Karoline Gil und Hartmut Koschyk: Von „Strebermigranten“ und der Tante aus Schlesien - Aussiedler*Innen aus Polen
Zuwandernde aus Polen, speziell aus der Grenzregion Oberschlesien, stellten bis Ende der 1980er Jahre die größte Gruppe der AussiedlerInnen in Deutschland dar. Ihre Geschichte unterscheidet sich von der der AussiedlerInnen aus der ehemaligen Sowjetunion, es gibt aber auch viele Gemeinsamkeiten: Die Erfahrung in einem sozialistischen Land als Minderheit gelebt zu haben, Auswanderung nach Deutschland und Integration. Mit Karoline Gil, die zur mitgebrachten Generation der AussiedlerInnen aus Polen zählt, und Hartmut Koschyk, dem ehemaligen Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung und selbst Kind vertriebener Oberschlesier, sprechen wir in dieser Folge über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen zwei Gruppen sowie über Themen der deutschen Minderheit im jetzigen Polen.
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Edwin: Meine Ur-Ur-Ur-Urgroßeltern sind im 19. Jahrhundert nach Russland ausgewandert. Aber nicht aus Deutschland, sondern aus der Gegend um Danzig, die heutige polnische Stadt Gdansk. Wären sie aber geblieben und später, wahrscheinlich in den 1970er, 1980er Jahren, nach Deutschland ausgesiedelt, dann wären wir wahrscheinlich Aussiedler aus Polen und nicht Aussiedler aus Kasachstan. Bei dir ist es ja ähnlich, oder?
Ira: Meine Familie väterlicherseits kommt auch aus Preußen. Das heißt, wären sie damals geblieben, dann wäre ich wahrscheinlich auch eine Aussiedlerin aus Polen geworden. Und genau diese Gruppe ist Thema unserer heutigen Folge. Wir werden mit zwei Gästen darüber sprechen: Mit Hartmut Koschyk und Karoline Gil.
Edwin: Karoline Gil hat Kulturwissenschaften, Ost- und Südosteuropa-Wissenschaften und Politik studiert. Sie ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Dialoge und Leiterin des Bereichs Integration und Medien am Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart. Manche kennen das unter der Abkürzung ifa. Karoline Gill publiziert regelmäßig im Bereich Kultur und Geschichte. Seit Mai 2020 veröffentlicht sie Videointerviews auf ihrem YouTube-Chanel, wo Ira und ich auch schon Gäste sein durften.
Ira: Karoline, wo wurdest du geboren? Und wann seid ihr nach Deutschland gekommen?
Karoline Gil: Das ist eine Frage, die mir ganz oft gestellt wird. Und es ist nicht immer so einfach zu beantworten. Geboren wurde ich in einer Kleinstadt in Oberschlesien. Die Familie meines Vaters sind Polen, die aus den damaligen Ostgebieten zunächst erst einmal nach Niederschlesien vertrieben wurden und dann Arbeit gefunden haben in Oberschlesien. Die Familie meiner Mutter ist deutsch und lebte sehr lange in Oberschlesien.
Ira: Wann haben deine Eltern sich dazu entschieden, nach Deutschland auszuwandern?
Karoline Gil: Wir sind im August 1988 nach Deutschland gezogen, ich war fünf Jahre alt. Meine Eltern haben den Umständen entsprechend gehandelt. Es war ja die Volksrepublik Polen: 1980 die Gründung der Gewerkschaft Solidarność, 1981 Ausrufung des Kriegszustandes, der bis 1983 ging. Die ganze Situation in einem sozialistischen Land Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Meine Eltern, wie so viele andere, wussten nicht, was das Jahr 1989 bringt. Es war nicht einfach, positiv in die Zukunft zu blicken. Deutschland lag aufgrund des familiären Hintergrundes nahe.
Ira: War es ähnlich wie bei den AussiedlerInnen aus der ehemaligen Sowjetunion, dass ihr auch die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen habt? Gab es Integrationshilfen?
Karoline Gil: Man kann die Situation bestimmt mit vielen AussiedlerInnen aus dem heute postsowjetischen Raum vergleichen. Wir hatten das Glück, dass wir nicht in Friedland leben mussten. Wir waren sofort in einer Wohnung, die davor von meiner Tante organisiert worden war. Wir hatten das Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Meine Eltern haben beide an Sprachkursen teilgenommen.
Edwin: Die gemeinsame gesetzliche Grundlage ist des Bundesvertriebenengesetz, nachdem AussiedlerInnen aus den postsowjetischen Staaten und den sogenannten früheren Ostblockstaaten kamen. Sie ist eine gemeinsame Klammer, obwohl es auch sehr, sehr viele Unterschiede gibt.
Karoline Gil: Es war in den 1990er Jahren so, dass alle, die aus Osteuropa gekommen sind, Russland sowieso, über einen Kamm geschoren wurden. Man wurde von Mitschülerinnen und Mitschülern mit Stereotypen konfrontiert war, mit Vorurteilen gegenüber Polen, die natürlich nicht von heute auf morgen entstanden sind, sondern über Jahrhunderte, und auch geprägt waren durch den Zweiten Weltkrieg und die Zeit des Sozialismus.
Ira: Wie war das für dich als Kind mit dieser Migrationsgeschichte? Bist du damit selbstbewusst umgegangen oder hast du dich dafür geschämt?
Karoline Gil: Als Kind oder Jugendlicher nimmt man das sicherlich anders wahr und es ist sehr schwer, die Grenze zu ziehen oder auch zu verstehen, was gewöhnliches Necken und was nicht okay ist. Damals wusste man in Deutschland wenig über Polen, bis heute gibt es große Defizite. Und während dann im Gymnasium zum Beispiel eine Mitschülerin aus Kolumbien cool war, waren es Polen oder Aussiedler aus Russland nicht. Damit hat man wirklich gekämpft. Erst im Studium hat sich das wunderbar zusammengefügt. Ich habe mich entschieden, Kulturwissenschaften und im Nebenfach Osteuropa-Wissenschaften und Polonistik zu studieren und dort habe ich auf Kommilitonen getroffen, die sich für den osteuropäischen Raum interessiert haben. Ich habe dann mit dem Thema eigentlich nur ein Vorteil gehabt, dass ich eben diese Erfahrung hatte, dass ich das Land kannte. Insofern bin ich auch froh, dass ich diesen Hintergrund heute auch in meiner Arbeit integrieren kann.
Edwin: Was machst du denn genau beim Institut für Auslandsbeziehungen?
Karoline Gil: Im Institut für Auslandsbeziehungen gibt es einen Bereich, der die deutschen Minderheiten im östlichen Europa und den Staaten der GUS fördert. Wir haben unterschiedliche Programme und Projekte mit einem Schwerpunkt auf Jugend. Das heißt Nachwuchsförderung der deutschen Minderheit und Medien. Wir haben beispielsweise ein Entsendeprogramm und entsenden aktuell 23 Kulturmanager, Kulturmanagerinnen und Redakteure, Redakteurinnen an Vereine, Organisationen, Redaktionen.
Ira: Wie ist das dann mit der deutschen Minderheit im heutigen Polen? Wie viele Menschen mit deutschen Wurzeln leben heute noch in Polen?
Karoline Gil: Die deutsche Botschaft in Warschau nimmt eine Zahl von circa 300.000 bis 350.000 Deutschen an, die in Polen heute leben. Die Deutschen in Polen leben nicht nur alle komprimiert in einem Siedlungsgebiet, sondern sind verteilt auf Niederschlesien, Oberschlesien, Ostpreußen oder beispielsweise Pommern.
Edwin: In der sozialistischen Zeit hatte die deutsche Minderheit keinen einfachen Stand. Es gab sogar die Parteidoktrin in Polen, dass es keine deutsche Minderheit in Polen gibt. Wie hat sich das zum heutigen Tag verändert?
Karoline Gil: Dass die Minderheit anerkannt ist, davon spricht man seit 1991. In diesem Jahr begehen wir das 30-jährige Jubiläum des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages, was die Grundlage für die neuen Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern ist. Dort wurden auch die Rechte der Minderheiten diskutiert, so der Polen in Deutschland und der deutschen Minderheit in Polen. Seit 1991 sind die Rechte der deutschen Minderheit in der Verfassung der Republik Polen garantiert. Die Minderheit in Polen ist sehr gut integriert.
Ira: Was hat sich in Polen seit dem EU-Beitritt für die dort lebenden Deutschstämmigen geändert?
Karoline Gil: Das Jahr 2004 hat eine große Bedeutung für das Land. Für alle, nicht nur für die Deutschstämmigen. Der Beitritt war die treibende Kraft nach dem Ende der Volksrepublik. Dieser Wunsch, eingebunden zu werden in die westliche Gemeinschaft und diese Rückkehr nach Europa: Es herrschte eine große Europa-Euphorie gerade bei jungen Menschen. Es hat sich wahnsinnig viel für alle geändert, insbesondere auch durch die EU-Mittel. Es ist sehr viel getan worden. Auch 2011 spielt eine wichtige Rolle, denn das ist die Einführung auf europäischer Ebene der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Polen und andere Länder.
Edwin: Zurück zu den Aussiedlern hier in Deutschland; Wie hat sich denn die Integration oder das Einleben in die deutsche Gesellschaft bei den Aussiedlern aus Polen entwickelt?
Karoline Gil: Man kann das kaum so einfach beantworten. Es hängt meiner Meinung nach viel mit den Faktoren zusammen, wann man nach Deutschland gekommen ist, woher man gekommen ist. Die Familiengeschichte spielt eine Rolle. Alter, die Bildung, der Ausreisegrund, für mich auch der Integrationswillen, Aufnahmesituation und die Erfahrungen, die man in der ersten Zeit gemacht hat und eben die Motivation. An diesen Faktoren würde ich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausmachen. Sowohl bei denen, die aus Polen gekommen sind, wie auch aus der ehemaligen Sowjetunion, gibt es so einen Spagat – aus meiner persönlichen Erfahrung – zwischen Integration, Assimilation und Isolation. Also, hat man diesen Willen gehabt Deutsch zu lernen, sich wirklich zu integrieren? Wurden die Studienabschlüsse, wurden die Berufsabschlüsse anerkannt? Oder eben hin zu einer Isolation. Was uns sicherlich alle verbindet, kommt natürlich darauf an, von welchem Alter wir sprechen, ist die Erfahrung in sozialistischen Ländern gelebt zu haben. Und was einen auch noch verbindet, sind die Erfahrungen in den ersten Jahren, nachdem man nach Deutschland gekommen ist. Diese besondere Erfahrung eint uns sicherlich und ich finde auch, dass das leider noch nicht ausreichend genutzt wird. Habe ich wirklich für meinen russlanddeutschen Nachbarn Interesse gezeigt, als jemand, der selber aus Polen gekommen ist? Wir könnten noch mehr Wissen austauschen über diese Erfahrung, dieses Wissen auch weitergeben an Gruppen, die es heute benötigen und gleichzeitig auch dieses Thema in die Gesellschaft bringen.
Edwin: Du hast eine interessante Sache angesprochen: Die ersten Nachbarn, die wir hier in Deutschland hatten, war die Familie Jendrysik aus Schlesien und dass sie aus Schlesien kommen, habe ich erst vor fünf Jahren erfahren. Solange wir in einem Haus zusammengelebt haben, haben wir uns für die gegenseitigen Geschichten nicht interessiert. Wir müssen uns viel mehr für unsere Geschichten interessieren und miteinander auch sprechen.
Ira: Emilia Smechowski, die Autorin, die auch als Aussiedlerin aus Polen mit ihrer Familie in den 1980ern kam, hat den Begriff Strebermigranten mit ihrem gleichnamigen Roman geprägt. Würdest du sagen, dass die Aussiedler aus Polen Strebermigranten sind? Ich nehme wahr, dass ihr euch ebenso unauffällig und gut integriert habt, wie die meisten Russlanddeutschen.
Karoline Gil: Meine Familie hat sich integriert und es stand damals, glaube ich, gar nicht zur Debatte. Meine Eltern wollten, dass wir eine gute Schulbildung genießen, dass wir alle Angebote, die das deutsche Bildungssystem hat, auch nutzen können. Insofern würde ich von einer gelungenen Integration sprechen. Ich kann mich sehr gut erinnern, Ira, an ein Gespräch mit dir, dass du mal gesagt hast: Man wollte deutscher sein als die Deutschen, als man angekommen ist. Und ich würde dem zustimmen, dass es für viele, bestimmt nicht für alle, die Motivation gab, nicht sichtbar zu sein, gleichbehandelt zu werden, um den Kindern und sich selbst ein gutes Leben zu ermöglichen. Ein besseres Leben, für das man sich ganz bewusst entschieden hatte. Man wollte anerkannt sein, auch mit dieser deutschen Vergangenheit und gewürdigt werden, dass man auch das Recht hatte, nach Deutschland zu kommen. Da kann ich Emilia Smechowski zustimmen und das aus verständlichen Gründen.
Edwin: Wir sollten auf jeden Fall bei diesem Thema dranbleiben. Unsere letzte Frage und das ist unsere obligatorische Frage. Warst du mal in der Steppe?
Karoline Gil: Ich war tatsächlich beruflich zweimal einige Tage in Almaty und in den Vororten und habe das sehr positiv in Erinnerung. Ich bin angekommen und habe mich wie zu Hause gefühlt. Wobei es nicht so viele Gemeinsamkeiten gibt, wenn man in die Supermarktregale schaut, wo überall Kamelmilch zu kaufen war. In Kasachstan hatte ich eine wunderbare Zeit, habe sowohl die deutsche Minderheit kennengelernt wie auch die Kasachen, und erinnere das sehr positiv.
Edwin: Dann musst du auch unbedingt nach Karaganda fahren. Die Stadt wird als Vatikan in der Steppe bezeichnet, weil viele Katholiken aus Polen, Litauen und Russlanddeutsche da gelebt haben. Sie haben eine gemeinsame Gemeinde gebildet. Das ist ein sehr interessanter Ort, der verschiedene Nationen und Völker im Glauben zusammengebracht hat.
Karoline Gil: Sehr spannend!
Ira: Liebe Karoline, vielen Dank für das Interview. Wir wünschen dir weiterhin viele spannende Einblicke in das Leben und die Kultur der deutschen Minderheiten in Osteuropa!
Edwin: Noch mehr zu diesem Thema hat uns der frühere Aussiedlerbeauftragte Hartmut Koschyk erzählt. Er ist früherer Bundestagsabgeordneter, Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen und vor allem Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung 2014 bis 2017. Anders als bei den Russlanddeutschen kamen die meisten Deutschen aus Polen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Vertreibung. Die Familie unseres nächsten Gastes ist genau auf diesem Wege damals nach Deutschland gekommen. Können Sie uns bitte ein bisschen über die Hintergründe Ihrer Familie erzählen?
Hartmut Koschyk: Meine Eltern und auch meine Vorfahren stammen über viele Generationen aus Oberschlesien. Meine Mutter aus der oberschlesischen Bezirkshauptstadt Oppeln und mein Vater aus einem kleinen Ort im Kreis Neustadt-Oberschlesien. Sie sind nach 1945 in den Süden Deutschlands gekommen, genauer gesagt nach Forchheim, Oberfranken. Dort bin ich 1959 geboren und aufgewachsen. Natürlich hat diese oberschlesischen Identität in meiner Familie immer eine wichtige Rolle gespielt, weil alle Familienangehörigen aus dieser Region stammten und auch Angehörige dort nach 1945 zurückgeblieben sind, mit denen wir auch bis zu den politischen Veränderungen 1989/90 auch immer Kontakt gepflegt haben.
Ira: Herr Koschyk, wie kommt es, dass auf dem Gebiet des heutigen Polens so viele Deutsche gelebt hatten?
Hartmut Koschyk: Nieder- und Oberschlesien, Ost- und Westpreußen, Hinterpommern, Ostbrandenburg gehörten ja zum Deutschland der Weimarer Republik. Dort lebten bis 1945 rund zehn Millionen Deutsche, die dann zum größten Teil nach 1945 vertrieben wurden. Aber es blieben nicht wenige Deutsche zurück. Zum einen gerade in Oberschlesien, weil man sie dort als Arbeitskräfte im Industrierevier brauchte. Einige sind aber auch geblieben, wie zum Beispiel eine meiner Tanten, weil ihr Mann im Krieg verschollen war und sie auf ihn warten wollte. Sie hatte damals kleine Kinder und ist deshalb nicht in den Westen Deutschlands gekommen. Und so kann man davon ausgehen, dass ungefähr zwei Millionen Deutsche in den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches verblieben sind.
Ira: Wie viele Deutschstämmige aus dem jetzigen Polen sind denn seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute nach Deutschland eingewandert?
Hartmut Koschyk: Nach Ende der allgemeinen Vertreibungsmaßnamen sind 1950 bis ins Jahr 2020 circa 1,5 Millionen Deutsche in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Diese Aussiedlung vollzog sich in mehreren Wellen. Es gab eine große Welle von rund 250.000 zwischen 1955 und 1959. Ab Mitte der 1970er Jahre gab es durch die Entspannungspolitik und die deutsch-polnischen Verträge und Vereinbarungen zwischen 1975 und 1984 nochmal eine Welle von 280.000 Deutschen. Die größte Welle erfolgte dann nach 1989. Bis 1994 sind dann nochmal insgesamt fast 700.000 Deutsche in die Bundesrepublik Deutschland gekommen.
Edwin: Juristisch gesehen gibt es einen Unterschied zwischen den Russlanddeutschen und den Deutschen aus Polen. Den Russlanddeutschen unterstellt man heute immer noch ein pauschales Kriegsfolgenschicksal. Den Deutschen, die in Polen leben, nicht. Können Sie erklären, was der Grund dafür ist?
Hartmut Koschyk: Diese Differenzierung ist in einem Zeitpunkt entstanden, als sich die politischen Verhältnisse in Polen nachhaltig hin zu einer freiheitlichen Demokratie mit Rechtsstaatlichkeit geändert haben. Und das hat man übrigens auch bei anderen Ländern wie Rumänien und Ungarn so gehalten, aus denen bis Mitte der 1990er Jahre deutsche Aussiedler gekommen sind. Einzig und allein den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten wurde dann doch noch ein solches Kriegsfolgenschicksal unterstellt.
Edwin: Was sind die größten Herausforderungen für die deutsche Minderheit, die in Polen geblieben ist?
Hartmut Koschyk: Das ist ein Schicksal, das die Deutschen im heutigen Polen mit den Deutschen im heutigen Russland und in der ehemaligen Sowjetunion teilen, dass ihnen während der kommunistischen Willkürmaßnahmen ihr Festhalten an der deutschen Sprache und Identität und Kultur nicht gestattet wurde. Das war nur im Schoße der Familie möglich. Dieser Sprachverlust, dieser Identitätsverlust ist natürlich erst wieder in Folge von Generationen wieder herzustellen. Ich merke das immer wieder bei meinen Verwandten in Oberschlesien, die nicht mehr eine deutsche Schule besuchen konnten aber versucht haben, in der Familie die deutsche Sprache oder den sogenannten schlesischen Dialekt, eine Mischung aus deutscher und polnischer Sprache, als eigene Sprache auch linguistisch anerkannt, zu pflegen und zu erhalten. Und insofern gibt es eine Gemeinsamkeit, dass man eben in zwei Sprachen und Kulturen zuhause ist. Lange war es eine schwere Bürde, weil es zulasten der deutschen Sprache, Kultur und Identität gegangen ist. Jetzt gibt es starke Bemühungen, sowohl bei den Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion aber auch bei den Polen durch deutsche Schulen, Bildungseinrichtungen, Kulturvereine diese Sprache, Kultur und Identität wiederzugewinnen.
Edwin: In diesem Jahr sind 100 Jahre seit der Volksabstimmung in Schlesien und einige Initiativen widmen sich diesem Thema. Zum Beispiel hat das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen eine Ausstellung dazu gemacht.
Können Sie unseren ZuhörerInnen erzählen, warum das für das Verstehen der historischen Zusammenhänge hinsichtlich der deutschen Minderheit und die Aussiedlung wichtig ist?
Hartmut Koschyk: Nach dem Ende des ersten Weltkrieges gab es vor allem dort, wo Staaten neu oder wiedergegründet worden sind, Streitigkeiten um Grenzverläufe. Das betraf vor allem die Wiedergründung Polens nach dem ersten Weltkrieg aber auch die Gründung der Tschechoslowakei. Und dort, wo es eine Diskussion über die Zugehörigkeit einer Region zu unterschiedlichen Ländern gab, hat man Volksabstimmungen angesetzt. So kam es am 20. März 1921 in Oberschlesien zu einer Volksabstimmung, bei der die Bevölkerung aufgerufen war, unter internationaler Kontrolle, für einen Verbleib bei Deutschland zu stimmen oder ob Oberschlesien dem neugegründeten polnischen Staat zugeschlagen werden sollte. Bei dieser Volksabstimmung haben 60 Prozent der Stimmberechtigten für einen Verbleib bei Deutschland, 40 Prozent für ein Hinzukommen zum neugegründeten polnischen Staat gestimmt. Trotzdem hat man ungefähr 30 Prozent Oberschlesiens, unter anderem auch das sehr bedeutsame Industrierevier zu Polen zugeschlagen. Eine jahrhundertelang zusammenlebende Region mit multiethnischer Zusammensetzung wurde dann nach dieser Volksabstimmung getrennt. Das hat natürlich die nationalen Gegensätze zwischen Deutschland und Polen verschärft, dessen sich dann auf schreckliche Art und Weise der Nationalsozialismus bediente. Das führte zum deutschen Vernichtungskrieg gegenüber Polen und dann der Vertreibung der Deutschen. Deshalb ist die Volksabstimmung vor 100 Jahren in Oberschlesien ein wichtiger Teil der wechselvollen, oftmals auch schmerzvollen Geschichte zwischen Deutschen und Polen.
Edwin: Andererseits sind dieses Jahr 30 Jahre seit dem Nachbarschaftsvertrag zwischen Deutschland und Polen und das ist der Höhepunkt der deutsch-polnischen Beziehungen bis dahin. Auch ein motivierender Moment in der gemeinsamen Geschichte unserer beiden Völker und Staaten.
Hartmut Koschyk: Das war das Ziel des Nachbarschaftsvertrags ein neues Kapitel aufzuschlagen. Und dieser Nachbarschaftsvertrag hat auch der deutschen Minderheit in Polen neue Chancen, neue Perspektiven eröffnet. Natürlich merken wir gerade jetzt unter einer sehr nationalbetonten polnischen Regierung, dass es nicht nur auf verbriefte Rechte und Gesetze ankommt, sondern auch darauf welche Stimmung in einem Land herrscht. Deshalb erfüllt die deutsche Minderheit und auch diejenigen, die ihr verbunden sind wie zum Beispiel mich, die zurzeit sehr nationalbetonte Ausrichtung der polnischen Politik ein wenig mit Sorge.
Ira: Mich würde ein anderes Thema noch interessieren. Es geht immer wieder bei uns Russlanddeutschen darum, zu erklären, auf welcher Basis wir eigentlich nach Deutschland gekommen sind. Es gibt uns Russlanddeutschen gegenüber ein Vorurteil, dass es genügt hat, einen deutschen Schäferhund in der Familie gehabt zu haben, um den deutschen Pass zu bekommen, was natürlich nicht stimmt. Wir mussten in verschiedenen Verfahren die deutsche Herkunft nachweisen. Wie war das bei den Aussiedlern aus Polen? Mussten sie einen ähnlichen Prozess durchlaufen?
Hartmut Koschyk: Bis zu dem Zeitpunkt, als auch für Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten die Möglichkeit gegeben war, als Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen, herrschten für diese Deutschen die gleichen Bedingungen. Da gab es keinen Unterschied. Was es vielleicht für einen Statusunterschied im Hinblick auf die Deutschen aus den Oder-Neiße-Gebieten gibt: Sie lebten in Gebieten, die bis 1945 und dann staatsrechtlich, völkerrechtlich zu Deutschland gehörten. Deshalb haben sie und ihre Nachkommen automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber die deutsche Staatsangehörigkeit hat natürlich nicht automatisch bedeutet, dass man auch die Aussiedlereigenschaft zugesprochen bekommen hat. Deshalb hat es nach 1990 oft die Situation gegeben, dass manche Deutsche aus Polen zwar die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, mit der sie in die Bundesrepublik Deutschland kommen konnten, aber sie hatten, wenn sie sich nicht dieser Prüfung unterzogen haben, nicht den Aussiedlerstatus mit allen in diesem Zusammenhang einhergehenden Integrationsmöglichkeiten. Das ist heute aber in Anführungszeichen „kein Problem“ mehr, weil die Aussiedlung von Deutschen aus Polen weitestgehend durch die Veränderung im Bundesvertriebenengesetz abgeschlossen ist.
Ira: Würden Sie sagen, dass auch die Integration der Aussiedler aus Polen in Deutschland abgeschlossen ist?
Hartmut Koschyk: Die deutschen Aussiedler, die aus Polen nach Deutschland gekommen sind, hatten oftmals dieselben Probleme wie jüngere Russlanddeutsche, zum Beispiel mangelnde Sprachkenntnisse. Aber ich würde sagen, dass die große Mehrheit der Aussiedler aus Polen auch in die Bundesrepublik Deutschland gut integriert worden ist. Wenn ich mir die Lebenssituation meiner Familienangehörigen, die in den 1960er, 1970ern aber dann auch in den 1990er Jahren in die Bundesrepublik gekommen sind ansehe, dann sind sie sehr gut integriert, wie sich übrigens auch die Lebenssituation meiner heute noch in Oberschlesien lebenden Familie sehr gut entwickelt hat. Insofern glaube ich, ist die Integration im Großen und Ganzen gut gelungen. Und es kommt ja immer auf einen selber an, wie weit man bereit ist, den Weg der Integration zu gehen. Integration ist nie eine Einbahnstraße. Auch die Aufnahmegesellschaft, die Mehrheitsgesellschaft muss denen, die zu uns kommen und auf Dauer bei uns leben wollen, zumal wenn sie deutscher Herkunft sind, auch offen gegenüberstehen. Aber wer diesen Weg der Integration gehen will, der konnte ihn gut gehen und insofern glaube ich, dass die Integration auch der Deutschen aus Polen, die als Aussiedler zu uns gekommen sind gut und erfolgreich verlaufen ist.
Edwin: Vielen Dank, Herr Koschyk. Zum Abschluss: Haben Sie einen Eindruck von der Steppe gewinnen können, als Sie in Zentralasien unterwegs waren?
Hartmut Koschyk: Selbstverständlich habe ich in verschiedenen Teilen Zentralasiens auch einen Eindruck von der Steppe gewinnen können. Sowohl durch Autofahrten durchs Land, aber was ja immer noch viel eindrucksvoller ist, wenn man mit dem Flugzeug einreist oder abreist und die Weiten des Landes und die Steppe – das ist schon etwas sehr Beeindruckendes.