Kasachstan – und dann? Wie das zentralasiatische Land Heimat für eine Million Deutsche wurde
Die Steppen und Industrieanlagen Kasachstans wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für mindestens zwei Generationen der meisten Russlanddeutschen weitestgehend ungewollt zur Heimat. Nach dem Zerfall der Sowjetunion begann die Aussiedlung nach Deutschland. Wie kasach(-stan-)isch ist die russlanddeutsche Identität heute noch? Was denken Russlanddeutsche über Kasachstan, und wie haben sie das Land geprägt?
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Anlässlich der Präsentation des Dokumentarfilms „Der weite Weg zurück“ von Alexej Getmann und Ralph Weihermann beim Filmfestival in Cottbus Anfang November 2023 sprachen Ira Peter, Edwin Warkentin und der Filmemacher Alexej Getmann über das Verhältnis der Deutschen und Kasachen in Kasachstan in der Sowjetzeit und heute, über ein deutsches Theater in der Steppe, mutige Menschen und das Aufwachsen in einem multiethnischen Umfeld sowjetischer Prägung. Ira berichtet über ihre frischen Eindrücke von ihrer Reise im Sommer 2023 in ihre Geburtsstadt, die heute anders heißt. Alexej und Edwin, die beide in derselben Industriestadt geboren sind, sich aber erst in Deutschland kennengelernt haben, erzählen über ihre gemeinsamen Projekte, die Webdokumentationen „Auch wir treten aus unseren Rollen heraus“ und „Lost history, shared memories“.
Das Gespräch moderierte Ariane Afsari, Deutschen Kulturforum östliches Europa e.V.
Diese Folge ist als eine Livesession im Programm des Filmfestivals in Cottbus in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturforum östliches Europa e.V. entstanden.
Ariane Afsari: Herzlich Willkommen an unser Publikum hier zum Slow-Talk im Rahmen der Sektion „Close Up Kasachstan“ beim Filmfestival Cottbus. Mein Name ist Ariane Afsari und das Institut, für das ich hier arbeite, das Deutsche Kulturforum Östliches Europa, ist seit mehreren Jahren auch Partner beim Filmfestival. Der Film, der heute Ausgangspunkt für unser Gespräch ist, beleuchtet einen Aspekt des Schicksals der Russlanddeutschen in Kasachstan. In diesem Fall ist die Folge eine Kooperation mit dem Podcast des deutschen Kulturforums, er heißt „Von Asch bis Zips: Der Osten für die Ohren“. Nun zu unseren Gästen heute Abend. Das ist einmal die Hauptperson heute, der Regisseur Alexej Getmann. Er ist 1983 in Temirtau, in der damaligen kasachischen SSR innerhalb der Sowjetunion geboren. Er hat Medienwissenschaften in Köln studiert und ist freier Autor, Journalist und Filmemacher. Mit seinem Debutfilm über einen Homosexuellen in Kasachstan und seine Schwierigkeiten damit, hat er Preise in Deutschland und Kasachstan gewonnen. Ira Peter wurde 1983 in Zelinograd geboren, heute heißt der Ort Astana und ist die Hauptstadt der seit 1991 unabhängigen Republik Kasachstan. Sie studierte französische und russische Literaturwissenschaften und Psychologie in Heidelberg und Nizza. Sie ist Journalistin und Bloggerin. Für ihr Online-Tagebuch als Stadtschreiberin in Odessa, ein Stipendium des deutschen Kulturforums, wurde sie 2022 mit dem goldenen Blogger ausgezeichnet Sie setzt sich in journalistischen Beiträgen, sozialen Medien und kulturellen Projekten in Deutschland und in der Ukraine, seit 2020 auch mit dem Aussiedlerpodcast „Steppenkinder“, mit russlanddeutschen Themen auseinander. Den Podcast produziert sie gemeinsam mit dem dritten Gesprächspartnern hier am Tisch, mit Edwin Warkentin. Er ist Kulturreferent für Russlanddeutsche am Museum für Russlanddeutschen Kulturgeschichte in Detmold. Dieser Podcast richtet sich an Deutsche, die kaum etwas über Aussiedler wissen und an Russlanddeutsche, die mehr über ihre Geschichte erfahren wollen. Edwin wurde 1981 in Temirtau geboren. Es ist ein Industriestandort und eine Satellitenstadt von Karaganda in der heutigen Republik Kasachstan. Er studierte Slawistik, Geschichte Ost- und Südosteuropas und Politikwissenschaft in München. 2011 bis 2014 war er Referent der Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten im Bundesministerium des Inneren. Zuletzt arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Der Film, den wir heute gesehen haben, „Der weite Weg zurück“ ist ein Film über und mit deinen Eltern und thematisiert vor allem auch ihr Schauspielerdasein damals in Temirtau und heute in Niederstetten in Baden-Württemberg. Wie bist du mit dieser Geschichte umgegangen, mit dem Theaterleben deiner Eltern?
Edwin: Erstmal vielen Dank! Die heutige Folge in diesem Rahmen aufzuzeichnen. Es ist fast eine Premiere. Wir hatten eine Live-Session mit den Steppenkindern schonmal gemacht, aber wir sind sehr froh heute hier in Cottbus zu sein. Wir sitzen heute hier in so etwas wie einer Kneipe oder der Bar von dem Kino, wo wir gerade diese Film gesehen haben. Hier sind viele Leute.
Ira: Es sind erstaunlich viele, ich habe gar nicht mit so vielen Zuschauern gerechnet und sehr viele junge Leute. Das finde ich richtig gut!
Edwin: Zurück zu deiner Frage, Ariane, wie es war im Theater aufzuwachsen. Ich glaube, das war schon eine besondere Kindheit, eine spannende Kindheit, die mir damals nicht so besonders vorkam, weil man halt so in seiner Kindheit lebt. Aber rückwärtsbetrachtet ist das schon was Besonderes gewesen. Das Theater, das hat man in dem Film ja gesehen, hatte eine spezielle Ausrichtung. Es war ein Theater auf Rädern, weil sie auch das Kulturinteresse der deutschen Minderheit bedienten, die breit verstreut war in der damaligen Sowjetunion. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, die Theatermacher, die waren ständig auf Achse. Die mussten dann ihr Publikum in dem weit entlegenem sibirischen Dorf, bis zu zentralasiatischen Ortschaften in Usbekistan zum Beispiel besuchen. Natürlich haben sie mich dann auch mitgenommen. Ich habe diese Regionen, diese weiten Ecken der Sowjetunion als Kind miterleben dürfen. Und auf der anderen Seite, im Theater groß zu werden, mit den Gewerken und den ganzen Abteilungen, die Kostümbildner und die Requisitenbildner, die haben uns ja dann die Freizeit organisiert. Da durfte man sich als Ritter verkleiden oder als Prinzessin und dann durfte man auch die Schwerter in die Hand nehmen. Das war schon eine ständige Maskerade, unterwegs in der – zurückbetrachtet – grauen, zerfallenen Sowjetunion.
Ariane Afsari: Du bist ja ein Jahr nach der Gründung des Theaters geboren. 1980 wurde das Theater in Temirtau gegründet und das bringt mich zu der Anschlussfrage. Ihr seid sehr viel herumgefahren, ihr wart ein Tourneetheater, aber deine Eltern erzählen im Film, dass sie in Moskau studiert haben und zwar an einer der berühmtesten Schauspielerhochschulen, die es da gibt. Wie kommt es, dass man so ausgebildete Schauspieler in so eine Provinzstadt wie Temirtau schickt, wo es damals 13.000 Deutsche gab, während es in Karaganda oder Alma-Ata über 100.000 Deutsche gegeben hätte, die man damals schonmal erreicht hätte.
Edwin: Das ist der Ausdruck auch einer bestimmten sowjetischen Willkür. Das ist jetzt vielleicht ein bisschen überspitzt dargestellt, aber am Anfang der 1970er Jahre ist die Regierung der kasachischen sowjetischen sozialistischen Republik auf die Idee gekommen, dass jede Minderheit mindestens ein Theater oder eine andere Kultureinrichtung haben sollte. Da zum damaligen Zeitpunkt etwa eine Millionen Deutsche in dieser Teilrepublik der Sowjetunion gelebt hat, sollte auch ein Theater für diese deutsche Minderheit gegründet werden. Und die jungen, talentierten Menschen wurden in der ganzen Sowjetunion rekrutiert. Sie konnten sich dann für ein lukratives Studium an einer der renommiertesten sowjetischen Theaterhochschulen bewerben, der Schtschepkin-Theaterhochschule am Maly-Theater. Man kennt das Bolschoj-Theater, das Opern- und Balletthaus und das Maly-Theater ist das kleinere daneben, da geht es um das Schauspiel. So wurden sie damals ausgebildet. Als es dann zum Abschluss hinging und das Theater dann ein Standort bekommen sollte, waren diese Überlegung der jungen Studierenden oder auch derjenigen, die damals aktiv waren in der Bewegung der Deutschen in der Sowjetunion, dass das Theater nach Moskau oder mindestens in die damalige Hauptstadt der kasachischen sowjetische Republik, Alma-Ata (heute Almaty), gehört. Aber das war die Zeit des sich verstärkenden Kalten Krieges. 1980 waren die Olympischen Spiele in Moskau, die der Westen boykottiert hatte und da war die sowjetische Regierung dann doch nicht so optimistisch, was den Standort anging und hat denen eben diese leerstehende Theater in dieser Industriestadt zur Verfügung gestellt. Das hatte viele damals schon ziemlich heruntergezogen. Nicht alle sind dahingefolgt an das Theater. So zum Beispiel auch Irene Langemann, mit der wir auch die vorletzte Folge unseres Podcast aufgenommen haben. Die Schriftstellerin, die gemeinsam mit meinen Eltern studiert hatte, aber dann in Moskau geblieben ist. Sie wollte nicht mit nach Temirtau.
Ariane Afsari: So viel vielleicht erstmal zu der frühen Geschichte in Temirtau. Kommen wir nochmal auf den Film zurück. Alexej, du bist ja mit den Eltern hingefahren. Wie hast du das erlebt als du dort wieder ankamst? Das ist ja auch deine Geburtsstadt und du hast auch 9, 10 Jahre dort verbracht. Wie wurde das aufgenommen, dieses Filmprojekt?
Alexej Getmann: Auf jeden Fall viel besser als das davor, denn davor war ich ja in Kasachstan in Temirtau und haben einen Film über einen schwulen Mann gedreht, der offen schwul ist und das in dieser Stadt natürlich zu heftigen Problemen führt. Insofern war das ein deutlicher Gewinn und deutlich entspannter mit diesem Thema da anzukommen. Alles an diesem Film war sehr persönlich, weil das auch meine Familiengeschichte ist. Ich hatte zwar mit dem Deutschen Theater in meiner Familie persönlich nichts zu tun, ich war aber als Kind auch da. Zu diesem Theater sind wir zu Vorstellungen und so weiter hingegangen. Und es war natürlich sehr emotional, diese Reise zu machen. Zu sehen, wie sich diese Gruppe an Schauspielern, an Theaterleuten – es waren ja nicht nur Schauspieler, alles drumherum auch – sich sehr bemüht haben, um die deutsche Geschichte. Ich kann auch verstehen, wie diese Enttäuschung war, das würde ich gern nochmal unterstreichen, diese Fallhöhe aus Moskau vom Maly-Theater nach Temirtau zu kommen. Ich bin in meinem Leben als Journalist viel herumgekommen und tatsächlich muss ich sagen, dass ich noch nie eine hässlichere Stadt gesehen habe. Leider ist das so. Mögen die Leute aus Temirtau mir diese Aussage verzeihen, aber es ist halt einfach so. Man merkt schon an dem Geruch der Kokereien, der Chemiefabriken zehn Kilometer bevor man da rein fährt, riecht man die Stadt schon. Es ist Wahnsinn. Eigentlich sollte man da einen postapokalyptischen Spielfilm drehen und dann dieses Stück Kultur, diese Insel irgendwie inmitten dieser Stadt, das ist schon Absurd an sich.
Ariane Afsari: Du hast gerade gesagt, du warst früher auch in dem Theater in Temirtau. Wie muss man sich das vorstellen? Man hat eine Vorstellung gebucht oder es ist hingegangen und hat Karten gekauft und der Zuschauerraum war voller deutschsprachiger Leute oder kamen auch Kasachen oder kamen andere Ethnien dahin?
Alexej Getmann: Ich war damals ja noch ein Kind. Ich habe mir nicht diese großen Stücke über die deutsche Geschichte angeschaut. Zumal wir auch kein Deutsch gesprochen haben. Die haben aber auch Kinderstücke gemacht. Das war etwas anderes, nur die Verbindung zu diesem Gebäude und diesem Theater und dass es das da gab, das war mir schon bewusst. Wie es dahin kam wusste ich ja nicht. Ich war ein Kind und mein Papa hat mich mitgenommen.
Ariane Afsari: Dann gehen wir doch mal weiter in die heutige Zeit. Der Film wurde 2021 gedreht, oder?
Alexej Getmann: 2015 haben wir angefangen zu drehen und 2018 war dann Premiere.
Ariane Afsari: Okay. Dann warst du, Ira, jetzt als letzte Person von uns vieren, die wir hier sitzen, in Kasachstan, nämlich 2023. Und du hast auch Astana besucht, deine Geburtsstadt und da hast du auch gesehen, wie die heutigen Bewohner, also die Kasachen, die damals ja auch schon dort wohnten, mit deutscher Kulturgeschichte umgehen. Kannst du das vielleicht mal aus deiner Sicht beschreiben, was du dort erlebt hast?
Ira: Ich war im September in Kasachstan. Zum ersten Mal seit einigen Jahren auch wieder und ich war zufällig da, als auch ein deutsch-kasachisches Kulturfestival stattgefunden hat und die deutsche Kultur in Astana über ein ganzes Wochenende zelebriert wurde. Ich habe schon wahrgenommen, dass man sehr wertschätzend mit diesem deutschen Kulturerbe in Kasachstan umgeht. Es gibt viele Vereine, die teilweise von staatlicher Seite gefördert werden, aber auch viel Förderung von deutscher Seite erhalten. Es war irgendwie auch ein bisschen skurril. Es waren ganz unterschiedliche Trachtengruppen, Musikgruppen und Kunstgruppen da. Vor allem die Trachtengruppen hatten dann Kostüme an. Das waren keine Trachten, wie man sie vielleicht in Bayern in irgendeinem kleinen Dorf kennt, sondern es sind wirklich in meinen Augen eher Faschingskostüme und das fand ich erstmal befremdlich. Ich habe dann mit einigen Menschen gesprochen, unter anderem mit einem jungen Mann, der extra aus Almaty, also aus der alten Hauptstadt Kasachstans nach Astana gekommen ist. Und er meinte, er war in einem Kostümverleih, um sich entsprechende Kleidung für dieses Festival zu besorgen und sein Vater sei Wolgadeutscher, mit dem habe er aber gar keinen Kontakt. Er ist aber auf der Suche nach seiner deutschen Identität und er bezeichnet sich auch als Deutscher, obwohl der Rest seiner Familie russisch ist. Dieses Kostüm anzuziehen bedeutet für ihn in dem Moment deutsch zu sein und der Kultur näher zu kommen. Das hat mich sehr berührt. Erstaunlich ist vielleicht, dass in diesen Gruppen auch ganz viele kasachischen Menschen sind, die sich für diese deutsche Kultur interessieren und dann auch deutsche Lieder singen und auch entsprechend tanzen. Das ist irgendwie ein ganz interessantes Bild, dass sich einem bietet. Das ist vielleicht auch, wie sich Kultur in so einem Land weiterentwickeln kann.
Ariane Afsari: Wenn du sagst, dass jemand mit Trachten seine Identität sucht, Wolgadeutscher ist und versucht, mit einer Tracht dem näher zu kommen, würde es mich doch noch mal interessieren, was eure Webdokumentation angeht, die ihr auf der Webseite Copernico publiziert habt, über das Deutsche Theater in Temirtau oder dann auch später in Alma-Ata. Da kommt so ein schönes Kapitel von der Klassik zur Folklore vor, denn wie gesagt, deine Eltern haben in Moskau studiert und da sollten ja eigentlich Stücke, von Theaterleuten wie Lessing oder Schiller aufgeführt werden. Wie kam es dann dazu, dass auf einmal in dem deutschen Dialekt, der dort gesprochen wurde, eigene komponierte Stücke zu sehen waren.
Edwin: Unsere Dokumentation, die Alexej Getmann und ich für Copernico gemacht haben, basiert auf dem Nachlass der früheren Chefdramaturgin des Theaters, Rose Steinmark. Sie hatte dem Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte zwei Umzugskartons voller Material zur Verfügung gestellt und wir dachten, wir machen mal was Schönes daraus. Es gibt ja auch noch Zeitzeugen, mit denen wir Interviews geführt haben und Fernsehaufnahmen von früher, die die Arbeit dieses Theaters darstellen. Bei dieser Webdokumentation kann man sich eben auch die Entstehung dieses Theater nochmal vor Augen führen und die Entwicklung dieses Theaters. Wir wollten bei dieser Webdokumentation auch erzählen, was die Beweggründe der Menschen insgesamt waren, entweder in der früheren Sowjetunion zu bleiben oder zu gehen. Dies am Beispiel des Theaters, weil das Theater auch einen Prozess durchgemacht hatte. Wie in vielen totalitären oder nicht-demokratischen Regimen, unterscheidet sich der Anspruch der Partei oder der Führung von der Realität der Menschen. Gedacht war damals, man installiert ein Theater, in dem deutsche Klassik inszeniert wird. Die große deutsche Dramatik mit Goethe, Schiller und Lessing und dann auch noch in deutscher Sprache. Da stieß man schon auf die erste Herausforderung: Die jungen Menschen konnten nicht so wirklich Hochdeutsch. Die haben in ihren Mundarten gesprochen, die in ihren sibirischen oder zentralasiatischen Dörfer gesprochen wurden. Entweder Plautdietsch oder Wolgadeutsch. Und Goethe kann man dann nicht ohne weiteres spielen. Aber die Studierenden hatten sehr gute Pädagogen, die Ihnen das Bühnendeutsch vermittelt haben. Dann sollten sie aber auch für die deutsche Minderheit Theater spielen. Aber die deutsche Minderheit, durch die Repression und die Deportationen, waren Hochkultur nicht mehr gewöhnt, oder beziehungsweise waren auch nicht so vertraut mit der Hochkultur. Sie wollten auf der einen Seite ihre eigenen Geschichte sehen, also nicht irgendeine Geschichte aus dem 16. Jahrhundert mit verkleideten Menschen, sondern ihre Realität. Zum Teil ihr Dorfleben aber zum Teil auch die Repressionserfahrung ihrer Eltern oder ihrer eigenen. Und dann auch noch in ihrer Mundart. So musste das Theater peu à peu das Repertoire ummodeln. Natürlich liefen dann auch Lessing, Goethe und Schiller. „Die Räuber“ von Schiller war ein großer Renner bei denen. Zum Teil, wenn sie in den Dörfern waren, liehen sie sich echte Pferde aus und sind dann mit den Pferden hin und her geritten. Das war ein großes Abenteuer für alle Beteiligten und zum Teil auch für die Pferde. Aber sie haben zunehmend Stücke in den Mundarten gespielt und dann natürlich zunehmend in der Zeit der Liberalisierung, in der Perestroika, die schwierigen Themen angesprochen und die Zeit des Stalinismus auch auf der Bühne aufgearbeitet.
Ariane Afsari: Wenn wir nochmal auf das heutige Kasachstan gucken. Vielleicht muss man auch mal erklären, warum so viele Russlanddeutsche eigentlich in Kasachstan waren. Ihr wisst das natürlich und es gibt in eurem Podcast auch eine schöne Folge, wo es heißt, es gibt drei Sachen, die man über Russlanddeutsche wissen muss und vielleicht könnt wir einfach mal ein, zwei Dinge dazu sagen, warum so viele in Kasachstan gelandet sind?
Ira: Kasachstan war einfach ein sehr beliebtes Land für deportierte Menschen unter Stalins Diktaturherrschaft. Und da wurden nicht nur Deutsche hin deportiert, so wie meine Familie zum Beispiel 1936 aus der westlichen Ukraine, sondern auch unliebsame Völker wie die Tschetschenen oder auch polnische Menschen, die zum Beispiel in demselben Dorf gelebt hatten, wie meine Großeltern. Das hieß für die deutsche Bevölkerung Verbannung auf Lebenszeit. Rund 400.000 deutsche Menschen sind im Zuge des Zweiten Weltkrieges nach Kasachstan deportiert worden und so sind meine Eltern und auch ich dort geboren worden.
Edwin: Vielleicht für die jüngeren Menschen hier unter uns oder diejenigen, die den Fachausdruck Deportation nicht kennen: Deportation ist eine Zwangsumsiedlung innerhalb eines Landes. Das hießt, nicht die Vertreibung von Menschen, sondern man siedelt Menschen zwangsweise um. Wenn es jetzt plötzlich heißt, alle Brandenburger müssen jetzt nach Nordrhein-Westfalen umsiedeln, aber innerhalb von 48 Stunden mit Sack und Pack. Das ist Deportation.
Ira: Der Grund war, dass unsere Vorfahren ja deutschstämmige waren. Zuerst im Zarenreich und dann in der Sowjetunion. Als Hitler und Stalin dann einen Krieg miteinander begannen, galten die Deutschen als potentielle Verräter oder Spione und deswegen hat man sie eben aus den westlichen Bereichen der Sowjetunion ganz weit in den Osten hin deportiert. Also auch nach Sibirien, nicht nur nach Kasachstan.
Alexej Getmann: Um es für die Jugendlichen hier zu sagen: Es war am Arsch der Welt. Die wurden da hingebracht und die wollte niemand bei sich haben, so wurden sie weggepackt. Teilweise wurden die Familien getrennt. So war das bei meinem Opa, der nach Kasachstan gekommen ist, seine Schwester war in Sibirien. Getroffen haben sie sich erst wieder in Deutschland in den 90er Jahren. Da wurden komplette Familien auseinandergerissen und es war eben nicht eine Umsiedlung, wie wenn in Lützerath gebaggert wird und man bittet die Leute freundlich woanders hinzuziehen und bezahlt denen den Umzug. Nein, die wurden in Züge gepackt und wie Vieh abtransportiert. Dabei ist ein erheblicher Teil gestorben und das hat natürlich Wunden in der Gesellschaft hinterlassen.
Ariane Afsari: Aber für euch drei war Kasachstan ja eigentlich eure Heimat. Da seid ihr geboren und ihr wisst ja von dem Schicksal eurer Großeltern oder Eltern eigentlich nur durch die Familiengespräche oder über eure späteren Filmprojekte, Blogprojekte, journalistischen Projekte. Wie seht ihr persönlich eure Beziehung zu Kasachstan?
Ira: Du hast den Begriff Heimat benutzt. Ich finde, das ist so ein Begriff mit vielen Fragezeichen für mich. Ich weiß gar nicht so recht, was Heimat ist. Als ich jetzt im September nach Kasachstan gefahren bin, habe ich mich auch immer wieder gefragt, ob das jetzt meine Heimat ist? Ich war neun Jahre, als wir da weggegangen sind. Es ist vielleicht eine meiner Heimaten. Aber meine Heimat ist auch Baden-Württemberg, wo ich aufgewachsen bin. Meine Heimat sind meine Freunde, meine Familie, das können ganz unterschiedliche Dinge sein. Aber ist es auf jeden Fall eine Verbundenheit zu dem Land und auch eine Verbundenheit zu der Kultur. Und damit meine ich die kasachische Kultur, die in meiner Familie immer noch eine große Rolle spielt. Es ist einfach fühlbar, wenn man zu mir nach Hause kommt, zu meinen Eltern, dann gibt es einfach bestimmte Speisen, die sie aus Kasachstan mitgebracht haben. Es ist die Art wie man miteinander umgeht: dass man den Tisch reich deckt, dass die Gäste wirklich Könige und Königinnen sind – dass haben unsere Familien auch mitgebracht. Die Kasachen haben wiederum auch einiges von uns übernommen. Als ich in meinem alten Dorf war und über die Straße gelaufen bin, kam plötzlich ein älterer Herr auf mich zu und fing an auf Deutsch mit mir zu sprechen. Der war über 70 und meinte, er kenne meinen Großvater, das war so ein großer langer Mann, und meinen Vater und meine Mutter natürlich auch. Auch diese sprachliche Verbundenheit, die ist ja immer noch da und eine sehr große Wertschätzung gegenüber denen, die vor über 30 Jahren gegangen sind.
Alexej Getmann: Ich würde mich da Ira anschließen. Es ist in dem Fall mehr ein Gefühl, aber ich glaube, für alle, die die Migrationsgeschichte, die wir gehabt haben, teilen, ist Heimat kein fester Begriff, sondern sehr wandelbar und wir können natürlich mehrere Heimaten haben. Es ist vielleicht mehr ein Gefühl, mehr etwas, was einen verbindet und das zurückzuführen ist, auf gemeinsame Erlebnisse oder eben auch auf das Sprachliche, das Kulinarische, das Kulturelle.
Edwin: Ich glaube, es ist dann schon ein bisschen anders als für Menschen, die hier in Deutschland sozialisiert und verwurzelt sind, weil das Gefühl Heimat mit verschiedenen Migrationen verbunden ist. An meinem Beispiel: Meine Schwester und ich sind in Kasachstan geboren. Meine Eltern sind in Sibirien, in Russland geboren. Deren Großeltern sind in der Ukraine geboren, bzw. im Wolgagebiet. Und so ist es schwer zu sagen, wenn es in den Generationen nicht so ein ausgeprägtes Gefühl für einen bestimmten Ort gibt, im Sinne von, dass man schon immer da war und dass das „uns“ gehört. Es ist schon sehr anders dieses Gefühl. Bei den Russlanddeutschen ist ein bestimmter Familiensinn ausgeprägt. Es wird zum Teil dann politisch instrumentalisiert. Die haben so tollte traditionelle Familienwerte, aber ich führe es zurück auf den einzigen verlässlichen Schutzraum für die Menschen, die damals im 20. Jahrhundert herumgeschubst wurden. Nur deiner Familie, deiner Kernfamilie konntest du Vertrauen. Und deswegen identifizieren sich viele Menschen eher mit ihrer menschlichen Umgebung. So war das auch bei mir. Die Heimat für mich in Kasachstan ist meine Großmutter, ist mein Großvater, die mit uns zusammengelebt haben, das Theater von meinen Eltern, ihre Kollegen und das was uns umgab. Natürlich finde ich die kasachische Kultur auch toll, aber ich bin eben kein Kasache und ich habe Wertschätzung dafür, aber ich kann diese Kultur nicht teilen. Um es vielleicht nur kurz zu umreißen: Die Kasachen sind früher ein nomadisches Volks gewesen. Noch vor zwei Generationen waren es Nomaden. In gewisser Weise haben sie Ähnlichkeiten mit den Mongolen in der Lebensweise. Sie sprechen eine Sprache, die dem türkischen ähnlich ist. Sie sind sunnitische Moslems und sie haben große Unterschiede zu europäischen Völkerschaften und Kulturkreisen.
Ariane Afsari: Aber die Kasachen haben sich wahrscheinlich auch nicht unbedingt gewünscht, dass die Russlanddeutschen in ihre SSR deportiert werden und die Sprache war ja wahrscheinlich Russisch, mit der ihr euch vor Ort verständigt habt und zu Hause habt ihr, denke ich mal, Wolgadeutsch oder Plattdeutsch oder andere Dialekte gesprochen. Inwiefern ist da nicht auch Sprache ein Gefühl von Heimat. Gerade auch, wenn man den Film jetzt nochmal betrachtet, dass eben deine Eltern gesagt haben, wir müssen jetzt in der Sprache sprechen, die unsere Zuschauer verstehen und müssen dann von Lessing absehen.
Edwin: Das Thema Sprache ist auch nicht so eindeutig. Bei der letzten Bevölkerungszählung der Sowjetunion 1989 wurde festgestellt, dass eine Millionen Deutsche auf dem Gebiet des heutigen Kasachstans leben. Aber man hat auch ihre Bindung zur Sprache untersucht und weniger als die Hälfte hat Deutsch als Muttersprache bezeichnet. Je industrieller, je großstädtischer das Wohnumfeld dieser Menschen war, desto russifizierter waren sie und sie benutzten Deutsch auch gar nicht in der Familie oder auch in gemischten Familien. Alexej hat es ja vorhin nach dem Film erzählt. Sein Vater ist ein Ukrainer, seine Mutter ist eine Deutsche. Das klingt komisch, aber natürlich hat man in dieser Familie Russisch gesprochen. Weder Ukrainisch, noch Deutsch. Ich habe ein großes Glück gehabt, weil meine Großeltern mit uns gelebt haben. Sie haben nur Deutsch gesprochen, aber das war auch eine Ausnahme.
Ira: Ich kenne viele kasachische Familien, bei denen auch gar kein kasachisches Gesprochen wird, weil dieses Russische einfach so dominant war und uns allen aufgedrückt worden ist, so dass die Sprachekenntnisse verloren gegangen sind. Aber die kehren jetzt wieder zurück. In Kasachstan reden doch jetzt zunehmend mehr junge Menschen kasachisch untereinander.
Ariane Afsari: Dann möchte ich als letzte Frage meinerseits, auf eine Person im Film zurückkommen und die spielt auch bei eurer Webdokumentation eine Rolle. Das ist Bolat Atabajew. Er ist Kasache, Regisseur, war auch am Theater und ich glaube, er hatte einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung von Stücken gehabt, die das Schicksal der Russlanddeutschen selber betreffen und hat das auch vorangetrieben und hat sich, glaube ich, sogar dafür eingesetzt, dass es sowas ähnliches wie die autonome Republik an der Wolga auch in Kasachstan geben sollte, weil so viele Deutsche dort waren. Vielleicht könnt ihr diesen Mann nochmal ein bisschen beschreiben, soweit er euch bekannt ist oder was ihr über ihn wisst?
Alexej Getmann: ich würde da gern noch ein bisschen ausholen. Das, was Edwin eben gesagt über die Unterschiede zwischen den Kasachen und den Deutschen, den Russen ist alles richtig. Die Beziehung zwischen den Kasachen und den Deutschen, war aber immer eine Beziehung von großen Respekt, von großer Zuneigung. Mein Opa zum Beispiel, hat mir immer gesagt, ohne die Kasachen hätten wir nicht überlebt, weil die Kasachen die Deutschen als sie dorthin deportiert worden sind, tatsächlich aufgepäppelt haben. Die haben denen das Leben gerettet, die würden da sonst in der Steppe bei der Kälte, bei den Witterungsbedingungen gar nicht klarkommen. Das heißt, die Beziehung zwischen den Volksgruppen, die waren sehr gut. Und Bolat Atabajew ist Kasache, er war an dem Deutschen Theater tätig, er ist ein großartiger Regisseur, ein großartiger Künstler und Mensch. Ich habe den größten Respekt vor ihm und bin sehr froh, dass er Teil dieser Dokumentation war. Er hat eben diese deutsche Geschichte mit all den Menschen als Regisseur auf die Bühne gebracht und er hat das einfach gelebt. Man hat ihm einfach angemerkt, mit welcher großen Liebe er dahintersteckte und mit dem ganzen Theater diese Geschichte erzählt hat. Eine deutsche Autonomie in Kasachstan: Die Idee ist gar nicht abwegig. Es waren nun mal viele Deutsche in Kasachstan und Kasachstan ist das größte Binnenland der Welt. Es ist ein riesiges Land mit 17 Millionen Einwohnern, so viele, wie wir in NRW haben, um mal die Verhältnisse deutlich zu machen. Da gibt es im Grunde genug Platz. Warum nicht?
Edwin: Das ist die Folge 8 unseres Podcast, die wir mit Bolat Atabajew aufgezeichnet haben und über sein Wirken und Leben gesprochen haben. Bei den Kasachen: Ich weiß nicht, ob man das so pauschal sagen kann, aber es gibt da einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und es gibt öfters auch brutale Ausschreitungen im Land, wenn der Bevölkerung etwas nicht passt, was die Regierung macht. Bolat Atabajew war jemand, der Gerechtigkeitssuchend war. Der Zufall hat es so ergeben, dass er in einer gemischten Siedlung mit Deutschen, ethnischen Kasachen und Koreanern großworden ist. Die Koreaner waren auch nach Kasachstan deportiert worden. Und er hat so etwas wie eine wolgadeutsche Großmutter gehabt und für ihn war das Schicksal der Deutschen nicht so ganz egal. Er hatte sich in dem Theater eben auch politisch engagiert für die Bestrebungen der ethnischen Deutschen in Kasachstan und hatte zum Beispiel auch die Zensurbehörden ausgetrickst. Er war ja der Chefregisseure von dem Theater. Bei Generalproben musste dann die Zensur eigenladen werden. Also Personen von der Kulturabteilung der Stadt, die dann diese Stücke abnehmen mussten. Aber bei der Premiere haben sie dann doch ein anderes Ende des Stückes gespielt als bei der Generalprobe. Das war bereits 1987/ 1988, eine Zeit, in der man dafür nicht mehr ins Gefängnis gehen musste. Aber es hat sehr viel Mut erfordert und die glückliche Fügung war, dass er selbst eben ethnischer Kasache war und kein Deutscher. Die Deutschen haben sich damals nicht getraut, so etwas zu machen. Die waren zu verängstigt durch die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte.
Ira: Ich sage vielleicht noch kurz dazu, dass Bolat leider, kurz nachdem Edwin die Folge mit ihm in München aufgenommen hat, verstorben ist.
Ariane Afsari: Dann doch noch eine letzte Frage an dich, Ira. Du hattest mir noch was anderes von deinen Besuchen in Kasachstan erzählt, nämlich dass es da auch eine traurige Erinnerungskultur gibt, die aber die Kasachen für die Russlanddeutschen übernehmen, nämlich einem ehemaligen Strafgefangenenlager, im ehemaligen Gulag. Dass es da tatsächlich Kasachen gibt, die sich darum kümmern, dass das nicht in Vergessenheit gerät. Wie sieht es da aus? Ist das betretbar? Gibt es da Führungen?
Ira: Das ist schon etwas Besonderes in Kasachstan. In vielen ehemaligen sowjetischen Staaten gibt es eben keine Museen, wo man die Verbrechen des Sowjetregimes in irgendeiner Form darstellt. Ich habe ja eine Zeit lang in der Ukraine gelebt. Da gab es so ein Museum nicht, da gab es nur einzelne private Initiativen. Aber in Kasachstan, in der Nähe von Astana, gibt es ein ehemaliges Frauenstrafgefangenenlager. Es heißt „Alzhir“ und es wurde zu einem Museum umfunktioniert und das ist sehr eindrücklich gemacht. Man kann sich sehr gut vorstellen wie die Frauen dort verhört worden sind, unter welchen Lebensbedingungen sie irgendwie überleben mussten und es hat mich sehr berührt zu sehen, dass Kasachstan sich dieser Erinnerung stellt und diese Geschichte versucht aufzuarbeiten. Das hat mich sehr berührt und das fand ich sehr wertvoll.
Ariane Afsari: Dann erstmals Danke an euch. Gibt es Fragen aus dem Publikum?
Ira: Es kam jetzt eine erste Frage aus dem Publikum und zwar: Wie unsere Eltern darauf reagieren, dass wir uns mit der russlanddeutschen Geschichte befassen? Das ist eine sehr gute Frage. Als ich 2018 das erste Mal in die Ukraine gefahren bin, um das Dorf zu sehen, aus dem meine Großeltern herkommen, da haben meine Eltern gefragt, was ich denn da will? Da gebe es doch nichts zu sehen und außerdem ist doch Krieg in der Ukraine. Meine Familie hat im Westen der Ukraine gelebt, das heißt, tatsächlich gab es den Krieg, aber der war 1000 Kilometer im Osten. Ihr Grund mich abzuhalten von dieser Reise war, dass sie mir diesen Schmerz ersparen möchten, weil nicht viel über diese tragische Familiengeschichte gesprochen wurde zu Hause. Einfach weil die Eltern uns schützen möchten. Die möchten nicht, dass wir uns mit diesen traurigen Themen befassen. Aber ich finde es wichtig, mich damit zu befassen, weil der Schmerz ja trotzdem da ist. Ob wir uns ihm stellen oder nicht. Ich glaube, ich gehöre dann dieser Generation an, die wirklich in Frieden aufgewachsen ist und die genug Kraft vielleicht auch hat, um sich diesen schwierigen Themen zu stellen. Aber es ist immer noch so, dass meine Eltern das natürlich mit Interesse verfolgen – auch unseren Steppenkinder-Podcast oder was ich zu diesen Themen journalistisch mache – aber es ist immer mit einer gewissen Vorsicht. Dieses Politische mach ihnen Angst. In der Sowjetunion warst du als Deutscher einfach nicht politisch. Das war einfach gefährlich für dich. Wenn ich mich mit politischen Themen befassen, dann haben sie, glaube ich, immer die Sorge, dass ich dafür im Gefängnis lande.
Alexej Getmann: Ich möchte dazu auch noch ergänzend was sagen. Da gibt es mit Sicherheit gemischte Meinungen und Gefühle, aber es ist ja überhaupt erst durch unsere Eltern möglich geworden, weil sie es uns ermöglicht haben, durch die Umsiedlung in den 90er Jahren nach Deutschland, dadurch dass sie im Grunde ihr Leben aufgegeben haben. Die haben uns hierher gebracht, die haben teilweise ihr Leben aufgegeben. Wenn ich in viele russlanddeutsche Familie gucke, dann sind sie eben nicht mehr die Akademiker. Sie gehen dann teilweise putzen oder machen Drecksjobs. Dafür, dass es eben den Kindern gut geht, dass sie sich leisten können, zu studieren und wir sind überhaupt erst die erste Generation, die dazu ermächtigt worden ist, diese Geschichte wieder aufzuarbeiten.
Edwin: Bei mir sieht es ein bisschen anders aus. Sie haben ja den Film gesehen. Ich bin in einem Umfeld großgeworden, in dem es um Aufklärung ging. Insofern denke ich mal, dass es sich bei mir sogar auf eine natürliche Art und Weise ergeben hat, dass ich diese Arbeit meiner Eltern weitermache, bzw., das mit meinen Mitteln vielleicht auch ein bisschen neu gestalte. Es ist aber tatsächlich eher wahrscheinlich so, wie es Alexej und Ira gesagt haben, dass in der Allgemeinheit, in der älteren Generation diese Wissen um die eigene Geschichte nicht sehr gut bestellt ist. Und viele Eltern verstehen auch gar nicht, worum es geht, weil die Eltern ja die nachgeborene Generation sind. Das ist ja nicht die Generation, die schreckliches erlebt hat. Das sind die Großeltern und die haben geschwiegen. Die haben geschwiegen, die haben nichts erzählt. Wenn wir jetzt was erfahren wollen, über unsere Großeltern, unsere Urgroßeltern, dann müssen wir in die Archive und meistens sind das Archive der Staatssicherheitsbehörden in der Russischen Föderation. Da kommt niemand hin. Glück hat derjenige, der vorher geforscht hat, wie Ira zum Beispiel. Ira hat in der Ukraine geforscht, wo es etwas einfacher ist, aber in Kriegszeiten ist es auch nicht so einfach, dahinzufahren und zu forschen. Der Umstand, dass die Russische Föderation 2021 eine Organisation mit dem Namen Memorial liquidiert, also aufgelöst und verboten hat. Die einzige große Organisation, die sich mit der Aufarbeitung dieses stalinistischen Erbes beschäftigt hat, hat ja unser Bemühen nochmal um Jahrzehnte wieder zurückgeworfen. Aber es ist auf jeden Fall großes Interesse in der jungen Generation da. Zum Teil muss man das natürlich den Eltern erklären, warum es einem so wichtig ist. Aber wenn es dann um die Aufarbeitung von Traumata geht, dann sitzen alle weinend um einen Tisch. Ich nutzte mal noch die Gelegenheit, um ein Missverständnis aus dem Weg zu Räumen. Wir sprechen die ganze Zeit von Russlanddeutschen. Das ist ein Begriff, der uns besonders im letzten Jahr sehr viel gefordert und abverlangt hat. Besonders in der Kommunikation mit Journalistinnen und Journalisten, mit Medienschaffenden. Der Begriff führt nicht zurück zur Russischen Föderation, zu dem Staat, der gerade einen furchtbaren Krieg vom Zaun gebrochen hat. Sondern der Begriff ist kulturhistorisch und bezeichnet eine historische Gruppe von Menschen, die ins Russische Reich von den Zaren eigeladen wurde. Nach der Oktoberrevolution 1917, nachdem die Kommunisten an die Mach gekommen im damaligen Russischen Reich gekommen sind, sind einige von diesen ethnischen Deutschen bereits nach Deutschland geflohen. Besonders die wohlhabenderen, die es sich ermöglichen konnten zu fliehen. Und hier in Deutschland mussten sie sich ja irgendwie beschreiben und bezeichnen. So haben sie sich in Anlehnung an ihre frühere Heimat Russlanddeutsche genannt und in Abgrenzung vom sowjetischen Russland nicht Sowjetdeutsche. Gleichzeitig haben Volkstumspolitiker hier in Deutschland, in der Weimarer Republik, angefangen diese Volkstumspolitik zu betreiben und haben sich besondere Sorgen gemacht, um die deutschen Minderheiten in Osteuropa und lieferten einen Anlass für die Nationalsozialisten, Länder zu überfallen wie zum Beispiel Polen oder Teile der Tschechoslowakei anzugliedern wie das Sudetenland. Diese Volkstumspolitiker haben diesen Begriff Russlanddeutsche auch benutzt. Also auf der einen Seite Selbstbezeichnung der geflohenen hierher und auf der anderen Seite auch Instrumentalisierung durch Nationalsozialisten. Abes uns fällt kein anderer, besserer Begriff bisher ein. Deswegen sprechen wir von Russlanddeutschen, meinen aber nicht die Russische Föderation und schon gar nicht Putins Russland.
Ariane Afsari: Ich glaube, du erklärst auch einer Stelle im Steppenkinder-Podcast, dass der Unterschied zwischen Aussiedlern und Spätaussiedlern der ist, dass die Spätaussiedler keine deutschen Verwandten mehr in den Ländern haben mussten, in die sie dann kommen sollten. Während die Aussiedler ein paar Jahre zuvor noch diesen Nachweis erbringen mussten.
Edwin: Genau. Du hast es richtig dargestellt. Das ist in der letzten Folge, in der wir Kasachstan erklären.
Ariane Afsari: Wenn keine Fragen mehr sind, dann würde ich gerne mit einem Fazit enden, dass im Film von deinen beiden Eltern gegeben wird. Das eine ist von deinem Vater, der sagt, dass er das Gefühl hat, dass er jetzt eher erkennt, wo Dinge absichtlich so eingerichtet werden, dass man andere Dinge, die man vorher zugestanden hat, trotzdem zum Scheitern bringen kann. Also wo einfach Sollbruchstellen eingebaut werden, so dass eben auch gute Dinge scheitern müssten. Und was ich ganz spannend fand: Deine Mutter hat gesagt, dass sie in Kasachstan sie eine Deutsche war. Dann kam sie nach Niederstetten, nach Baden-Württemberg, da war sie eine Russin oder Russlanddeutsche im besten Fall. Und sie meinte, jetzt wurde sie auf der Straße angesprochen, über die neuen Flüchtlinge, die kommen und da hat sie gesagt, dass man mit der falschen spreche, sie sei auch ein Flüchtling und da wurde ihr gesagt, dass das nicht stimme, dass sie eine Deutsche sei. Ja, dann bedanke ich mich ganz herzlich, für diese neue Folge im Podcast Steppenkinder und danke!
Ira: Danke dir für die tolle Moderation.
Edwin: Dankeschön!