen und wünsche mir aber, dass es noch mehr wird.
Edwin: Auch aus meiner Perspektive stellt es sich so dar, dass man in den letzten zehn Jahren den Eindruck hatte, dass das Thema immer weniger präsent ist. Man spricht weniger in der Wissenschaft darüber oder es gibt weniger Projekte, aber jetzt gibt es so diesen Effekt der dritten Generation und das läuft an und diese Themen werden mehrheitsgesellschaftlich, sie betreffen sehr viele Menschen mit ihrem persönlichen und familiären Schicksal und man versucht die auch in bestimmte Diskurse reinzubringen. Auch zum Beispiel in den großen Diskurs der Aufarbeitung des Dritten Reichs. Ich würde mir wünschen, dass diese Themen auch gesamteuropäisch betrachtet werden, weil da ein riesiges Potential ist. Aufarbeitung des Stalinismus verbindet die Menschen hier in Deutschland mit zum Beispiel den baltischen Staaten. Ich sehe da ein großes und interessantes Potential für die Zukunft. Katharina, du bist in den Bergen aufgewachsen, aber die Steppe war auch nah. Hast du besondere Erinnerungen oder Eindrücke von der Steppe?
Katharina Heinrich: Also, wenn du mich so fragst, habe ich sofort meinen Lieblingscousin vor Augen, der leider schon gestorben ist, aber der aus der Steppe immer riesengroße Tulpensträuße mitgebracht hat. Ich habe mir schon immer einen großen Bruder gewünscht, er hatte bei uns zeitweise gewohnt und ich werde nie vergessen, wie ich dann von der Schule nach Hause komme und dann kommt mein Cousin und dann steht der so vor mir mit diesem riesengroßen Strauß roter Tulpen, die auch so duften und die er frisch aus der Steppe mitgebracht hat. Ich hoffe demnächst nach Kasachstan oder Kirgistan zu kommen und nochmal zu erleben, wenn die Tulpen und der Mohn blühen.
Ira: Dmytro, die Ukraine hat ja auch Steppengebiete. Hast du besondere Erlebnisse in der Steppe?
Dmytro Myeshkov: Ich bin auch ein Steppenkind. Ich bin zwar in einer großen Stadt aufgewachsen, aber meine Großeltern mütterlicherseits, die lebten in einem ländlichen Gebiet, in einer Steppenregion. Und meine Erinnerung, da ich jeden Sommer da verbracht habe, das ist der Duft der Steppe, besonders dann, wenn die Sommerferien losgingen, also im Mai und Juni. Es stand noch alles in Blüte mit palyn‘ (Wermuth) und vassil’ki (Kornblumen). Dieser Duft begleitete mich noch jahrelang. Und auch die kasachische Steppe konnte ich in der Armee kennenlernen bei Qysylorda, das ähnelte schon einer Halbwüste. Das war nicht so fruchtbar wie die ukrainische Steppe. Also, die Steppe begleitet mich immer noch und wenn man sich im Anflug nach Saporischschja beispielsweise befindet, sieht man unendliche Dnepr-Wassermassen, die von der Steppe umgeben sind. Es ist unheimlich schön.
Ira & Edwin: Danke an euch für das sehr interessante Gespräch.