Bild: u.a. FAZ-Verlag, Elena Chernyshova und Kulturreferat für Russlanddeutsche
Inna Hartwich: Unsere Großmütter
Sie träumten von einer Heimkehr und fühlten sich in Deutschland oft in der Fremde – es geht in dieser Folge um die Generation der Großmütter (mit ihren Dialekten, Kopftüchern und Traumata). Über sie sprechen Ira und Edwin mit der Journalistin und Moskaukorrespondentin Inna Hartwich. In Ihrem dokumentarischen Buch Friedas Enkel: Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland geht sie den Spuren ihrer Großmutter nach und analysiert die Auswirkungen der kollektiven Gewalterfahrungen und Erfahrungen einer Zwangsumerziehung von Menschen, die in der Sowjetunion gelebt haben. Auch geht es in der neuen Folge um das heutige Russland. Das Gespräch wurde am 24. März 2024 live vor Publikum auf der Leipziger Buchmesse aufgezeichnet. Kooperationspartner dieser Folge ist das Deutsche Kulturforum östliches Europa.
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Edwin: Herzlichen Dank für das Interesse an unserer Veranstaltung in Kooperation mit dem Deutschen Kulturforum östliches Europa. Wir sind seit mehr als drei Jahren damit beschäftigt, dass wir kulturelle, historische, gegenwartsbezogene Hintergründe über russlanddeutsche Aussiedler über unseren Podcast an die Breite der Gesellschaft vermitteln. Also nicht nur an die Russlanddeutschen, sondern wir versuchen, das allen so sinnvoll und sinnstiftend wie möglich zu erklären, warum diese drei Millionen Menschen in Deutschland leben und als Spätaussiedler hier aufgenommen wurden. Darum geht es in unserem Podcast. Mein Name ist Edwin Warkentin. Ich leite das Kulturreferat für Russlanddeutsche in Detmold am Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte. Ich bin von Haus aus Philologe und studierter Historiker. Und das ist meine Kollegin Ira Peter. Willst du dich kurz vorstellen?
Ira: Guten Morgen und schön, dass ich hier sein darf! Ich bin freie Journalistin, wohne in Mannheim und Inna und ich kennen uns auch schon seit 20 Jahren. Wir haben nämlich zusammen in Heidelberg studiert und waren auch beide in Nizza im Auslandssemester.
Edwin: Möchtest du Inna auch gleich vorstellen?
Ira: Inna wurde ebenso wie Edwin und ich in der Sowjetunion geboren und kam 1992 mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie hat dann später unter anderem in Heidelberg studiert, wurde danach in Mannheim zur Journalistin ausgebildet und ist seit 2008 mit einigen Unterbrechungen immer wieder in Moskau als Korrespondentin für unterschiedliche deutschsprachige Medien tätig. Im Herbst 2023 ist ihr literarisches Sachbuch „Friedas Enkel. Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland“ im „Frankfurter Allgemeine Buch“-Verlag erschienen. Um dieses Buch geht es heute und vorab wird Edwin kurz sagen, um was es in dem Buch geht.
Edwin: Und vor allem schön, Inna, dass du heute hier sein kannst!
Inna Hartwich: Sehr gern. Ich habe es tatsächlich hier her geschafft.
Edwin: Ich hoffe, du erlaubst mir kurz zu erzählen, worum es in deinem Buch geht.
Inna Hartwich: Ich greife dann ein, wenn es nicht stimmt.
Edwin: In dem Buch „Friedas Enkel. Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland“, geht die Autorin der Frage nach, warum war meine Großmutter so wie sie war? Hart zu sich und ihren Nächsten. Pragmatisch, fatalistisch und was steckte hinter ihren Albträume, die sie gegen Ende ihres Leben geplagt hatten. Frieda Hartwig, geborene Sonnenberg, verbrachte ihre Kindheit in einem deutschen Dorf in der westlichen Ukraine. Geriet jedoch, wie so viele 100.000 andere Angehörige der deutschen Minderheit in der Sowjetunion, in der Kriegszeit in die Mühlen der zwei totalitären Systeme. Von der Wehrmacht in den sogenannten Warthegau getrieben. Der Warthegau ist eine Region in Polen, die im nationalsozialistischen Sprech so bezeichnet wurde. Dort hatte sie unter anderem sowas wie Zwangsarbeit verrichtet. Nach Kriegsende wurde sie von der Sowjetunion gegen ihren Willen wieder zurück in die „Heimat“ repatriiert. Sie geriet dann in die Region Ural, wo sie dann richtige Zwangsarbeit verrichten musste. In dieser Zeit verlor sie den Kontakt zu ihrem ersten Mann und lernte dann in der Verbannung ihren zweiten Mann kennen, Richard Hartwig, der auch verwitwet war und in die spätere Ehe brachten er und Frieda ihre Kinder mit hinein und bekamen dann noch gemeinsame Kinder. Nachdem diese Zwangsarbeitszeiten und die Zeit als Sondersiedler vorbei waren sind sie dann freiwillig in eine südliche Region Russlands, in die Grenzregion zu Kasachstan, gezogen und in den 90er Jahren nach Deutschland ausgesiedelt. Sondersiedler ist eine Kategorie von sowjetischen Bürgern gewesen, die bis 1955 keine Freiheiten genossen. In ihrem literarischen Sachbuch analysiert die Autorin entlang ihrer Familiengeschichte und der eigenen Biographie anhand von Reportagen, historischen Exkursen und Analysen die Folgen staatlicher Gewalt in Russland. Die Korrespondentin reiste dafür in die russische Provinz, zum Teil auch zu den Orten ihrer Jugend, aber auch zu den Orten, in denen ihre Familie verbannt war. Darüber hinaus berichtet Inna Hartwich über den Journalismus im heutigen Russland, Kinder- und Jugenderziehung, Geschlechterrollen, Minderheiten, Opposition und vor allem das Verhältnis zwischen Staat und Individuum in einer Gesellschaft, die seit Generationen nichts außer Diktatur, Indoktrination, Totalitarismus und Despotie kennt. Mit dem Buch bietet Inna Hartwich nicht nur Verstehensmöglichkeiten der Kollektivpsychologie des modernen Russlands, sondern auch einen Teil deutscher Migrationsgeschichte. Das heutige Russland ist laut dem UNHCR (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) nach Indien und Mexico das Land mit der dritthöchsten Abwanderung. Sind es in den ersten zwei Ländern die schiere Bevölkerungsgröße und wirtschaftliche Gründe, so sind es bei Russland vor allem politische Gründe, warum Menschen das Land verlassen. Unter den 10 Millionen Menschen, die in den vergangen Jahrzehnten Russland verlassen haben, sind knapp eine Millionen Russlanddeutsche, die als Spätaussiedler hierhergekommen sind und jetzt als Deutsche unter Deutschen hier bei uns leben. Unter anderem wir drei. Das war meine Kurzbeschreibung des Buchs.
Ira: Wir möchten heute über vier Themen mit Inna sprechen. Zum einen wird es um die Generation der russlanddeutschen Großmütter gehen, dann möchten wir über das Thema Erinnerungskultur sprechen, über das heutige Deutschland und Russland. Ich fange mit der ersten Frage an: Du begibst dich in deinem Buch auf die Spuren deiner Großmutter Frieda. Was war das für ein Mensch und was ist aus deiner Sicht so typisch an ihr als russlanddeutsche Großmutter?
Inna Hartwich: Frieda war ein Mensch, der sehr hart zu sich selbst war. Ein Mensch, der über die Jahre hinweg gelernt hat, Emotionen abzustellen. Ich habe sie nie als eine Großmutter erlebt, die ihre Arme ausgebreitet hätte und einen geliebt hätte. Sie war immer sehr distanziert, immer sehr fordern, immer sehr hart und ich habe das als Kind nicht verstanden. Ich hatte noch eine andere Großmutter, die war ziemlich anders und jedes Mal wenn ich den Kontakt gesucht habe, war da eine verschlossene Tür. Als Kind habe ich sie nicht gemocht, weil sie eben so eine harte Frau für mich zu sein schien. Erst mit der Beschäftigung der allgemeinen Geschichte der Russlanddeutschen, mit der Beschäftigung mit ihrer Geschichte, mit den Fragen, die ich dann letztlich über Jahrzehnte hinweg gestellt habe und sehr wenig erstmal erfahren habe, habe ich verstanden, warum sie wahrscheinlich so geworden ist. Frieda hat zwei Vertreibungen erlebt. Damit ist sie ein sehr gutes Beispiel für all die russlanddeutschen Großmütter und nicht nur Großmütter, die ein kollektives Schicksal einfach über sich ergehen lassen mussten. Die in Armut aufgewachsen sind, die sehr viel Gewalt erfahren haben und diese Gewalt dann auch ausgeübt haben und der denen Chance genommen wurde, letztlich sich selbst als Subjekt auch zu begreifen. Das ist natürlich nicht nur den Russlanddeutschen passiert, aber eben auch Russlanddeutschen, die als Menschen fünfter Klasse betrachtet wurden und als Volksfeinde letztlich weggesperrt sein sollten.
Ira: Wie ist sie denn hier in Deutschland aufgenommen worden? Hat sie sich dann hier in der Heimat gefühlt? Ich kenne viele ältere russlanddeutsche Frauen, die dann zum Beispiel Kopftuch in der Öffentlichkeit getragen haben. Hat deine Oma auch so ausgesehen?
Inna Hartwich: Ja, sie sah ziemlich so aus. Sie galt in der Sowjetunion als Faschistin und kaum war sie in Deutschland, für sie ihre Heimat – davon hat sie auch immer gesprochen –, war sie die Russin, die ein komisches Deutsch sprach. Sie sprach ein sehr altertümliches Deutsch. Immerhin sprach sie das. Wir alle sprachen das nicht. Sie hatte auch ein Kopftuch an und Schlappen, mit denen sie auch von innen nach draußen gegangen ist und immer dafür gesorgt hat, dass alles ordentlich ist.
Edwin: Schlappen, die man auch Tapatschki genannt hat. Hattest du auch so eine Großmutter Frieda mit ähnlichen Erfahrungen, Ira?
Ira: Meine Großeltern sind alle Jahrgang 1910, 1912, die sind also leider sehr früh verstorben. Ich bin 1983 geboren, das heißt ich habe nicht so viele Erinnerungen an sie, aber sie haben natürlich eine ganz ähnliche Geschichte mit Vertreibung aus der westlichen Ukraine. Ein Teil meiner Familie war auch in den Warthegau mit der Wehrmacht zusammen gelangt und kam dann später nach Kasachstan und musste auch Zwangsarbeit verrichten. Das Ankommen hier war natürlich dann schwierig, gerade für die ältere Generation, weil sie ja dachten, dass sie in die Heimat kommen und plötzlich war das dann doch keine Heimat. Das muss schwierig gewesen sein, das zu verarbeiten. Hat Frieda darüber gesprochen, wie sich das für sie anfühlt?
Inna Hartwich: Frieda hat auch hier sehr wenig über sich, über ihre Gefühle, über ihre Empfindungen, über das, wie sie das wahrnahm gesprochen. Sie nahm das halt hin. Das hat sie gelernt, das konnte sie sehr gut und die Lage war dann so, wie sie war. Also hat sie sich angepasst und auch von uns allen verlangt, dass man sich anpasst. Das haben wir dann letztlich auch getan.
Edwin: Man spricht bei den Russlanddeutschen auch über eine doppelte Ausgrenzungserfahrung. Wie du es schon gesagt hast: In der Sowjetunion galt sie als Faschistin. Das war eine Bezeichnung für ethnische Deutsche und man hat ihnen dadurch unterstellt, sie würden anders sein und der Sowjetunion Schaden zufügen und waren per se anders und gefährlich. Nachdem sie nach Deutschland gekommen sind und den deutschen Behörden gegenüber nachgewiesen haben, wie deutsch sie sind, wurden sie von der Nachbarschaft und der Bevölkerung einfach nur als Russen bezeichnet. Das ist die doppelte Ausschlusserfahrung, die diese Generation erlebt hat, und die sie wirklich sehr schwer in ihrem Selbstbild getroffen hat. Dieses Nichtaufgenommenwerden in ihrem Schicksal, dass man das nicht akzeptiert hatte.
Ira: Du nutzt Frieda um das, was in eurer Familie verschwiegen wurde, zu erzählen. Gleichzeitig dient Frieda und ihre Biographie dazu, das Verschwiegene, das Verdrängte in der sowjetischen und heutigen Gesellschaft der Russischen Föderation zu erzählen. Welche Parallelen siehst du da und wie hast du sie verknüpft in deinem Sachbuch?
Inna Hartwich: Ich sehe da sehr große Parallelen, denn die Russlanddeutschen, Frieda, letztlich wir alle und alle ex-sowjetischen Bürger haben gelernt, zu verdrängen, haben gelernt, nicht nachzufragen. Es wurde ihnen seit sie klein sind immer gesagt: Steck deinen Kopf nicht raus, sonst wird darauf gehauen. Und es wird bis heute darauf gehauen. In Russland stecken sehr wenige Menschen die Kopf hinaus, weil sie gelernt haben, dass das zum Überleben hilft. Das hatte Frieda gelernt und das lernen die heutigen Kinder in Russland. Und da sehe ich eine sehr große Gefahr, dass man sich mit seiner Vergangenheit nicht beschäftigt. Russland hat die sowjetischen Verbrechen nie verarbeitet und man sieht heute auf eine furchtbare und tragische Weise, was damit geschieht, wenn man das nicht tut.
Edwin: Du bist ja schon sehr lange Korrespondentin in Russland. Übrigens eine der letzten, die durchgehend für verschiedene deutsche überregionale Medien aus Russland berichtet. Gab es denn aus deiner Perspektive eine Zeit in Russland, wo es so einem Schimmer der Hoffnung gab, dass dieses Verschweigen irgendwie aufgearbeitete wird oder aus dem Schweigen ein Sprechen gemacht wurde und wie hat sich das dann entwickelt?
Inna Hartwich: Diese Zeit gab es und da hat man auch gewisse Chancen verpasst. Das waren die 1990er Jahre, die heute als die wilden und die schlimmen 90er auch als Erzählung, als Narrativ missbraucht werden. In den 90ern gab es aber auch viele Dinge, die nicht gut liefen. Freiheit muss man lernen. Freiheit ist ein schwieriges Ding und viele, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, haben diese Freiheit nicht gelernt. Und die wirtschaftlichen Sorgen waren so groß, dass es ihnen letztlich irgendwann mal egal war, was mit den Archiven passiert, was mit der Vergangenheitsbewältigung, wie auch immer sie geartet sein mag, passiert. In den 1980ern wurden ja gewisse Organisationen gegründet. Memorial ist eine sehr bedeutende, die jetzt leider in Russland nicht mehr aktiv sein darf, aber das auf einem gewissen Niveau trotzdem ist. Sie haben Dokumente gesammelt, sie haben sich dafür eingesetzt, dass man die sowjetischen Verbrechen benennt und in ihren Archiven zum Beispiel habe ich auch einiges zu meinen Großeltern gefunden und dadurch, dass die staatliche Politik mittlerweile so ist, dass man Stalin wieder zu einem großen Mann zu machen versucht, zählt diese Geschichte nicht mehr. Man erzählt immer noch die Heldengeschichte und man lebt in dieser Heldengeschichte und alles, was diese Heldengeschichte stört, wird ausradiert.
Edwin: Deswegen werden die junge Menschen in Russland zu Helden erzogen.
Inna Hartwich: Zu kleinen Soldaten.
Ira: Was ist denn das besondere an dem sowjetischen Erbe im Vergleich zu Nachkriegsdeutschland, was die Aufarbeitung schwierig macht?
Inna Hartwich: Dadurch, dass Deutschland den Krieg verloren hat, wurde sie zu einer gewissen Aufarbeitung gezwungen und es gab in Deutschland die 1968er-Generation, die dann nachgefragt hat, was da los war? Die Sowjetunion hat den Krieg gewonnen. Sie waren die Helden und deshalb musste man sich auch mit der eigenen schlimmen Geschichte, mit dem Gulag nicht beschäftigen. Oder man wollte das auch nicht. Und man hat gelernt zu verschweigen und man hat in Angst gelebt. Angst ist ein sehr starkes Ding, so dass man nicht nachfragt, selbst in der Familie nicht. Ich habe das auch schon als Kind erlebt, als man nach dem eigenen komischen Nachnamen gefragt hat, gefragt hat, was wir eigentlich am Ural machen? Und warum wir eigentlich Deutsche sind? Was Deutsche denn am Ural machen? Das ist doch sowjetisch. Da wurde sehr wenig gesagt und schon gar nichts erklärt. Man hatte nur gesagt: Halt die Klappe und frag nicht weiter! Diese Haltung hat sich gehalten und sie ist mitgebracht worden nach Deutschland. Dass man aus einer gewissen Angst heraus dann sagt, dass wir uns lieber nicht damit beschäftigen. Das ist ja auch eine schwierige Sache, sich mit so einer schweren Vergangenheit mit dieser Gewalterfahrung, die man so lange und so weit verschlossen hatte, zu beschäftigen.
Edwin: Kannst du vielleicht kurz beschreiben, woraus diese Gewalt bestand? Wie äußert sich diese Gewalt? Wie hat sie sich früher in der sowjetischen Gesellschaft geäußert und wie äußert sie sich heute?
Inna Hartwich: Tatsächlich als körperliche Gewalt. Man hat die Leute in Lagern untergebracht. Sie mussten dort schuften, sie mussten ein gewisses Soll erfüllen. Dafür bekamen sie Essen. Wenn sie das Soll nicht erfüllt haben, bekamen sie weniger Essen. Sie hatten keine Freiheit. Sie durften sich in den Sondersiedlungen und im Gulag auch nicht frei bewegen. Selbst als zum Beispiel 1955 meine Großeltern sich hätten wegbewegen dürfen aus der Sondersiedlung, konnten sie das nicht, weil sie woanders keinen Job gefunden haben. In der Sowjetunion konnte man nur über den Job woanders hinziehen. Als sogenannte Volksfeinde hat man sie nicht überall anstellen wollen. Dann gibt es natürlich auch die psychische Gewalt. Dass man sagt: Du bist ein Nichts. Du bist ein Kind. Du hast hier nichts zu sagen. Diese Art von Gewalt. Und in der Sowjetunion durfte man auch nicht aus dem Land reisen, wenn man keine besonderen Gründe vorbringen konnte. Russland entwickelt sich mittlerweile auch dazu, dass man in gewisse Länder nicht mehr einfach reisen kann. Es zwar darf, aber auch nicht in alle. Es gibt gewisse Bevölkerungsgruppen, die dürfen das auch nicht. Die Gewalt heute äußert sich im Krieg in der Ukraine sehr geballt, aber auch nach innen. Sobald man einer andere Meinung hat und sie auch öffentlich äußert, steht man mit einem Fuß im Gefängnis. Das wollen nicht alle riskieren und das können auch nicht alle riskieren, weil sie wissen: Hier ist mein Leben. Ich lebe in diesem Land. Ich will überleben also halte ich die Klappe.
Edwin: Du schreibst in deinem Buch auch, dass die Menschen in Russland relativ schnell in Kontakt mit Gewalt kommen. Einerseits familiäre Gewalt: Putin hat häusliche Gewalt per Gesetz bagatellisierest bzw. runtergesetzt. Und junge Männer erfahren das beim Wehrdienst, was heute immer noch eine unrühmliche Tradition ist. Junge Männer durch Gewalt zu brechen.
Inna Hartwich: Man sagt ihnen, dass sie so zum Mann werden. Es ist in der Armee so. Es ist aber auch in den Gefängnissen so. In den Gefängnissen gibt es fast schon eine Foltertradition. Aber es ist auch in den Schulen oder selbst in Kindergärten so. Wenn eine Kindergärtnerin beschließt, dass sie eine Z-Kompanie (das Z symbolisiert in Russland die Unterstützung des Angriffskrieges gegen die Ukraine) bilden, um an einer Veranstaltung aufzutreten, dann können dreijährige alleine von ihrer Entwicklung her nicht sagen: Nein, ich mache das nicht. Also stellen sie sich auf und marschieren während die russische Hymne ertönt. Und die Eltern tragen das mit. Sie finden das zum Teil sogar ganz schön. Die Kleinen sehen ja so hübsch aus. Da wird das immer weiter getragen. Diese Erfahrung: Naja, mit uns hat man das auch gemacht. Das hat uns auch nicht geschadet. Die Frage da ist, ob es wirklich nicht geschadet hat? Und da wird auch gerade an einer neuen, letztlich Menschwerdung gearbeitet. So wie in der Sowjetunion der Neue Mensch erzogen werden sollte, was ja auch durchaus gelungen ist, wird jetzt auch an einer Gesellschaftsordnung herumgebastelt, die Helden reproduzieren soll. Die Familienwerte werden ja im offiziellen Narrativ hochgeschätzt. Es soll eine Mehrkinderfamilie her. Zwei Kinder sind nichts. Ab drei wird es erst Interessant und am besten bekommt man schön acht Kinder. Was das aber heißt wird nicht erklärt. Was das auch für eine Belastung für Familien ist. Hauptsache wir haben das Menschenmaterial, mit dem wir alles anstellen könne, was wir wollen. So die Politik.
Ira: Inna und ich haben uns ja mit Anfang 20 in Heidelberg an der Uni kennengelernt und wenn ich mich richtig erinnere, war das Thema unserer Herkunft, dass wir Russlanddeutsche sind, nie ein Thema zwischen uns. Ich finde es so interessant, dass wir uns beide beruflich damit so intensiv auseinandersetzten. Wann kam denn bei dir dieses Interesse auf?
Inna Hartwich: Das Interesse war für mich persönlich eigentlich immer da. Allerdings hatte man gewisse Erfahrungen gemacht, auch in Deutschland. Man will ja als Kind, als Jugendlicher dazugehören. Und wenn man diese Ausschlusserfahrung macht – du bist aber komisch, siehst komisch aus – dann will man das ja nicht. Dann schämt man sich auch für sich und für seine Eltern und für ihre Sprache. Aber im Inneren interessiert es einen warum man eigentlich so ist und was hat einen zu dem gemacht, was man ist. Und ich habe jahrelang nichts darüber erzählt, woher ich komme, weil ich immer das Gefühl hatte, dass das als negativ empfunden wird. Ich hatte letztens meine ehemalige Französischlehrerin getroffen und die sagte: Für mich warst du immer eine Urdeutsche und das fand ich irgendwie auch etwas erschreckend, weil ich dachte, dass meine Tarnung echt perfekt war. So richtig angefangen mich dafür zu interessieren, habe ich als ich 2008 nach Russland ging und dann 2010 für mehrere Jahre. Ich wollte immer auch in diese Sondersiedlung fahren, wo mein Vater zur Welt gekommen ist, weil es immer so etwas fast mystischen hatte in der Familie. Und ich dachte, ich will mir das angucken, weil sie darüber sehr wenig erzählen konnten. Ich merke aber heute, dass es mir in manchen Situationen schwerfällt zu sagen: Ja, ich bin Russlanddeutsch, weil die Leute immer noch extrem wenig darüber wissen, wer wir sind. Und das finde ich ehrlich gesagt erschreckend, weil ich mir dann denke, dass Millionen von uns da sind. Das sind eure Nachbarn. Warum beschäftigt ihr euch nicht damit, was das für Menschen sind? Dass sie keine Russen sind. Die sind vielleicht etwas anders geartete Deutsche, weil sie eben eine etwas anders geartete Prägung mitbringen, aber es sind Deutsche und es ist ein Teil der deutschen Geschichte.
Ira: Wie wirst du denn in Russland wahrgenommen? Als Deutsche, als Russin? Merken sie, dass du längere Zeit nicht in Russland gelebt hast?
Edwin: Inna spricht akzentfrei Russisch deswegen fällt du gar nicht so auf, wenn du dich nicht vorstellst, oder?
Inna Hartwich: Genau. Wenn ich einfach durch die Straßen laufe, bin ich so eine wie alle anderen auch. Ich bin sehr seltsam für die Leute, glaube ich. Sobald ich mit ihnen spreche, bin ich eine Russin in ihren Augen. Ich stelle aber manchmal auch außerhalb der Arbeit seltsame Fragen, bei denen sie dann denken…
Edwin: …solche Fragen stellen keine Russen.
Inna Hartwich: Ja, genau. Das wird mir auch tatsächlich gesagt: Hast du die letzten 20 Jahre verpasst? Und ich denke dann: Ja, habe ich! Beim Arbeiten werde ich als suspekt wahrgenommen. Immer mehr tatsächlich, weil ich da Russisch spreche, meine Notizen aber oft auf Deutsch mache und dann gucken sie und denken: Was das eigentlich für eine ist? Ist sie nicht Spionin? Und das ist ein Vorwurf, der gefährlich sein kann. Als ich als Studentin in St. Petersburg mein Austauschsemester gemacht habe und durchs Land gefahren bin, wurde ich immer als „nascha“ (unsere) wahrgenommen. Quasi die Unserige. Sie kommt jetzt hierher, wo sie geboren ist und das ist ja ganz schön. Dann darf sie auch komische Fragen stellen und komisch reagieren, über unsere Witze nicht lachen oder über Sachen lachen, über die wir nicht lachen. Ich bin irgendwie zwischen allem ein bisschen. Im heutigen Russland ist das schwierig, das zu sein, was man ist. Vor allem, wenn dieses Ich von der offiziellen Politik als fremd, falsch, anders wahrgenommen wird. Und seien es nur grüne Haare. Dann hat man in der Schule oder im Kindergarten Probleme. Oder man wird am Flughafen rausgezogen, um zusätzliche Fragen gestellt zu bekommen. Das geht dann noch weiter. Es gibt gewisse Gesetze, die ein gewisses Ich-Sein verbieten. Die LGBT-Bewegung ist als extremistisch eingestuft worden.
Edwin: Die Zeugen Jehovas auch.
Inna Hartwich: Selbst einige Literaten gelten als Terroristen. Das merkt man auch im täglichen Leben, dass auch den Kindern gesagt wird: Verhalte dich unauffällig. Und dieses „verhalte dich unauffällig“ kenne ich auch als Kind.
Ira: Was haben denn Russlanddeutsche, die heute in Deutschland leben, überhaupt mit der Russischen Föderation gemeinsam? Du kennst ja beide Ländern sehr gut.
Inna Hartwich: Es kommt ja immer darauf an, welche Russlanddeutschen man betrachtet. Ich glaube, viele, vor allem auch ältere Russlanddeutsche, haben diese Angst, die sie noch aus der Sowjetunion mitgebracht haben, sehr verinnerlicht und sie wollen die Vergangenheit und die Mechanismen, die die Sowjetunion ihnen sehr gut eingeimpft hat, nicht verarbeiten. Die lassen sich wahrscheinlich auch gerne und oft vom russischen Fernsehen vereinnahmen, weil gewisse Narrative so in ihrem Kopf stimmen. Ich habe in Deutschland mit relativ wenigen Russlanddeutschen zu tun, zumal ich in den letzten Jahren auch nicht mehr hier lebe. Aber viele Jüngere, glaube ich, kennen die Geschichte nicht so richtig. Das merke ich zum Beispiel auch bei meinem Bruder, der einen russischen Vorname hat und immer so als der Russe galt und sich immer dagegen wehren musste, dass er eben kein Russe ist. Er kann aber wenig dazu sagen, was er eigentlich ist, bzw. was die Geschichte seiner Vorfahren ist. Er hat jetzt mein Buch gelesen und sagte dann: Ach so ist das! Da denke ich: Immerhin! Ich glaube, da ist wenig, aber auch wenig aus der Mehrheitsgesellschaft da, diese Fragen stellen zu können, stellen zu dürfen und nicht das Gefühl zu haben, dass man hier fremd ist. Denn wenn man dieses Gefühl hat, versucht man, glaube ich, einiges, um nicht fremd zu sein und beschäftigt sich dann weniger damit, was vor 200 Jahren war.
Edwin: Was glaubst du, warum aus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft kein sonderliches Interesse für dieses Thema da ist? Hast du dir darüber Gedanken gemacht, woran das liegt, dass das Interesse nicht da ist?
Inna Hartwich: Das frage ich mich auch immer wieder. Ich glaube tatsächlich, weil auch in den 90ern als so viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, sehr wenig dafür getan wurde, den Leuten zu erklären, wer sie sind. Wer diese neuen, komischen Menschen sind, die ins Land gekommen sind. Das waren für viele einfach die Russen, weil sie tatsächlich anders ausgesehen haben, anders gesprochen haben, kein Deutsch gesprochen haben und immer die Fremden waren. Zwar immer ganz tüchtig, aber doch irgendwie anders.
Edwin: Ich glaube, Deutschland war damals in den 90er Jahren mit der Wiedervereinigung so beschäftigt, dass man kaum noch Ressourcen und Möglichkeiten sah, sich anderen Themen zuzuwenden. Dabei hatte ja der Fall des Eisernen Vorhangs eben nicht nur die deutsch-deutsche Wiedervereinigung befördert, sondern auch die Aussiedlung so vieler anderer Menschen ermöglicht, die jahrzehntelang dafür gekämpft haben, auszusiedeln. Wie auch in deiner Familie der Großvater Richard. Du schreibst darüber ja, dass der sein Leben lang davon geträumt hat, nach Deutschland aussiedeln zu dürfen, aber es ist ihm nicht gelungen. Hatten sie damals Versuche unternommen oder was hat sie davon abgehalten früher als in den 90er Jahren auszusiedeln.
Inna Hartwich: Sie hatten in den 70ern einen Versuch unternommen zu gehen, weil es tatsächlich Verwandte gab, die in den 70ern ausgewandert waren. Und so richtig weiß ich es nicht, weil sie nicht so recht darüber sprechen wollten, aber es hieß dann, dass irgendwas nicht geklappt hat und sie dann nicht mehr weitergekämpft haben. Auch weil sie Angst hatten, dass es sich gegen sie wenden könnte und dann dachten sie, dass sie ein paar Jahre warten. Dann versuchte das auch mein Vater als junger Mann und bei dem funktionierte das auch nicht, weil seine Eltern das hätten machen müssen und sie hatten ein bisschen Bedenken und eine sehr große Vorsicht, das nochmal zu wagen.
Edwin: Tatsächlich waren das ja die sowjetischen Behörden, die viele Menschen gehindert haben auszusiedeln. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit den 50er Jahren dieses Programm gehabt, aber das waren eben die sowjetischen Behörden, die die Menschen gehindert haben auszusiedeln, bzw. sie auch mit Restriktionen überzogen haben, oder auch Verfolgungen. Es gibt da viele Fälle, die wir auch in unserem Podcast angesprochen hatten, von Menschen, die als Dissidenten aktiv waren, die zum Teil Flugzeuge entführt hatten, um aus der Sowjetunion herauszukommen, um als Spätaussiedler hier in der Bundesrepublik Deutschland anerkannt zu werden. Ich glaube, man hat irgendwie verpasst, diese Geschichte zu vermitteln, als eine dramatische Geschichte des unbedingten Willens aus der Sowjetunion herauszukommen. Im allgemeinen Bewusstsein sind es Dinge wie, dass sich die Möglichkeit gut ergeben habe, dass die wirtschaftliche Situation eben so prekär in der zerfallenden Sowjetunion war, dass es den Menschen eben einfacher war, nach Deutschland zu gehen. Aus meiner Sicht ist es nicht wirklich sinnstiftend für Friedas Enkel, also für die Nachfolgengeneration, um zu verstehen, warum die Eltern sich damals entschlossen haben, die Sowjetunion zu verlassen. Wie seht ihr das?
Inna Hartwich: Bei meiner Familie war das tatsächlich ein sehr tiefer Wunsch in die Heimat zurückzugehen. Sie konnten zwar wenig erklären, was diese Heimat ist und sie hatten überhaupt keine Vorstellung davon, was diese Heimat ist, aber es war Deutschland und darüber wurde immer gesprochen. Als sich dann mit dem Fall des Eisernen Vorhangs diese Möglichkeit bot, diese Dokumente einfacherer einzureichen und die Sowjetunion zu verlassen, haben sie diese Chance genutzt und kamen in Deutschland an und waren durchaus überrascht, dass dieses Deutschland doch so anders war als sie sich das ausgemalt hatten.
Ira: Ich würde gerne jetzt noch ein Schwank machen zum heutigen Russland. Du bist als Korrespondentin seit vielen Jahren vor Ort. Wie ist denn so deine Wahrnehmung? Jetzt waren kürzlich „Wahlen“ in der Russischen Föderation. Wie viel Zuspruch hat Putin wirklich? Und wie ist die Stimmung aktuell im Land?
Inna Hartwich: Er hat sicherlich keine 87 % Zuspruch, aber die Mehrheit steht aus unterschiedlichen Gründen hinter ihm. Die Meisten, weil sie Konformisten sind, weil sie sich im Leben eingerichtet haben und denken, dass es auf mich nicht ankommt. Ich kann hier sowieso nichts verändern, also lebe ich mein Leben so, wie es mir gerade gefällt und machen und reden es sich schön. Es gibt Leute, die finden alles gut, was er macht. Das ist aber eine Minderheit eigentlich. Genauso eine Minderheit gibt es, die alles Schrecklich findet, was dort passiert. Die sich aber auf Grund der Gesetze zurückzieht und in so einer Art politischen Winterschlaf gegangen ist. Ich fand es sowohl bei der Beerdigung von Nawalny als auch bei der sogenannten Wahl, bei der es diese Aktion „12:00 Uhr gegen Putin“ gab, wo man sich in die Schlange vor die Wahllokale stellen konnte, wenn man dagegen war, dass die Menschen da so aufgeblüht sind, weil sie gesehen haben, dass sie nicht alleine sind. Das fand ich tatsächlich sehr berührend und das war gerade bei der Wahl zu sehen. Bei der Beerdigung traf man ja verschiedene Leute, aber bei der Wahl war das ein kleinerer Bezirk. Das war dein Haus, das war das Nachbarshaus und das Haus, des Nachbarn und du siehst, dass sind meine Nachbarn, von denen ich eigentlich gar nicht wusste, dass sie ähnlich denken wie ich. Und die siehst du dann ja später auch im Hof, beim Einkaufen und das ist eine Art Vereinigung zumindest im Geiste. Sie können wenig ausrichten, weil die Gesetze einfach so hart sind. Man kann kaum mehr etwas öffentliches gegen das diktatorische Regime sagen. Ich habe mich früher immer geweigert, dieses Land als Diktatur zu bezeichnen und heute sage ich, dass es eine ist. Durch und durch mit teiltotalitären Tendenzen, weil – das hat auch diese Wahl gezeigt – von den Leuten verlangt wird, nicht nur für oder gegen ihn zu sein, sondern es tatsächlich auch zu zeigen, dass man dafür ist. Es gibt Bürgermeister, es gibt Beamte, die dann sagen, dass sie jeden überprüfen, der nicht zur Wahl gegangen ist. Und wenn er nicht zur Wahl gegangen ist, dann wird er gefeuert. Du musst dich bekennen zu diesem Regime. Wenn Menschen sich aber gegen das Regime bekennen – was ja durchaus geschieht – und es sind sehr mutige Menschen, dann haben die ein sehr schwieriges Leben dort und teils endet das dann mit dem Tod.
Ira: Inna, ist es dann nicht auch für dich gefährlich, wenn du so klare Worte findest? Klar, du hast einen deutschen Pass, aber du lebst dort und die Regeln verschieben sich nach Gutdünken, habe ich den Eindruck. Wie empfindest du deine persönliche Gefahr?
Inna Hartwich: Es gibt eine Gefahr und ich empfinde auch ein gewisses Damoklesschwert über mir, weil dieses Regime natürlich ein sehr willkürliches ist und die Ungewissheit sehr groß ist. Allerdings halte ich es für wichtig, dass man aus diesem Land berichtet, weil man wissen muss, was in diesem Land passiert. Und solange es möglich ist und solange es für mich auch persönlich möglich ist, zu sagen, dass ich das tragen kann, die Ressourcen, die Kraft dafür zu haben, will ich dort sein, um auch tatsächlich den Millionen Menschen, die im Winterschlaf sind und sich hin und wieder äußern, die Stimme zu geben, die sie verdient haben. In Russland hört sie niemand und ich hoffe, dass man sie in Deutschland hört, weil es tatsächlich diese Stimmen gibt und dieses Land zwar Krieg führt und viele diesen Krieg wie auch immer rechtfertigen und mittragen, aber es sind eben nicht alle. Auf diese Menschen muss man schauen und auf diese Menschen muss man setzen und ihnen vielleicht Europa auch nicht ganz verschließen.
Edwin: Eine unmittelbare Auswirkungen dieser Politik und dieses Verhältnisses zwischen der Person Inna Hartwich und der Politik in Russland war zum Beispiel unsere Veranstaltung am 27. März in Köln im Lew-Kopelew-Forum. Die haben wir geplant und durchgeführt, aber im März wurde das Lew-Kopelew-Forum, ein in Deutschland eingetragener Verein, der in Russland nicht aktiv ist, benannt nach dem sowjetischen Dissidenten Lew Kopelew, zur unerwünschten Organisation erklärt. Und da mussten wir uns absichern und Inna fragen, ob es für sie überhaupt okay ist, dass sie eine Veranstaltung bei einer Organisation als Gästin durchführt, die in Russland vom Justizministerium als eine unerwünschte Organisation eingetragen ist. Dann schwingt im Hinterkopf immer so eine innere Zensur mit.
Inna Hartwich: Ich würde das nicht als Zensur bezeichnen, aber unerwünschte Organisation ist halt schon ein Label, dass sich natürlich gegen russische Staatsbürger richtet. Und wenn man als russischer Staatsbürger für eine unerwünschte Organisation arbeitet, wie auch immer diese Arbeit dann definiert wird, wird man kriminalisiert. Es ist ein Verbrechen. Und man muss sich dafür verantworten. Es ist für mich natürlich schon eine Abwägung. Als diese Meldung kam, dachte ich, oh nein, was heißt das für mich. Ich bin zwar keine russische Staatsbürgerin, aber ich arbeite ja in Russland. Da hatte ich tatsächlich einen Anwalt gefragt, was das denn für mich hieße und er sagte dann auch, dass es sich gegen russische Staatsbürger richtet, man es aber nie weiß. Ich lebe ja in dieser Blase, bei der man nie weiß. Und man muss gewisse Dinge einfach berücksichtigen, sie durchplanen und das frisst natürlich sehr viel Kraft. Dann sagt man: Okay. Soweit kann ich gehen und soweit sollte ich vielleicht nicht gehen.
Ira: Inna, wir haben noch eine klassische Frage, die wir jedem Gesprächspartner stellen. Was verbindet dich mit der Steppe?
Inna Hartwich: Was mich mit der Steppe verbindet? Ich spiele Akkordeon und es gibt ein russisches Lied: „Step da step krugom“ also „Steppe überall drumherum“. Und als ich nach Deutschland kam, waren meine Eltern der Meinung, dass das Kind in die Gesellschaft muss. Das könne sie ja über die Musik. Und es gab bei uns im Ort ein Akkordeonverein und da sollte ich vorspielen. Und ich habe „Step da step krugom“ gespielt.
Ira: Liebe Inna, vielen Dank, dass du Gästin unserer 44sten Steppenkinder-Podcastfolge warst und alle Gute für dich weiterhin.
Inna Hartwich: Sehr gern. Danke für die Einladung!
Edwin: Und das war Live von der Leipziger Buchmesse 2024. Daher auch diese atmosphärischen Geräusche im Hintergrund. Für diejenigen, die sich fragen, warum hier so viele Nebengeräusche im Podcast sind. Das ist nicht das rauschen der Steppe, sondern das Rauschen der Messebesucher. Dankeschön.
Ira: Danke für Ihr Kommen!