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Frömmigkeit integrieren

von Kornelius Ens
M.A., M.A.


von den Herausforderungen russlanddeutsch-freikirchlicher Christen in Deutschland

Warum freikirchliche Russlanddeutsche eigene Schulen und Gemeinden außerhalb der etablierten kirchlichen Strukturen in Deutschland gründen.

Einleitung

Ein erheblicher Teil der Russlanddeutschen, die ihre Frömmigkeit in Kirchen praktizieren möchten, haben eigene Migrationsgemeinden und christliche Schulen gegründet. Als die Russlanddeutschen in die Bundesrepublik Deutschland kamen, erlebte die deutsche-deutsche Kirchenlandschaft allerdings häufig eher Ablehnung seitens der Russlanddeutschen. Zu weit lagen die kulturellen und teilweise auch theologischen Denkwege auseinander.

Die Frage, warum die große Mehrheit der freikirchlichen Russlanddeutschen sich deutschen Freikirchen nicht angeschlossen hat, lässt sich nur bedingt beantworten. Das hat einerseits damit zu tun, dass historische und soziologische Forschungsprojekte zu dieser Gruppe immer noch in den Anfängen stecken. Die Literaturbasis ist hoch, wenn es um (selbst-) beschreibende Aufarbeitungen geht. Sie ist gering, wenn es um die Ursachenforschung geht. Nicht ohne Grund, haben die neueren Studien, welche das religiöse Leben von Russlanddeutschen in den Blick nehmen, empirisch gearbeitet (so z.B. Heinrich Derksen[1]/Frederik Elwert[2]). Andererseits wird man wohl ohne eine umfassende und multiperspektivische Ursachenforschung nicht auskommen können. Diese steht bis dato aber noch aus. 

Dieser Beitrag möchte dafür sensibilisieren, dass es sich bei dieser deutschen Zuwandergruppe, insbesondere bei den freikirchlichen Christen innerhalb dieser Community, um eine spezielle, häufig von ihnen selbst nicht ausreichend reflektierte Kulturgemeinschaft handelt. Es gibt erhebliche Unterschiede im Bereich des kollektiven Gedächtnisses und der kirchenhistorischen Diktaturerfahrungen. Gott hat sich eben in der ‚anders-kulturell‘ erlebten Vergangenheit bewährt. Im Kontext der unterschiedlichen Integrationsherausforderungen in die bundesrepublikanische Gesellschaft und der neuen kirchlichen Zusammenhänge, wurde es offensichtlich als stabilisierend empfunden, auf die speziellen christlich-kulturellen Besonderheiten in Kirche und Schule weiter zurückzugreifen zu können und eine Kontinuität zu leben, die sich allerdings von mehrheitsgesellschaftlich-freikirchlichen Vorstellungen unterschied.   

Ferner: Vielen Russlanddeutschen war es völlig fremd, in eine Region zu kommen, die ihnen dauerhafte Heimat bieten sollte. Nicht ohne Grund werden Russlanddeutsche als „Gemeinschaft auf dem Weg“ bezeichnet. Einzige Konstante schien dabei die Präsenz der russlanddeutschen Mitchristen zu sein. Gemeinschaft stand im Vordergrund, nicht so sehr differenzierte Theologie. Theologie bewährte sich nicht durch „Verkopfung“, sondern in Gemeinschaft. Auch das muss mit bedacht werden, wenn der Frage nachgegangen werde soll, inwiefern eine Integration in eine von ihren Ursprüngen her stark auf Theologie und Liturgie ausgerichtete deutsch-deutsche Kirchenlandschaft überhaupt möglich hätte sein können.

Und: Vielen Russlanddeutschen wird aufgrund des Erbes des Stalinismus eine seelische Erschütterung bescheinigt. Oftmals gehört zum kollektiven Gedächtnis von russlanddeutschen Christen, dass man sich in zweifacher Weise als Gegengesellschaft wahrnahm: National/kulturell und religiös. Die Erinnerung des in der Sowjetunion erlebten Unrechts über die Generationen hinweg hat dazu geführt, dass die Aufarbeitung im Wesentlichen erst nach der Übersiedlung nach Deutschland beginnen konnte. Insbesondere die freikirchlichen Russlanddeutschen, die ihren Glauben trotz massiver Anfeindungen und repressiver sowjetischer Religionspolitik weiter ausübten und eine von Deportation, Arbeitslagererfahrungen und Gewalt geprägte Vergangenheit bewältigen mussten, brachten in der unmittelbaren Lebensumbruchphase der Migration nach Deutschland ein Bedürfnis nach Halt und Sicherheit zum Ausdruck. Diese wollten sie offensichtlich in selbstorganisierten Migrationskirchen und christlichen Schulen finden. 

Dieser Beitrag möchte erstens in Grundzügen dafür sensibilisieren, dass sich in der Geschichte von Russlanddeutschen ein auf Autonomie und Kollektivität ausgerichtetes Grundprinzip nachweisen lässt. Sodann sollen die Einflüsse einer solchen Grundhaltung auf die Schulen und Kirchen mit russlanddeutschen Gründungsstrukturen in Deutschland zum Ausdruck gebracht werden.[3]

1. Herausforderungen zwischen Identitätswahrung und Bikulturalität russlanddeutscher Christen in Vergangenheit und Gegenwart am Beispiel des kirchlichen Bildungswesens

Um das stark auf Kollektivität ausgerichtete gesellschaftliche Grundverständnis von russlanddeutsch-freikirchlichen Christen nachvollziehen zu können, bedarf es einer Kontextualisierung. 

Wichtig ist dabei festzuhalten, dass die sogenannten Russlanddeutschen keine homogene Gruppe sind. Die Spezifika der jeweiligen Herkunftsregionen aus denen die Deutschen dem Einladungsmanifest Katharinas II. folgten, wurden weitestgehend etwa 150 Jahre in Russland weiter ausgelebt. Berührungspunkte von Schwaben, Bayern und Westpreußen gab es in diesen Jahren kaum, zumindest nicht über diejenigen Kontakte hinausgehend, die man auch schon im Vorfeld in den deutschen Heimatregionen pflegte. Dennoch gibt es einige kulturelle Spezifika, welche die meisten Russlanddeutschen in angepasster Weise sehr ähnlich erlebten. Auf Sozialformen wie Autonomie und Vergemeinschaftung wurde offensichtlich großer Wert gelegt. Dies soll lediglich an einem ausgewählten Bereich in gebotener Kürze verdeutlicht werden - dem Bildungswesen, das in der vielfältigen russlanddeutschen Kulturgeschichte lange Zeit von den Kirchen ausgestaltet wurde. Anschließend sollen Überleitungen zu der Frage ermöglicht werden, wie dieses Selbstverständnis Einzug in den (frei-) kirchlichen Bildungsbereich von Russlanddeutschen der Gegenwart erhalten hat.

Deutsche Kolonien in Russland hatten im Regelfall ein eigenständiges, deutschsprachiges Schulwesen. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in den deutschen Kolonien die Schulpflicht für Schülerinnen und Schüler eingeführt, die in der Regel ab dem siebten Lebensjahr die Schule besuchten. 1881 gab es bereits etwa 550 deutsche Schulen in Russland.[4] Einen ersten erheblichen Einschnitt im deutschen Bildungswesen gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Zeitraum zwischen 1914 bis 1916 wurde Deutsch als Unterrichtssprache verboten. Schulen in kirchlicher Trägerschaft wurden staatlichen Kontrollen unterstellt und aus ihren jeweiligen kirchlichen Bindungen gelöst.[5] 

Nicht nur Kinder- und Jugendpädagogik, sondern auch Erwachsenenbildung wurde ab den 1920er-Jahren in den Blick genommen.[6] So wurde 1922 das erste deutschsprachige pädagogische Technikum in Seelmann gegründet, das in den Folgejahren unter dem Namen Marxstädter Deutsches Pädagogisches Technikum nach Marxstadt überführt wurde.[7] Sowohl die lutherischen als auch die mennonitischen Kirchen bekamen kurzzeitig die Möglichkeit, eigene theologische Seminare zu gründen. Die Mennoniten gründeten eine Bibelschule in Tschongraf, welche 1924 auf staatliche Intervention hin wieder geschlossen wurde. Die lutherische Kirche gründete 1925 ein Predigerseminar in Leningrad, welches ebenfalls Anfang der 1930er-Jahre wieder eingestellt werden musste.
1930 wurde zum Kampf "gegen den deutschen bürgerlichen Nationalismus" aufgerufen, was unter anderem zu Verhaftungen deutscher Dozenten führte.[8] 

Die Jahre 1938 bis 1941 markieren eine kulturpolitische Zäsur für das deutsche Bildungswesen. Unter dem Titel "Über die Reorganisation der nationalen Schulen" wurden deutsche Schulen, Hochschulen und bildungskulturelle Einrichtungen aufgelöst, was erhebliche Konsequenzen für die kulturelle Weiterentwicklung der Russlanddeutschen haben sollte. Das deutsche Bildungswesen wurde sowohl sprachlich als auch ideologisch in das sowjetische überführt. Die bis dahin geschlossenen Vereinbarungen über den Bildungsaustausch mit deutschsprachigen Hochschulen wurden abgebrochen.[9] 

Auch das Buch- und Pressewesen der Deutschen in Russland hatte einen hohen Stellenwert für den Bildungssektor. Es gab eine ganze Reihe von Russlanddeutschen geführte Verlage und Druckereien, die für die Verbreitung von Literatur und deutscher Zeitungen und Zeitschriften sorgten.[10] Ab 1840 wurde die erste Tageszeitung in Deutsch für die ländliche Bevölkerung aufgelegt, die ‚Odessaer Zeitung‘.
Sowohl kirchliche als auch bildungsbürgerliche Kreise riefen bereits um die Jahrhundertwende eigene publizistische Initiativen ins Leben. In den westpreußisch-mennonitisch geprägten Siedlungen etablierten sich die Zeitungen ‚Friedensstimme‘ und ‚Friedensbote‘.  In den 1930er-Jahren wurden die publizistischen Tätigkeiten der Russlanddeutschen stark eingeschränkt und ab 1941 ganz verboten.[11] 

Am Beispiel des historischen Bildungssektors von Russlanddeutschen soll deutlich gemacht werden, dass sich die deutschen Bildungs-, und letztlich auch Kirchengeschichte sehr eigenständig und spezifisch in Russland konstituierte. Es galt ebenso den theologischen Bildungsbereich eigenständig zu wahren – auch in Abgrenzung zu mehrheitsgesellschaftlichen Ansätzen innerhalb der Sowjetunion. Als Urkatastrophe kann aber sicherlich geltend gemacht werden, dass ab dem Ende der 1930er Jahre diese Bereiche außerhalb der Entwicklungen und Diskurse mit dem deutschsprachigen Raum stattfinden mussten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kann nachgewiesen werden, dass eine spezifische russlanddeutsche Bildungs-, und Kirchenstruktur gefunden wurde, die sich autonom zu entwickeln begann. Dass mit der massenhaften Hinrichtungs-, und Deportationswelle, denen mehrere hunderttausend Russlanddeutsche ab Ende der 1930er Jahre zum Opfer fielen, auch überwiegend die Bildungs-, und Theologiekompetenz zum Erliegen kam, lässt sich eindeutig an diesem, nicht mehr vorhandenem, binationalen Austausch über diese Anliegen nachweisen. Der erheblichste Teil der Hochschul-, Schul-, und Kirchenleiter kam in diesem Zeitraum ums Leben, bzw. wurde deportiert. Das Überleben der (Untergrund-) Kirche wurde auf ihr Vergemeinschaftungspotential reduziert. Positiv formuliert: Man bediente sich derer Ressource, an die man sich gut erinnern konnte. Auf dieses Vergemeinschaftungsverständnis wurde in der Nachkriegszeit gesetzt. Die Ressource ‚Gemeinschaft‘ avancierte zum zentralen Identifikationsmerkmal. Dieses Merkmal konnte während des Ankommensprozesses in Deutschland ab den 1970er Jahren offensichtlich nicht wiedergefunden werden. Weder konnte die deutsch-freikirchliche Gemeindelandschaft diese Vorerfahrungen teilen, noch konnte sie ein solch hohes Bedürfnis nach kollektiver Gemeinschaftserfahrung befriedigen.  Auf die Spezifika der russlanddeutsch-freikirchlichen Szene wird untenstehend noch eingegangen. Im Bildungssektor haben sich in diesem Zusammenhang ähnliche Tendenzen abgezeichnet. Russlanddeutsche gründeten eben auch allgemeinbildende Schulen in Deutschland.

Im Folgendem soll ein knapper Überblick über diese Entwicklungen gegeben werden. Es muss betont werden, dass an dieser Stelle keine Wertung seitens des Autors vorgenommen wird. Dafür sind die Initiativen zu unterschiedlich motiviert. Es lässt sich studienbasiert (hier: Elwert: Religion als Ressource[12]) allerdings eine Tendenz nachweisen: Umso mehr Begegnungen an christlichen Schulen, die einen erheblichen Teil russlanddeutscher Schülerinnen und Schüler ausbilden, mit mehrheitsgesellschaftlich geprägten Lehrkräften ermöglicht werden, umso größer die Wahrscheinlichkeit einer ganzheitlichen und multiperspektivischen Weiterentwicklung. Für russlanddeutsche Christen im Jugendalter nehmen demnach christliche Bildungseinrichtungen eine wichtige Schnittstellenfunktion wahr. […] Dies betrifft eine Reihe von Einrichtungen, von evangelikalen Jugendwerken über Bibelschulen bis hin zu theologischen Akademien. Diese Institutionen sind, anders als die Aussiedlergemeinden, keine Migranteninstitutionen. […] So spielen die gemeindeübergreifenden religiösen Institutionen eine zentrale Rolle, auch weil sie hier nach ihrer Erzählung das erste Mal positive Erfahrungen im Kontakt zu Einheimischen macht. Strukturell ist es daher plausibel, auch diese Einrichtungen als Institutionen der Aufnahmegesellschaft einzuordnen. Sie vermitteln Perspektiven über die jeweilige Herkunftsgemeinschaft hinaus. So erhalten junge Aussiedler hier nicht nur theologische Deutungsschemata, die sie ermächtigen, sich kritisch mit religiösen Positionen ihrer Gemeinden auseinanderzusetzen. Die hierüber vermittelten Kontakte begünstigen auch die Entwicklung einer neuen Identität, die eine religiöse Verortung als „Christ" über ethnische Bezüge und Traditionsbestände der Russlanddeutschen stellt. In diesem Sinne kann Religion hier als ein Element der postethnischen Vergemeinschaftung von Migranten bezeichnet werden. Zugleich ermöglichen diese Institutionen den Aufbau persönlicher sozialer Netzwerke, über die andere Informationen und Einstellungen vermittelt werden, als sie in der Herkunftsgemeinde verfügbar sind.[13]

Die Gründungsbewegung freier evangelischer Schulen in Deutschland seit den 1980er Jahren hatte in diesem Zusammenhang auch für russlanddeutsche, insbesondere freikirchliche Christen eine enorme Bedeutung. Unter denjenigen christlichen Bekenntnisschulen in Deutschland, welche die meisten Schülerinnen und Schüler ausbilden, kommen in einer Rangliste der ersten fünf Schulen vier Einrichtungen vor, welche zum Teil oder vollständig von russlanddeutsch-freikirchlichen Christen gegründet wurden. So hatten im Jahr 2018 die August-Hermann Francke-Schulen (Detmold) etwa 2.800 Schülerinnen und Schüler, die Georg-Müller-Schulen (Bielefeld) etwa 2.000 Schülerinnen und Schüler, die Freie christliche Bekenntnisschule (Gummersbach) etwa 1.700 Schülerinnen und Schüler sowie die Freie Evangelische Schule (Minden) etwa 1.400 Schülerinnen und Schüler, welche die jeweiligen Einrichtungen besuchten.[14]

Insgesamt gibt es in Deutschland mehr als 200 Schulen, die überwiegend dem Verband Evangelischer Bekenntnisschulen angeschlossen sind. Sie sind in 110 Städten beheimatet und werden von etwa 42.000 Schülerinnen und Schüler besucht. Neben Alheim, Neuwied und Schwäbisch Gmünd kommen die meisten Träger christlicher Schulen mit freikirchlich-russlanddeutschen Gründungsstrukturen aus Nordrhein-Westfalen. Eine Besonderheit stellt u.a. die Georg-Müller-Schule (Bielefeld) dar, die zwar einen erheblichen Teil russlanddeutscher Christen sowohl im Trägerverein als auch in der Schülerschaft hat, allerdings ursprünglich in deutsch-deutscher Freikirchenperspektive gegründet wurde.

Die Schulträger mit russlanddeutsch-freikirchlichen Gründungsstrukturen aus Nordrhein-Westfalen wären (Stand 11/2018):

  • Trägerverein des FCS Bonn/Rhein-Sieg [423 SuS]
  • Christlicher Schulverein Lippe [2.823 SuS]
  • Christlicher Schulverein Paderborn [174 SuS]
  • Trägerverein der FCS-Düren [115 SuS]
  • Trägerverein: Kompass Espelkamp [438 SuS]
  • Trägerverein Euskirchen [224 SuS]
  • Schulverein der FCBG (Gummersbach) [1.753 SuS]
  • Freie Christliche Bekenntnisschule Hennef e.V. [203 SuS]
  • Christlicher Schulverein Minden [1.466 SuS]

Die Motive der Schulgründungen sind vielfältig. Geht es für christliche Bekenntnisschulen im Allgemeinen v.a. um die ganzheitliche Erziehung (Seele/Kognition) des Menschen, die Stärkung von Erziehungsverantwortung der Eltern, das Herauskommen aus den kirchlichen Strukturen um öffentlich zu leben und zu glauben, das Zurückdrängen politischer Übermacht auf die Ganzheit des Menschen und ggf. der Notstand an staatlichen Schulen in Bezug auf das Sozialverhalten,[15] so kommen für freikirchlich-russlanddeutsche Christen noch weitere Aspekte hinzu: „Die Sozialisation der heranwachsenden Gemeindemitglieder verläuft demnach vor allem in der […] lebensweltlichen Trias von Gemeinde, Familie und Schule […].“[16] Dabei wird der Ressource ‚Gemeinschaft‘ und ‚Autonomie‘ als leitendes Gründungsmotiv vieler christlicher Privatschulen von russlanddeutschen Freikirchlern große Bedeutung beigemessen: „Die schlechten Erfahrungen mit dem atheistischen Staat werden oft auf staatliche Behörden hier übertragen, denen man mit einem gewissen Misstrauen begegnet. Dies führt v.a. im Bereich Erziehung und Schule zu Konflikten. Im Kommunismus versuchten gläubige Eltern, die Kinder vor dem Alleinanspruch des Staates auf Erziehung und Wertevermittlung durch illegale religiöse Erziehung zu ‚retten‘. Dass auch hier dem Staat ein Erziehungsrecht zusteht […], wird vor diesem Hintergrund als gegen den Glauben gerichteter Zugriff des Staates gesehen.“[17]

Ferner kann auch auf die Verunsicherungen seitens der Eltern verwiesen werden, die sich mitten im Integrationsprozess in eine „fremde Heimat“ in eine Verhältnisbestimmung zwischen Gesellschaft und Erziehung ihrer Kinder gedrängt sahen: „Für die russlanddeutschen Eltern bedeutet das Aufwachsen ihrer Kinder in einer individualistischen Gesellschaft eine enorme Anpassungsleistung, befinden sie sich doch selbst in einem Zustand der Orientierungs- und Machtlosigkeit. Gleichzeitig wünschen sie sich, als Deutsche unter Deutschen nicht negativ aufzufallen und für ihre Kinder eine gute Schulbildung.“[18] 

Die Bandbreite derjenigen christlichen Privatschulen, die russlanddeutsche Gründungsstrukturen aufweisen, sind enorm vielfältig. So gibt es Schulen, die sowohl die Mitgliedschaft im Verband Evangelischer Bekenntnisschulen (VEBS) als auch die Zusammenarbeit mit der Evangelischen Allianz ablehnen. Ebenso gibt es Schulen, die sich dezidiert als Gemeindeschule verstehen, d.h., sie sind grundsätzlich auf die Zielgruppe innerhalb der eigenen kirchlichen Strukturen abgestimmt.

Der Christliche Schulverein Lippe (CSV), als Schulträger mit der größten Schülerschaft (August-Hermann-Francke-Schulen in Detmold, Lemgo und Lage), gilt dabei häufig als Vorbild neuer Privatschulgründungen. 1986 gegründet und zunächst auf Bewahrung von christlichen Werten vor dem Hintergrund des russlanddeutschen Kulturhorizonts ausgelegt, hat sich der CSV bereits frühzeitig für unterschiedliche Konfessionen – auch die der Evangelischen Landeskirchen geöffnet. Die Mündigkeit der Schülerklientel einerseits, aber auch binnenchristliche, bzw. konfessionelle Befriedungsansätze anderseits sind heute mitunter Anliegen des CSV. Somit kann von einer denominationsübergreifenden, von Russlanddeutschen gegründete, aber in der folgenden Entwicklung weit über diese Gruppe hinausreichende Schulkonzeption gesprochen werden. Dazu der Geschäftsführer des CSV (Peter Dück): „Neben einer guten Wissensvermittlung und einer akademischen Bildung sind vor allem die christlichen Werte, das evangelische Bekenntnis entscheidend. Die Lehrkraft lebt die christlichen Werte im Alltag vor. [Es] sollen all die christlichen Werte, wie Nächstenliebe und Vergebungsbereitschaft, im Alltag gelebt werden.“[19]
Die Anmeldungen von Schülerinnen und Schülern außerhalb des russlanddeutschen Spektrums nehmen deutlich zu – insbesondere auch derer, die aus Familien kommen, welche Schlüsselfunktionen in der Gesellschaft wahrnehmen (u.a. Kinder von politischen und [landes-]kirchlichen Amtsträgern, etc.). Hintergrund ist dabei v.a. das solidarische Gemeinschaftswesen der Schulen, an dem partizipiert werden möchte. Die Prägung der Gesellschaft rückt daher für den CSV stärker in den Fokus. 

Die Entwicklung des CSV kann daher im Sinne der gängigen Integrationsmodelle zunächst als auf Bewahrung angelegt, über das Bestreben nach Teilhabe, hin zur Mitgestaltung der Gesellschaft beschrieben werden. So sieht Peter Dück die Schulen, im Sinne der Studie von Frederik Elwert (Religion als Ressource[20]) als Institution der Aufnahmegesellschaft, arrangiert von Russlanddeutschen selbst: „Bei näherer Betrachtung der Schulen stellt man fest, dass sie einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Wir wollen für das Leben fit machen und nicht von der Gesellschaft separieren. Genauso wie es Schützenvereine gibt, gibt es Kirchengemeinden und christliche Privatschulen. Interessenverbände sind wichtig. Sie übernehmen einen Teil der gesellschaftlichen Aufgaben.“[21]

Diese Schnittstellenfunktion wird auch in der Außenperspektive zunehmend wahrgenommen. Bei seinem Besuch des CSV stellte Armin Laschet, derzeit Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, fest und bezog sich damit auf die August-Hermann-Francke-Schulen, die vom CSV getragen werden: „Wir können froh darüber sein, dass der Gottesbezug und die Verankerung des Rechts auf Bekenntnisschule im Grundgesetz vorhanden sind. Daher darf man sein Bekenntnis stärker und selbstbewusster formulieren. […] Es besteht parteiübergreifender Konsens, dass private christliche Schulen zum Land gehören und dem Staat guttun; es ist dort oft ein qualitativ hohes Niveau festzustellen.“[22]

2. Kirchliches Leben zwischen Autonomie und Vergemeinschaftung – das ‚Gepäck‘ russlanddeutscher Freikirchen

Welchen Stellenwert hat Kirche heute für Russlanddeutsche?

Ein wichtiges Auswanderungsmotiv von Deutschen nach Russland ist zwar in dem Wunsch nach wirtschaftlichem Aufstieg zu sehen. Die Einladung ins Russische Reich war für Mitglieder der historischen Friedenskirche der Mennoniten, welche den Wehrdienst ablehnten, sowie für die süddeutschen Pietisten, einer evangelischen Frömmigkeitsbewegung, auch eine Chance, ihre Religion frei ausüben und die daraus abgeleiteten Ideale leben zu können.

1897 lebten 1,8 Millionen Menschen in Russland, die zu den Russlanddeutschen gezählt wurden. Konfessionell nahmen sich die Deutschen im Regelfall als Gegengesellschaft zur russisch-orthodoxen Mehrheitsgesellschaft wahr. Wirtschaftliche Erfolge taten ihr Übriges, dass sich Russlanddeutsche relativ autark, stabil und exklusiv fühlten.[23]
Infolge kommunistischer Diktaturerfahrungen und der massenhaften Deportation von Russlanddeutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden in den 1940er Jahren russlanddeutsche Untergrundkirchen. Die Kirchen rückten angesichts der harten Repression näher zusammen, sodass sich konfessionsübergreifende Gemeinden bildeten. Sie setzten sich aus Lutheranern, Mennoniten, Baptisten, Adventisten sowie Anhängern der Pfingstbewegung zusammen. Ab Mitte der 1950er Jahre trat allerdings aufgrund der Ausweitung religiöser Freiheit eine Rekonfessionalisierung ein. Diese setzte den kirchenübergreifenden Tendenzen ein Ende.[24] Die neuen kirchlichen Bewegungen der Nachkriegszeit waren häufig sehr unterschiedlich ausgeprägt und einigten sich weniger auf Grundlage historisch-theologischer Entwicklungen auf freikirchlich-konfessionelle Kirchenbezeichnungen als vielmehr nach Kriterien des sozialen Friedens von gläubigen Russlanddeutschen im Umfeld (‚Vergemeinschaftung‘) und der Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis von der Gesellschaft, beziehungsweise der Politik (‚Autonomie‘). Aufgrund der sowjetischen Diktaturerfahrung konnten die beiden großen freikirchlichen Stränge der Russlanddeutschen, der Baptismus und das (Brüder-) Mennonitentum, kaum bis gar nicht an den Entwicklungen ihrer jeweiligen Konfession in Deutschland Anschluss halten. Außer der Namensgebung gab es daher auch kaum Schnittmengen von freikirchlichen Russlanddeutschen zu ihren Mitchristen in der jeweiligen namensgebenden „Verwandtschaftsgemeinde“ in Deutschland.     
Die russlanddeutschen Christen, welche in den 1970er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelten und somit zu den ersten Rückwanderern zählten, gaben folgende konfessionelle Verortung an: evangelisch (41,3 Prozent), katholisch (30,8 Prozent), baptistisch (16,8 Prozent), mennonitisch (8,5 Prozent) und andere konfessionelle Gruppen (etwa 3 Prozent).[25] Die Mehrheit dieser Rückwanderer in diesem Zeitraum gab als Grund ihrer Ausreise die erlebte Religionsverfolgung in der Sowjetunion an. In den 1980er/90er Jahren bezogen sich die Ausreisemotive dagegen zunehmend auf wirtschaftliche und politische Gegebenheiten innerhalb der Sowjetunion bzw. der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). [26]

Etwa zwei Drittel aller 2,4 Millionen in Deutschland zugewanderten Russlanddeutschen, die in der Sowjetunion, bzw. in den postsowjetischen Staaten geboren wurde, gehören aktuell den protestantischen Kirchen an.[27] Weitere 20 Prozent sind Mitglieder der katholischen und etwa sieben Prozent der russisch-orthodoxen Kirche.[28]
Freikirchen, welche auf eine Gemeindegründung Russlanddeutscher zurückzuführen sind, zählen etwa 250.000 Mitglieder.[29] Aufgrund der konfessionsbedingten Ansicht, dass religiöser Mündigkeit ein hoher Stellenwert beigemessen werden sollte, findet in diesen Kirchengemeinden die Taufe – und damit die offizielle Aufnahme in die Gemeinde – im Regelfall frühestens im Jugendalter statt. Gegenläufig zu den allgemeinen Säkularisierungstendenzen, ist der sonntägliche Gottesdienst dieser freien Gemeinden gut besucht, sodass davon auszugehen ist, dass die Zahl der tatsächlichen Kirchenbesucher über dem o.g. Wert liegen wird.[30] 

Autonomie und Vergemeinschaftung finden auch nach wie vor hohen Zuspruch in Aussiedlergemeinden von Russlanddeutschen in Deutschland. Der Gottesdienst und die Gemeinde werden „[…] zum sozialen und geistlichen Kulturzentrum und sind damit mehr als nur ein Ort der religiösen Erfahrung. Die vielen Veranstaltungen und Gottesdienste dienen der Identitätsfindung und der Kontaktpflege. Die gemeinsame Vergangenheit, die gemeinsamen Probleme und die gemeinsamen Erfahrungen stärken die sozialen Beziehungen […].“[31]

Wieso gründen Russlanddeutsche eigene Freikirchen in Deutschland?

Den wenigsten Russlanddeutschen, die seit den 1970er Jahren nach Deutschland eingewandert sind, bot die bundesdeutsche Konfessionslandschaft eine religiöse Heimat. Ursachen dafür waren unterschiedliche kirchenhistorische Entwicklungen sowie der Mangel an entsprechender theologischer Weiterbildung infolge der sowjetischen Diktatur. All dies zog unweigerlich die Distanzierung sowohl von den Hauptkonfessionen in Deutschland als auch generell von deren theologischen Lehrgebäuden nach sich. Diese Entfremdungstendenzen betrafen in der Regel alle christlichen Religionsgemeinschaften.
Von individualistischen Glaubenskonstruktionen der Mehrheitsgesellschaft abweichende Auffassungen und das stark auf gemeinschaftliche Normen und enge Sozialbindungen ausgerichtete Kirchenverständnis vieler Russlanddeutscher führten zu Missverständnissen auf beiden Seiten. Viele russlanddeutsche Christinnen und Christen wollten „[…] in die Kultur zurückkehren, aus der sie zu kommen glauben. Doch in Deutschland angekommen, stellen sie fest, dass ihnen diese 'Heimat' fremd ist […und] dass ihre eigenen kulturellen Elemente, die sie mitbringen, in der 'fremden Heimat' Deutschland nicht ohne weiteres akzeptiert werden.“[32]
Während der überwiegende Teil der russlanddeutschen Mitglieder der Großkirchen kaum an deren Angebot partizipierte,[33] setzte vor allem in den russlanddeutschen Freikirchen die Konstruktion einer eigenen Identität ein. 

Tendenzen der Gemeinschaftsbildung durch Abgrenzung waren fester Bestandteil russlanddeutsch-christlicher Frömmigkeit in der Sowjetunion gewesen. Darauf griff man nun zum Teil zurück. Es galt, eine Strategie der Heimatfindung zu entwickeln und einem Bedarf nach Sicherheiten gerecht zu werden – sozialen, theologischen und auch kirchengemeindlichen Sicherheiten. Diese Abgrenzungstendenzen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft verursachten höchst kontroverse Diskussionen in den jeweiligen russlanddeutschen Migrationskirchen über Fragen zur gesellschaftlichen Verortung und Relevanz ihrer Freikirchen. Die Folge war, dass sich unterschiedliche Gemeinden theologisch neu orientierten bzw. neu gegründet wurden. Die individuelle Religiosität der einzelnen Gemeindemitglieder wurde, auch aufgrund theologischer Weiterbildung vieler junger russlanddeutscher Christen, als „[…] nicht deckungsgleich mit der institutionalisierten Theologie der Gemeinschaft“[34] der jeweiligen Migrationskirchen wahrgenommen. Dies wurde zum Anlass genommen, um zunehmend Gemeindestrukturen zu schaffen, welche theologische Reflexions- und Denkräume eröffneten.

Es erscheint sinnvoll zu sein, Kirchengemeinden, welche überwiegend von Russlanddeutschen initiiert wurden und derzeit einen überproportional hohen Anteil an russlanddeutschen Besuchern haben, als Migrationskirchen zu bezeichnen. Wenngleich es sich selbstverständlich überwiegend um bundesdeutsche Staatsbürger handelt, kann diese Terminologie „ein nützlicher Suchbegriff [sein], der der Erfahrung von Migration eine grundlegende Verstehenshilfe zuweist“.[35] In der einschlägigen Forschungsliteratur tauchen russlanddeutsche Migrationskirchen im Regelfall nicht unter dem Schlagwort "Migration und Religion" auf. 

Im Laufe der Zeit entstanden in der kurzen Kirchengeschichte der russlanddeutschen Freikirchen in Deutschland bereits einige Gemeindebünde, die ganz oder überwiegend von russlanddeutsch-freikirchlichen Christen gegründet wurden. Um diese Bünde theologisch einordnen zu können, müssten vertiefte Dialoge angebahnt werden, die z.T. noch ausstehen. Außerdem gibt es innerhalb der jeweiligen Gemeindeverbünde eine enorme Breite an theologischen Ausrichtungen der Einzelgemeinden, sodass sie meistens nicht als homogen beschrieben werden könnten. Auch dieser Umstand ist der auf Autonomie angelegten jungen Kirchengeschichte der Russlanddeutschen geschuldet. 

Schluss

Warum hat die große Mehrheit der freikirchlichen Russlanddeutschen sich deutschen Freikirchen nicht angeschlossen? Warum gründeten sie eigene Werke, insbesondere im Bildungswesen?

Die schlichte Antwort lautet: Weil sie es dürfen und alle gängigen wissenschaftlichen Integrationsmodelle alles Mögliche stark machen - nur eines wird ausgeschlossen: Dass sich eine Zuwanderungsgruppe assimilieren müsste.

Die differenzierte Antwort müsste beinhalten, das zunächst wichtig sei, insbesondere die Russlanddeutschen selbst aber auch die Mehrheitsgesellschaft dafür zu sensibilisieren, dass es sich bei freikirchlichen Russlanddeutschen um Personen handelt, die im Regelfall eine Vergangenheit mitgebracht haben, die sie nicht im kollektiven Gedächtnis der Deutschen in Deutschland verorten konnte. Stalinismus, doppelter Ausschluss (Christ/Nationalität), etc. haben die Erinnerungsnarrative offensichtlich so stark geprägt, dass viele Russlanddeutsche die Bundesrepublik Deutschland als fremde, manchmal auch als kalte Heimat erlebt haben oder immer noch so beschreiben würden. 

Es gibt v.a. innerhalb der Freikirchenszene von Russlanddeutschen eine zum Teil rege Diskussion über den Umstand, dass einige Gemeinden ein Programm entwickelt haben, welches scheinbar unumkehrbar in Richtung Parallelgesellschaft verläuft, sodass auch zukünftig nicht zu erwarten ist, dass an theologischen, bzw. gemeindlichen Diskursen im binnen-russlanddeutschen oder mehrheitsgesellschaftlichen Kontext teilgenommen werden kann. Demnach bekommen einige Inhalte eine Bedeutungsfunktion anheim gelegt und werden scheinbar theologisch geführt, sollen eigentlich aber bewusst oder unbewusst gegengesellschaftliche Aspekte bestärken, bzw. Empfindung reaktivieren, welche man diktaturgeprägt aus der Sowjetunion kannte und die einem durchaus vertraut zu sein scheinen. Anders ausgedrückt: Integration kann in dieser Denkweise als „Verweltlichung“ gedeutet werden. 

Es ist ebenso feststellbar, dass sich die freikirchlichen Russlanddeutschen nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland relativ zügig konsolidierten und auf Möglichkeiten zurückgriffen, welche die eigene Kulturgeschichte hergab. Integration oder gar Assimilation waren in den 250 Jahren seit dem Einladungsmanifest Katharina II. im Jahre 1763 völlig unbekannte Anforderungen. Russlanddeutsche sollten zunächst in Russland und später auch in der Sowjetunion zunächst Kolonisten bleiben und sich somit von der russischen Mehrheitsgesellschaft abgrenzen. Auch wenn wir wissen, dass bereits im 19. Jahrhundert eine ‚Patchworkidentität‘ sich auszuprägen begann, so blieben Autonomie und Vergemeinschaftung insbesondere bei den freikirchlich sozialisierten Russlanddeutschen bis zum Zeitpunkt ihrer Ausreise nach Deutschland kulturprägende Anteile.[36] Das alles konnte weder die deutsch-deutsche und auch nicht die freikirchlich-deutsche Gemeindelandschaft auffangen. 

Die Missverständnisse gehen allerdings noch tiefer. Die deutsch-deutsche freikirchliche Bewegung, hier v.a. der Evangelikalismus, hat sich traditionell für eine ‚Bibeltreue‘ eingesetzt, die sich häufig der in der eigenen Wahrnehmung ‚liberalen Theologie‘ entgegenzustemmen versucht. Hier fanden viele freikirchlich-geprägte Russlanddeutsche Anknüpfungspunkte im Prozess des Ankommens. Denn die Bibel avancierte, durch Diktaturerfahrung geprägt, neben einigen Liederbüchern zu der zentralen Glaubensressource. Hier gab es vermeintliche Schnittstellen. Es wäre allerdings weit gefehlt zu meinen, das sich damit dieselben Bedeutungsfunktionen verbanden. So konstatiert Annette Kick: „Unter der Verfolgung hatten die Gläubigen keine theologische Literatur zur Verfügung, oft nicht einmal eine Bibel. Aus Teilen der Bibel, aus Handschriften, Kalenderblättern, Liedern und dem, was sie im Gedächtnis hatten, gaben sie die Glaubensinhalte weiter. Bibellektüre und Verkündigung zielen auf das ‚bibelgemäße‘ Leben, auf die direkte Anwendung des Gelesenen.“[37] In freikirchlich-russlanddeutscher Perspektive, insbesondere geprägt durch das Verständnis der sogenannten historischen Täuferbewegung, würde vielmehr die gemeinschaftliche Anwendung der Bibellektüre als entscheidend empfunden werden. So lassen sich u.a. die zum Teil erheblichen Unterschiede von exklusiven bis hin zu progressiven Gemeinden und gleichzeitig deren Autonomiebedürfnis erklären. Aspekte wie „die Gemeinde sei Auslegerin der Schrift“ oder „Christen benötigen in erster Linie Gemeinschaft des Heiligen Geistes und Gemeinschaft der Gläubigen“, um in „die Wahrheit geführt zu werden“, würden viele freikirchlich geprägte Russlanddeutsche hermeneutischen „Richtigkeitsdebatten“ vorziehen. Das kann negativ zu Beliebigkeit - und, wie es leider auch geschieht, zu abstruser Kulturhermeneutik führen. Es bietet allerdings auch den diskursfähigen russlanddeutschen Christen die Chance zu einer Dialogfähigkeit, die weit über die teilweise verhärteten Gespräche von ‚evangelikalen‘ versus ‚liberalen‘ Theologen und Gemeindevorstehern in Deutschland hinausgehen könnte. Hier und dort könnte ein ‚dritter Weg‘ aufgezeigt werden, da ggf. Verletzungen und Abgrenzungen innerhalb der deutsch-deutschen kirchentheologischen Diskussion der Vergangenheit wiederum nicht zum Erinnerungsgut von russlanddeutschen Freikirchlern zählt. 

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass aus biblisch-hermeneutischen Erkenntnissen häufig keine politischen Forderungen von freikirchlichen Russlanddeutschen gestellt werden. Anders als dies viele Christen täten, die sich evangelikalen Denkmustern verpflichtet sehen, wird hier, offensichtlich aufgrund gesellschaftspolitischer Vorerfahrungen in der Sowjetunion, im Regelfall eher zurückhaltend agiert. Ebenso ist für viele freikirchlich-russlanddeutsche Christen feststellbar, dass es eine bemerkenswerte Offenheit anderen Konfessionen gegenüber gibt, die sich in Unterdrückungssituationen befinden. Als Beispiel sei das vielfach gezeigte herzliche Interesse für die koptisch-orthodoxen Christen in Ägypten erwähnt. Die im Prinzip nicht geteilte Lehre von der Heiligen Jungfrau Maria, die einen theologischen Anteil dieser Konfession darstellt, wird offensichtlich dem gemeinsam geteilten Schicksal von Unterdrückung unterordnet. 

Es wäre begrüßenswert, wenn in Diskussionen um konfessionelle Denkschulen oder aber denominationsbedingte Kirchenspezifika, die historisch v.a. in deutsch-deutscher Perspektive entstanden sind, auch russlanddeutsche Christen beteiligt würden. Hier sind zumindest von den reformorientierten russlanddeutschen Freikirchen wichtige Beiträge zu erwarten – auch und v.a., weil Zuwanderungskirche das große Thema des 21. Jahrhunderts zu werden scheint. Für einen nicht unerheblichen Teil der freikirchlichen Russlanddeutschen müsste ein denominations- und kirchenübergreifendes Verständnis des ‚Leibes Christi/Reiches Gottes‘ gut denkbar sein. Dieses Selbstverständnis eignet sich, um zur Einheit aller Christen aufzurufen und auch gegenwärtig zu einer versöhnten Haltung der Kirchen beizutragen. Es könnte viel mehr voneinander profitiert werden, und zwar nicht unter Aufgabe eigener, sondern im Teilen der unterschiedlichen Spezifika.

Die nächsten Generationen in den reformorientierten russlanddeutschen Migrationskirchen erschließen sich mit hoher Intensität theologische wie kirchengemeindliche Themenfelder und Aspekte gesellschaftlichen Zusammenlebens, häufig in bewusst kirchenübergreifender Perspektive. Dabei spielt die Bereitschaft der Migrationskirchen, an institutionell-theologischen Angeboten in der Zielgesellschaft teilzuhaben, eine bedeutende Rolle, auch für die Integration der russlanddeutschen Christen in die Mehrheitsgesellschaft.
Die Perspektivweitung, die durch eine solche Partizipationsbereitschaft ausgelöst wird, ist für viele russlanddeutsche Christen häufig ein entscheidender Impuls für eigene gesellschaftsrelevante Initiativen und für engagierte Teilhabe an weiteren sozialen Handlungsfeldern. 

Von: Kornelius Ens (*1981), M.A., M.A., Lehrbeauftragter am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück; Leiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold.

Fußnoten

  1. Derksen, Heinrich: Das Gottesdienstverständnis der russlanddeutschen Freikirchen, Leipzig 2016.
  2. Elwert, Frederik: Religion als Ressource und Restriktion im Integrationsprozess. Eine Fallstudie zu Biographien freikirchlicher Russlanddeutscher, Wiesbaden 2015.
  3. Hier und im Folgenden werden Textpassagen übernommen, die vom Autor bereits in anderen Zusammenhängen publiziert wurden. Und zwar in:
    https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/252539/religiositaet-unter-russlanddeutschen?p=all [abgerufen: 14.06.2019]
    https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/russlanddeutsche/253017/grundzuege-russlanddeutscher-migrationsgeschichte-in-kulturhistorischer-perspektive [abgerufen: 14.06.2019]
  4. Vgl. Smagina, Galina: Nemzy Rossii, St. Petersburg 2004, S.191. 
  5. Vgl. Krieger, Viktor: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. Eine Geschichte der russlanddeutschen, Bonn 2015, S.232.
    Zudem vgl. weiterführende Literatur: Belkovec, Larissa: Wenig Geld und viel Propaganda: Sowjetische Schulpolitik in den deutschen Dörfern Sibiriens in der Zwischenkriegszeit, in: Brandes, Detlef, u. a. (Hg.): Forschungen zur Geschichte und Kultur der Rußlanddeutschen, Essen 1996, S.58–77; Brandes, Detlef: Das wolgadeutsche Schulwesen vor und nach der Revolution, in: Ebd., S.99–111.
  6. Vgl. Krieger, Viktor: Vom Schulmeister zum Nobelpreisträger: Geistige und intellektuelle Bestrebungen unter der deutschen Minderheit; in: Heimatbuch der Deutschen aus Russland, 2014, S.71–132.
  7. Vgl. Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler, S.232.
    Zudem vgl. weiterführende Literatur: Süss, Wladimir: Entstehung und Entwicklung verschiedener Typen von Lehrerbildungsanstalten im Wolga- und Schwarzmeergebiet Rußlands, in: Brandes, Detlef, u. a. (Hg.): Forschungen zur Geschichte, S.85–104; Ders., Das Deutsche Pädagogische Zentraltechnikum in Leningrad, in: Brandes, Detlef, u. a. (Hg.): Forschungen zur Geschichte, S.74–103.
  8. Vgl. Krieger: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler, S.232-233.
  9. Vgl. ebd., S. 234.
  10. Vgl. Belger, Herold: Russlanddeutsche Schriftsteller. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Biografien und Werkübersichten, 2. überarb. Aufl., Berlin 2010; Busch, Margarete: Bildung und Wissenschaft. Die Presse, in: Stricker, Deutsche Geschichte, S.507–518; Moritz, Annette: Lexikon der rußlanddeutschen Literatur, Essen 2004. 
  11. Vgl. Krieger: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler, S.230-234.
  12. Vgl. Elwert: Religion als Ressource.
  13. Vgl. ebd., S.310. 
  14. Vgl., ideaSpektrum (40/2018), S.27.
  15. Vgl., Schirrmacher, Thomas: Warum christliche Privatschulen? (VEBS, Hrsg.) Frankfurt a.M. 2011.
  16. Schäfer, Arne: Zwiespältige Lebenswelten. Jugendliche in evangelikalen Aussiedlergemeinden, Wiesbaden 2010, S.46.
  17. Kick, Annette: Mennoniten, Evangeliumschristen und Baptisten, in: Jahn, Christine/Pöhlmann, Matthias (Hgg.): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, Göttingen 2015, S.262-263. 
  18. Neufeld, Olga: Bildung und frühkindliche Erziehung bei Russlanddeutschen, in: Hülsmann, Werner/Weiß Lothar (Hgg.): Integration von Russlanddeutschen Erfahrungen, Aufgaben und Perspektiven, Osnabrück 2013, S.32. 
  19. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/252540/interview-mit-peter-dueck [abgerufen am: 13.06.2019]
  20. Vgl. Elwert: Religion als Ressource.
  21. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/252540/interview-mit-peter-dueck [abgerufen am: 13.06.2019]
  22. Landesbeirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen (Hg,): Rundschreiben 2/2016, S.41.
  23. Vgl. Weiß, Lothar: Migration und Siedlung der Russlanddeutschen vom Mittelalter bis zum Ende der Sowjetunion, in: ebd. (Hg.): Russlanddeutsche Migration und evangelische Kirchen, Göttingen 2013, S.13–15.
  24. Vgl. ebd., S.24.
  25. Löwen, Heinrich: Russlanddeutsche Christen in Deutschland. Das religiöse Erscheinungsbild russlanddeutscher Freikirchen in Deutschland, Hamburg 2014, S.17.
  26. Vgl. Löwen, Heinrich: Deutsche Christen in Russland und in der Sowjetunion. Grundzüge des historischen und theologischen Hintergrunds russlanddeutscher Freikirchen, Hamburg 2014, S.38-39.
  27. Theis, Stefanie: Religiosität von Russlanddeutschen, Stuttgart 2006, S.13.
  28. Zu den Zahlenverhältnissen hinsichtlich der Konfession der Einwanderer und Einwanderinnen im Jahr 2005 siehe auch Löwen: Russlanddeutsche Christen in Deutschland, S.18.
  29. Dyck, Johannes: Gemeinden russlanddeutschen Ursprungs: Versuch einer Gemeindestatistik 30 Jahre nach der Öffnung der UdSSR-Grenzen; in: BSB-Journal.de 2 (2017), S. 27.
  30. Vgl. Löwen: Russlanddeutsche Christen in Deutschland, S. 18-19.
  31. Derksen: Gottesdienstverständnis der russlanddeutschen Freikirchen, S. 311.
  32. Theis: Religiosität von Russlanddeutschen, S. 239.
  33. Vgl. Gaßmann: Russlanddeutsche Kirchen und Gemeinden, S. 88.
  34.  Elwert: Religion als Ressource, S. 300.
  35. Dümling, Bianca: Migrationskirchen in Deutschland. Orte der Integration, Frankfurt a.M., S. 3.  
  36. Zum Themenzusammenhang ‚Autonomie‘ und ‚Vergemeinschaftung‘ vgl. ebenso: Rosenthal, Gabriele, u.a.: Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familien von ‚Russlanddeutschen‘ ihre Geschichte erzählen, Frankfurt a.M. 2011, S.58-64.
  37. Kick: Mennoniten, Evangeliumschristen und Baptisten, S.260.