Dr. Hildegard Kronawitter: Über Alexander Schmorell und die Weiße Rose
Alexander Schmorell war Mitbegründer der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ und wurde ebenso wie die Geschwister Scholl 1943 hingerichtet. Mit Dr. Hildegard Kronawitter, Vorsitzende der Stiftung „DenkStätte Weiße Rose“ in München, sprechen Ira und Edwin über Schmorells russlanddeutsche Herkunft, seinen Kampf gegen die Nationalsozialisten und über das Potenzial für eine umfassendere Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft. Diese Folge entstand mit freundlicher Unterstützung der Weiße Rose Stiftung, München.
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Edwin: Kannst du dich daran erinnern, dass wir in der letzten Dezemberfolge darüber gesprochen haben, dass uns wichtig war, die Migration der Russlanddeutschen auch als dramatisch und erkämpft darzustellen? Dabei war es uns besonders wichtig, auf Schicksale und Wirkung von mutigen Menschen hinzuweisen, wie zum Beispiel Ludmilla Oldenburger, über die du erzählt hast. Diese Menschen haben zum Teil Repressionen in Kauf genommen, um für sich und andere Reisefreizügigkeit zu erlangen.
Ira: Ja und es kamen ganz schön viele Nachrichten nach dieser Folge, weil viele Menschen nicht wussten, dass Russlanddeutsche beispielsweise Flugzeuge entführt haben, um das Land zu verlassen. Das war eine Neuigkeit für viele Zuhörende.
Heute möchten wir auch über mutige und politisch engagierte Russlanddeutsche sprechen, nämlich über Russlanddeutsche, die gegen das Naziregime und zwar in Deutschland gekämpft haben.
Edwin: Nicht zufällig nehmen wir die heutige Folge in München auf. Ich selbst habe hier an der Ludwig-Maximilians-Universität studiert und am Geschwister-Scholl-Institut sogar Politikwissenschaft gehabt. Fast täglich bin ich hier im Hauptgebäude der Universität an der Denkstätte Weiße Rose vorbeigegangen. Aber seltsam und interessant war, dass mir erst nach meinem Studium aufgefallen ist, dass ein Mitglied der Weißen Rose ein Russlanddeutscher war. Wusstest du es?
Ira: Bis wir diese Folge angefangen haben zu planen, war mir das nicht bewusst. Im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus werden Russlanddeutsche eher als privilegierte Volksdeutsche besprochen oder sogar als Helfer der Nazis in besetzten Gebieten wie zum Beispiel der Westukraine. Die Weiße Rose wird vor allem mit den Geschwistern Scholl in Verbindung gebracht. Die Widerstandsgruppe gegründet haben aber Hans Scholl und der russlanddeutsche Alexander Schmorell. In dieser Folge möchten wir über ihn und seinen Beitrag zur Weißen Rose sprechen. Deshalb nehmen wir die heutige Folge in der Denkstätte Weiße Rose, an der Uni in München auf, wo die Widerstandsgruppe ihre Flugblätter gegen Hitler verteilt hatte.
Edwin: Wir sprechen heute mit Frau Dr. Hildegard Kronawitter. Sie ist die erste Vorsitzende der Stiftung Weiße Rose. Sie hat Sozialwissenschaften studiert, war Abgeordnete im bayerischen Landtag und leitet seit 2009 diese Denkstätte.
Ira: Herzlich willkommen! Danke, dass Sie sich die Zeit für uns nehmen.
Dr. Hildegard Kronawitter: Auch meinerseits. Ich grüße Sie.
Ira: Frau Kronawitter, wie haben Sie denn die Bewegung der Weißen Rose in ihrer Jugend wahrgenommen?
Dr. Hildegard Kronawitter: Ich bin in Bayern aufgewachsen und hier auch zur Schule gegangen. Und da kommt im Geschichtsunterricht schon ein kurzer Abschnitt über die Weiße Rose, speziell auch als heranwachsende junge Frau, hat mich Sophie Scholl sehr interessiert.
Edwin: Womit beschäftigt sich denn die Denkstätte Weiße Rose?
Dr. Hildegard Kronawitter: Ich darf ergänzen, die Weiße Rose Stiftung, deren Vorsitzende ich bin, leitet die Denkstätte. Die Denkstätte ist eine Institution in unserer Verantwortung und auch von uns gestaltet. Aber die Weiße Rose Stiftung macht darüber hinaus ein mehr an erinnerungskultureller Arbeit. Zum Beispiel verleihen wir Wanderausstellungen zu Weißen Rose in Deutschland, in Italien, in Frankreich, dem englischsprachigem Raum und früher auch in Russland. Und wir führen Veranstaltungen fort. Beispielsweise wird am 22. Februar traditionsmäßig hier ein Gedenkkonzert an der Weißen Rose Orgel stattfinden, mit Texten, die vorgetragen werden.
Edwin: Der 22. Februar war der Tag, an dem die Geschwister Sophie Scholl und Hans Scholl von den Nationalsozialisten umgebracht wurden.
Dr. Hildegard Kronawitter: Sie sind hier am 18. Februar 1943 beim Verteilen von Flugblättern verhaftet worden. Exakt beim Verteilen des sechsten Flugblattes, das sich an Studierende gerichtet hat. Sie wurden der Gestapo übergeben und waren vier Tage im Gestapo-Gefängnis. Bereits vier Tage später fand der erste Volksgerichtshofprozess statt, und er endete mit einem Ergebnis, das vorher eigentlich politisch mit Berlin verabredet war. Das lässt sich nachweisen. Sophie und Hans Scholl und ihr Freund Christoph Probst, der am 20. Februar verhaftet wurde, wurden an diesem Montag, des 22. Februars zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag mit der Guillotine hingerichtet.
Ira: Wir würden einen Schritt zur Gründung der Weißen Rose zurückgehen. Man spricht immer über die Geschwister Scholl, aber weniger um Alexander Schmorell, um den es heute auch geht, er war ja Mitgründer. Richtig?
Dr. Hildegard Kronawitter: Tatsächlich sprechen wir nicht von einer Gründung. Im Grunde genommen war die Weiße Rose ein studentischer Freundeskreis, dem sich nach und nach mehrere Personen angeschlossen haben. Die Kerngruppe war tatsächlich Hans Scholl und Alexander Schmorell. Die beiden haben im Sommer 1942 innerhalb von drei Wochen vier Flugblätter geschrieben, abgezogen und verteilt. Das heißt per Post verschickt. Diese ersten vier Flugblätter gibt es in einer Auflage von 100 Stück pro Flugblatt, was damit erklärt ist, dass sie nur zu zweit waren und dass die Technik höchst einfach war. Von da an beginnt die Gruppe, die sich ausweitet, die bei weiteren Flugblättern zu höheren Auflagen und zu größerer Verbreitung kommt.
Edwin: Und welche Rolle spielt dabei Alexander Schmorell?
Dr. Hildegard Kronawitter: Alexander Schmorell war gewissermaßen eine kongeniale Ergänzung zu Hans Scholl. Die beiden waren zu diesem Zeitpunkt Studierende der Medizin hier an der Universität in München, aber zugleich Sanitätssoldaten, sonst hätten sie ja nicht studieren können. Das war die Voraussetzung, dass sie ein Studium aufnehmen konnten. Sie lernten sich in der zweiten Sanitätskompanie in München kennen. In dieser Kompanie wurden Soldaten zusammengefasst, die Medizin studieren durften, aber zugleich auch verpflichtet waren, als Sanitäter, als junge angehende Ärzte Fronteinsatz zu leisten oder in Krankenhäusern Dienst zu tun. Hier kamen die beiden zusammen, und sie ergänzten sich in unserer Meinung sehr gut: Hans Scholl so die intellektuelle vorwärts stürmende Person, der Menschen sehr begeistern konnte, und Alexander Schmorell, der künstlerische sehr begabt war und tätig war, der hochsensibel war und sicher auch Hans Scholl bei der Idee intensiv begleitete. Man kann nicht nur dagegen sein und dagegen schimpfen, sondern man muss etwas tun. Dieses etwas Tun bestand darin, dass man Flugblätter schreiben konnte, in denen man seine Einsichten mitteilte, aber auch Informationen zum Stand des Krieges, beziehungsweise zu den Verbrechen an jüdischen Menschen und an polnischen Menschen öffentlich machte.
Edwin: Was mich bei der Auseinandersetzung mit den jungen Menschen so begeistert hat, war eben die Tatsache, dass sie mit Anfang 20 noch so jung waren. Das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen. Und dass sie einen unglaublich großen Bildungshintergrund hatten. Dass sie mittelalterliche religiöse Philosophen gelesen haben, Augustinus und andere, und dass sie den Sturm und Drang und Schiller und Goethe zitiert haben.
Ira: Edwin, vielleicht kannst du uns ein paar Stichworte zur Biografie von Alexander Schmorell nennen.
Edwin: Alexander Schmorell ist einige Tage vor der Oktoberrevolution 1917 in Orenburg, im Südural in einer deutsch-russischen Familie eines angesehenen Arztes geboren. 1921 emigrierte dann die Familie nach Deutschland. Sein Vater hatte schon hier in München Medizin studiert, ist dann nach Russland zurückgegangen, hat da als Mediziner gearbeitet, und deswegen sind sie dann damals auch nach München zurückgekommen. Schmorell selbst studierte hier an der Ludwig-Maximilians-Universität auch Medizin. 2012 wurde er von der russisch-orthodoxen Kirche im Ausland, also nicht die russische-orthodoxe Kirche Moskauer Patriachats, heiliggesprochen. Sein Name in der orthodoxen Kirche heißt jetzt der heiliger Alexander von München und an seinem Todestag, dem 13. Juli, wird an ihn gedacht.
Ira: Alexanders Schmorells Familie hat zu den sogenannten Großstadtdeutschen im russischen Zarenreich gehört. Was war das denn für eine Gruppe?
Edwin: In diesem Podcast versuchen wir über historische Zusammenhänge und die verschiedenen und bunten Gruppen von deutschen Siedlern, oder auch anderen damaligen Untertanen des Russischen Reichs zu sprechen. Allgemein werden drei große Kategorien in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg unterschieden. Wir haben zum einen die Kolonisten, also die Wolgadeutschen oder die Schwarzmeerdeutschen. Wir haben dann die Baltendeutschen. Das sind die Deutschen, die zum Teil seit dem Mittelalter in den heutigen Staaten Estland und Lettland gelebt haben, auch ein bisschen im heutige Litauen. Und dann haben wir eine Kategorie von Deutschen, die nicht näher zu definieren ist, die in den Städten im Russischen Reich gelebt haben. Diese dritte Gruppe ist die Kleinste, aber die wahrscheinlich namhaftes Gruppe der Russlanddeutschen, weil sie eher das Bildungsbürgertum mitbestimmten. Die waren in der Industrie stark vertreten, im Handel, der Militärverwaltung und so weiter und so fort. Um nur einige Namen für die, die sich jetzt mit der russischen Kultur und Geschichte auskennen, zu nennen: Zum Beispiel der Dichter Alexander Blok. Seine Vorfahren sind im 18. Jahrhundert aus Mecklenburg nach St. Petersburg eingewandert. Der Philosoph Alexander Herzen. Seine Mutter ist aus Stuttgart nach Russland gekommen und hat sich in Moskau niedergelassen. Oder der „Heilige Arzt von Moskau“, so wird Friedrich Haass genannt, oder zum Beispiel der bekannte Theatermacher Wsewolod Meierhold, dessen Vater aus Ostpreußen kam. Diese Kategorie der Deutschen waren bestens in Russland integriert und sogar zum Teil kulturell assimiliert. Sie nahmen oft den orthodoxen Glauben an, waren bi- oder multilingual, wenn man dazu noch die damaligen Sprachen, die verbreitet waren, wie Französisch, dazu nimmt. Sie waren kosmopolitisch und hatten auch einen engeren Austausch mit Deutschland oder mit Europa. Zum Teil haben sie ihre Kinder zum Studieren nach Deutschland geschickt, wie hier in dem Fall von der Familie Schmorell. Sein Vater hatte in Deutschland studiert. Viele von diesen Großstadtdeutschen sind jedoch dann im Zuge der Oktoberrevolution zum größten Teil nach Deutschland emigriert. Einige von denen hatten die deutsche Staatsbürgerschaft nie abgelegt.
Alexander Schmorell war Sohn so einer Familie. Sein Großvater ging als Kaufmann aus damals Ostpreußen nach Russland und ließ sich in Orenburg nieder. Er war in der Holzindustrie in Orenburg engagiert. Die großmütterliche Linie waren Bierbrauer, denen Brauereien in Orenburg gehörten. Schmorell selbst hatte eine russische Mutter aus dem Beamtenstand. Der orthodoxe Glaube war der Mutter so wichtig, dass Alexander Schmorell orthodox getauft wurde. Nicht evangelisch, wie seine väterliche Seite. Er selbst hatte schon in Deutschland eine starke Neigung zu Russland, zur russischen Kultur entwickelt. Er las mit Vorliebe die russischen Klassiker wie Dostojewski und Tschechow und spielt in der Freizeit Balalaika. Der orthodoxe Glaube spielte für ihn eine große Rolle. Daraus schöpfte er seine tiefe Beziehung zu der russischen Kultur. Bereits in München verkehrt seine Familie mit anderen bekannten damaligen russischen Dissidenten oder Emigranten, wie zum Beispiel der Familie Pasternak. Der Vater und die Geschwister des Dichters und Schriftsteller Boris Pasternak.
Dr. Hildegard Kronawitter: Ich würde gerne noch eine Anmerkung machen. Als Alexander Schmorell zwei Jahre alt war, verstarb seine Mutter. Der Vater heiratete danach eine Tochter aus der Bierbrauerfamilie Hoffmann, die auch in Orenburg ansässig war. Als der Bub vier Jahre alt war, übersiedelte die Familie in dramatischen Umständen nach München. Es war also nicht ein Umzug, sondern es war letztlich eine Flucht, denn ich selbst habe nachgelesen: Orenburg war in den Zeiten der Revolution und der Zeit des anschließenden Bürgerkriegs mehrmals von den beiden Seiten umkämpft. Ich glaube, dass diese Erfahrung nicht nur für den Vater Schmorell, der dann in München sich als Arzt niederlassen konnte, oder die Stiefmutter, die die Brauerei verloren hat, einschneidend war. Sondern auch für Alexander Schmorell, der, ich will nicht sagen, ein Kindheitstrauma, sondern eine tiefe Prägung bekommen hat. Das denke ich, sollte auch wenn man diese Biografie anschaut, schon mitgedacht werden, dass er im Grunde genommen in zwei Ländern sich beheimatet fühlte und vielleicht doch nicht ganz beheimatet fühlte. Und entscheidend war noch, dass das russische Kindermädchen mit ausreisen konnte, was nur möglich war, weil diese Russin mit einem Bruder der Stiefmutter verheiratet wurde. Es waren sehr komplizierte Dinge, aber es war das große Glück für den Buben, der dann noch zwei Geschwister bekommen hat, dass diese Njanja dabei war und mit ihm auch Russisch gesprochen hat. Und gestatten Sie, dass ich noch eine Anmerkung mache: Es war tatsächlich erst die auslandsorthodoxe Kirche, aber zwei oder drei Jahre später hat die russische Gesamtorthodoxen Kirche die Heiligsprechung übernommen. Wir haben da Dokumente dann gesehen und auch Abbildungen bekommen. Alexander Schmorell wurde bis vor dem russischen Angriffskrieg schon auch als Russe gesehen.
Ira: Sie haben jetzt einen wichtigen Grund genannt, der so prägend war für Alexander Schmorell, sich an der Weißen Rose zu beteiligen. Können Sie sich vielleicht noch weitere Gründe vorstellen, wie es dazu kam, dass er Teil dieser Widerstandsbewegung wurde?
Dr. Hildegard Kronawitter: Wir blicken auf diese Biographien zurück und reimen uns im Grunde genommen zusammen, wie sich das ergeben hat. Bei Alexander Schmorell muss man festhalten, dass er als Jugendlicher in dem Jungen Stahlhelm war. Das ist eine Jugendgruppe gewesen, die von heute aus betrachtet als rechtsnational einzuordnen war. Dann 1937 nach dem Abitur, musste er Reichskriegsdienst machen, wie alle anderen Jungen auch. Er wurde zur Wehrmacht ausgebildet, auch das war Pflicht, und er war dann als Soldat mit nach Österreich einmarschiert, er war bei der Besetzung von Tschechien dabei, und er war dann ein Jahr später nochmal bei der Besetzung Frankreichs dabei. Dann konnte er wieder zurück und konnte Medizin studieren. Er hatte als junger Soldat, ich würde jetzt glauben, auch bereits als Sanitätssoldat diese militärischen Erfahrungen gemacht und gleichzeitig ist er als Person sehr freiheitsliebend gewesen und war künstlerisch sehr begabt. Ich meine, dass es diese Diskrepanz war sich zwischen einerseits diesem sich immer verstärkenden Druck des nationalsozialistischen Staates auf junge Menschen, um gleichzeitig zu realisieren, dass man selbst etwas anderes möchte, dass man selbst Freiheit möchte, dass man selbst das freie Wort führen möchte. Ich würde nicht sagen, es war eine Radikalisierung, sondern es war eine Bewusstmachung.
Ira: Er wurde ebenso wie die Geschwister Scholl und andere Aktivistinnen dann auch verhaftet und wurde am 13. Juli 1943, also bald vor 80 Jahren, hingerichtet. Wissen Sie, ob sein Engagement auch Konsequenzen für seine russlanddeutsche Familie hatte, also für seine Geschwister, seine Eltern?
Dr. Hildegard Kronawitter: Um nochmal festzuhalten. Er ist am 24. Februar 1943 verhaftet worden. Er war zuvor auf der Flucht und versuchte, in ein Gefangenenlager zu kommen, wo Russen untergebracht worden, weil er glaubte, da würde er sich verstecken können. Das klappte nicht. Er ging nach München zurück und wurde dann Schutz suchend bei einem Bombenangriff erkannt und der Gestapo übergeben. Der 24. Februar war dieses Datum. Der zweite Volksgerichtshofprozess war am 19. April 1943, und die Ermordung mit der Guillotine war am 13. Juli 1943. Das sind diese Stationen. Die Familie wurde mehrfach verhört. Der Bruder war gleichzeitig Soldat und wurde auch da verhört, aber er war nicht in München stationiert, also war er nachweislich in keiner Weise mit diesen Aktivitäten des Bruders tangiert. Zur Schwester kann ich nichts sagen. Sie war ja wahrscheinlich noch minderjährig. Bei den Eltern ist mir nur bekannt, dass sie mehrfach verhört wurden.
Edwin: Sein Vater war ja ein angesehener Arzt. Das heißt, es gab keine deutlichen Konsequenzen, wie zum Beispiel Berufsverbot.
Dr. Hildegard Kronawitter: Sein Vater war als Arzt niedergelassen. Ich glaube auch, dass die Familie nicht als regimefeindlich eingeschätzt wurde. Das besondere ist auch, dass zwei Brüder der Stiefmutter Angehörige der SS waren, und wir wissen das deshalb, weil sie ein Begnadigungsgesuch an Himmler gerichtet haben, das abgelehnt wurde. Dieses Schreiben ist als Dokument bekannt. In dem sagt Himmler, dass es ja sein mag, dass sie treue Anhänger unseres Systems sind, aber was Alexander Schmorell getan hat, das rechtfertigt nicht, wenn man weiß, wie viele junge Männer im Krieg sterben. Das ist der Familienkontext, so wie es sich uns erschließen kann.
Edwin: Bei der Betrachtung der Ausstellung ist mir aufgefallen, dass einige Aktivisten, die damals mit dabei waren, also nicht nur der Kern der weißen Rose, sondern auch die Weiteren, die auch verurteilt wurden, nicht im heutigen Sinne in Deutschen geboren sind, sondern auch in Österreich, in der Schweiz. Alexander Schmorell ist in Russland geboren. Kennen Sie noch andere Widerstandskämpfer, die ebenso aus den östlichen Gebieten oder aus Russland oder der Sowjetunion kamen? Gibt es da vielleicht noch irgendwelche Persönlichkeiten, auf die man hinweisen könnte?
Dr. Hildegard Kronawitter: Das kann ich ihnen nicht bestätigen. Da bin ich auch nicht informiert genug. Ich weiß nur, Alexander Schmorells Freund Nikolay Hamazaspian war ein Bulgare, der ab 1939 in München studieren konnte und mit dem sich Alexander Schmorell angefreundet hat. Aber Nikolay Hamazaspian war nicht selbst im Widerstand verstrickt, hat aber Alexander bei der Flucht geholfen. Er hatte einen Pass zur Verfügung gestellt, den dann eine Freundin Schmorells gefälscht und ein anderes Bild reingebracht hat.
Ira: Über den Namen sind wir vorhin in der Ausstellung auch gestolpert und haben uns gefragt, vorher der Wohl stammte. Vielleicht machen wir eine kleine Zeitreise ins Jetzt. Sie sagten ja, dass ihre Ausstellung auch in Russland bis zum Krieg zur Verfügung gestellt wurde. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Wie hat sich das seit dem 24. Februar 2022 geändert?
Dr. Hildegard Kronawitter: Wir haben ab 1999, 2000 eine russischsprachige Version der Wanderausstellung die Weiße Rose in Russland gezeigt. Wir als Institution haben sie zur Verfügung gestellt und dabei mit Eurasia in Orenburg kooperiert. Das ist eine NGO, die vergleichbar mit unserer ist. Herr Chramov hat sich gekümmert, dass Ausstellungsorte gefunden wurden und hat das Eröffnungsprogramm bestritten. Meist ist zur Eröffnung der Ausstellung dann ein Vorstandskollege angereist oder Marcus Schmorell, ein Familienmitglied. Das sind wirklich sehr erfolgreiche 22, 23 Ausstellungstätigkeiten gewesen. Mit dem russischen Angriffskrieg hat sich das, wie wir in Bayern sagen, von selber aufgehört. Denn für beide Seiten wäre es höchst erklärlich, jetzt noch eine Ausstellung zu zeigen. Also wir sehen mal, wie es künftig sein wird.
Edwin: Er wurde von der orthodoxen Kirche im Ausland heiliggesprochen. Diese ist ja jetzt mittlerweile in der russisch-orthodoxen Kirche aufgegangen. Sehen sie da von dieser Seite auch eine Tendenz zur Instrumentalisierung von seiner Person oder dem Andenken an ihn?
Dr. Hildegard Kronawitter: Nein, das würde ich nicht so einschätzen. Tatsache war ja, dass die orthodoxe Auslandskirche ihn heilig gesprochen hat. Diese Heiligsprechen hat dann die russische orthodoxe Kirche zwei, drei Jahre später in Moskau mit einer eigene Zeremonie übernommen. Und in den letzten Jahren waren Ausstellungstätigkeiten gut möglich, auch mit Unterstützung der orthodoxen Kirche.
Edwin: In Orenburg wurde auch ein Denkmal errichtet. Mir ist bei meinen Recherchen aufgefallen, dass es da eher Kundgebung oder Anlässe zum 9. Mai gab. 9. Mai, der in Russland oder in der postsowjetischen Welt als „Tag des Sieges“ und das Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. die Kapitulation Deutschlands bezeichnet wird – also nicht der 8. Mai, so wie bei uns. Ich bin auch gespannt, wie es weiter mit dem Andenken von ihm in Russland und in der orthodoxen Kirche geht. Ich finde, das es eine bemerkenswerte Geschichte ist, dass es bei der wahrscheinlich prominentesten Gruppe von Widerstandskämpfern im Dritten Reich, im Nationalsozialismus Menschen gab, die einen Migrationshintergrund hatten. Und in unserer Migrationsgesellschaft ist es interessant, im Sinne der Erinnerungskultur an diese Biografien anzuknüpfen, verbunden mit der Frage, wie inklusiv könnte denn Erinnerungskultur werden, hinsichtlich der Debatten oder der Einsicht, dass wir in der Migrationsgesellschaft sind. Wie sehen sie das? Welches Potenzial steckt da drin?
Dr. Hildegard Kronawitter: Bei einer historisch gewordene Gruppe, die sehr bekannt ist, sollten einzelne Personen gewürdigt werden – und Alexander Schmorell verdient es wahrlich mehr, ins Bewusstsein gebracht zu werden. Er hat einen doppelten Hintergrund. Er hat den Hintergrund in Deutschland, ist ab vier Jahren in München aufgewachsen, ist sozusagen der junge Münchner und gleichzeitig aber hat er diesen familiären Hintergrund. Es ist sicher sinnvoll, ihn bei Führungen, wo ersichtlich viele Menschen mit Migrationshintergrund dabei sind, darauf hinzuweisen, dass diese Person gewissermaßen eine doppelte Loyalität haben konnte. Nämlich zu dem alten Russland. Bewusst betont. Er war keineswegs bolschewistisch orientiert und das gilt es auch zu betonen. Aber auch diese deutsche Zugehörigkeit zu haben, letztlich auch über die hier verwurzelte Familie. In der Geschichte ist das Thema von Menschen, die geradezu Heroisches geleistet haben und die aber trotzdem eine doppelte Zugehörigkeit empfinden, wichtig und durchaus auch vorbildhaft.
Edwin: Das hat unglaublich viel Potenzial, weil bei Alexander Schmorell eine starke Beziehung zu Russland, eben zu der russischen Kultur hatte, die ausschlaggebend für sein Engagement war. Er war explizit gegen den Bolschewismus. Der Bolschewismus hatte seine Familie aus der alten Heimat vertrieben. Insofern geht es hier auch um die wehrhafte Demokratie und darum, dass man sich gegen totalitäre Erscheinung in der Gesellschaft oder politische Entgleisungen engagieren sollte.
Ira: Frau Dr. Kronawitter, warum ist das Erinnern an die Weiße Rose 80 Jahre nach deren Wirken heute noch immer wichtig?
Dr. Hildegard Kronawitter: Ich könnte jetzt ganz pragmatisch antworten und sagen, die Menschen interessieren sich nach wie vor für die Widerstandsgruppe Weiße Rose. Sie wollen erfahren, wer diese Menschen waren, die so mutig waren, denen es geradezu lebenswichtig war, das freie Wort in Flugblättern zu wagen. Das als Vorbild herauszuheben. Aber gleichzeitig kennen wir die Flugblätter und wissen, dass sich in diesen Flugblättern eine Botschaft verbirgt, die bis heute und für unsere Demokratie, unsere Gesellschaft enorm wichtig ist. Es geht darum, Freiheit zu leben. Es geht darum, dass jede einzelne, jeder einzelne Verantwortung übernimmt für die demokratischen Zustände, die wir haben, Zivilcourage zeigt, aber auch Mitmenschlichkeit walten lässt. Der Blick zurück zeigt uns mutige Menschen, zeigt uns an einem Beispiel, wie menschentötend Diktaturen sind. Gleichzeitig aber ist diese Botschaft für uns heute eine Aufforderung, uns zivil und demokratisch zu verhalten.
Edwin: Kannst du dir vorstellen, wie du dich verhalten hättest in dieser Situation? Hättest du den Mut, Ira?
Ira: Das ist wirklich eine schwierige Frage. Ich habe in den vergangenen Wochen viele Interviews mit russischen Menschen geführt, die aus Russland gegangen sind, weil sie oppositionell sind, die teilweise auch in Haft geraten sind und ganz plötzlich das Land verlassen mussten. Diese Frage stelle ich mir immer wieder, und ich weiß es nicht, wie ich in der konkreten Situation mich verhalten würde. Ich glaube, das ist schwierig. Und ich glaube, wir dürfen uns auch nicht herausnehmen und Urteilen, auch in der aktuellen Situation, wenn jemand eben nicht oppositionell ist, wenn jemand flüchtet. Ich glaube, jeder von uns würde das vielleicht auch ganz anders entscheiden, wenn er in die Lage erst käme. Aber in jedem Fall verdienen diese Menschen einen sehr, sehr großen Respekt, und ich bin dankbar, dass es Menschen wie Sie gibt, die sich um diese Denkstätte kümmern, um den Verein kümmern und eben das Erinnern möglich machen.
Edwin: Frau Kronawitter, wir haben noch eine klassische Frage, die wir jedem Gesprächspartner stellen. Waren sie schon mal in der Steppe?
Dr. Hildegard Kronawitter: Ja
Edwin: In welcher Steppe waren sie denn?
Dr. Hildegard Kronawitter: In der Umgebung von Orenburg.
Edwin: Welchen Eindruck hat sie auf sie hinterlassen?
Dr. Hildegard Kronawitter: Das ist eine Landschaft, die mich sehr fasziniert hat, weil ich sie in dieser Form bisher nie gesehen hatte und weil ich glaube, dass Menschen, die in der Steppe aufwachsen, eine andere Erfahrung haben als Menschen, die bei uns im Gebirge aufwachsen.
Edwin: Hätten sie noch irgendwas, was sie unbedingt sagen wollen?
Dr. Hildegard Kronawitter: Ja, wir haben ein Thema nicht angesprochen: Alexander Schmorell war enorm künstlerisch begabt und hat von dieser Begabung eine Reihe von Zeugnissen hinterlassen, die höchst eindrucksvoll sind. Er hatte, während er studiert hat, Zeichenunterricht im Zeichenatelier König genommen und da denken wir, es wäre doch auch schön gewesen, wenn dieser junge Mensch diese Begabung hätte als Künstler ausleben können. Aber es war die Diktatur, die dieses Leben zerstört hat.
Ira: Danke für unser Gespräch. Das war uns wirklich eine Freude!
Dr. Hildegard Kronawitter: Sehr gerne habe ich mich mit ihnen über Alexander Schmorell unterhalten, weil es uns auch, lassen sie mich das Anfügen, ein Anliegen ist, ihn bekannter zu machen.