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Kunst, Mensch, System:

von Nico Wiethof


Jakob Wedel zwischen Anpassung und Widerstand in Sowjetunion und Bundesrepublik

Die Regierung der Sowjetunion forderte insbesondere Künstler:innen dazu auf, sich am Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft zu beteiligen. Die staatlich kontrollierte Kunst und Kultur erhielt den unmissverständlichen Auftrag, an der Erschaffung eines neuen Menschen mitzuwirken und dieses Ziel innerhalb der Bevölkerung zu propagieren.[1] In ihrer Alltagsrealität sahen sich die Künstler:innen sowohl mit den Versprechen des sozialistischen Systems, aber auch mit seiner Kontrolle und Gewalt konfrontiert. Die Entscheidung, ob sie sich den staatlichen Vorgaben entsprechend verhielten oder nicht, war richtungsweisend für ihr Leben. Auf diese Weise entstand ein Spannungsfeld aus Kunst, Mensch und System, das die Lebenswerke vieler Künstler:innen prägte. Dies gilt ebenfalls für den russlanddeutschen Bildhauer und Zeichner Jakob Wedel, entlang dessen Biographie dieses Spannungsfeld im Folgenden exemplarisch aufgearbeitet wird. [2]

Als Russlanddeutscher und Künstler war Wedel sowohl Objekt als auch Subjekt des Sowjetsystems. Einerseits enthält seine Biographie die charakteristischen Schlüsselelemente russlanddeutscher Diktaturerfahrung. Dazu gehören zum Beispiel der Verlust von Familienangehörigen in der Zeit des großen Terrors, die Deportation seiner Eltern in Arbeitslager und die Diskriminierung im sowjetischen Alltag der Nachkriegszeit bis hin zu seiner Migration nach Deutschland.[3] Wedel war in der Sowjetunion und in Deutschland künstlerisch tätig und viele seiner Werke aus beiden Lebensabschnitten sind erhalten oder zumindest dokumentiert. Seine Skulpturen und Bilder sind in diesem Kontext eindrucksvolle Momentaufnahmen, welche die Wechselwirkung zwischen Mensch, Kunst und System in ganz unterschiedlichen Abschnitten in Wedels Leben konservieren.

Leiderfahrung als Ausgangspunkt

Jakob Wedel wurde 1931 in Bergtal, etwa 60 Kilometer östlich der Stadt Frunse in der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren.[4] Seine Vorfahren waren schwarzmeerdeutsche Mennoniten der Kolonie Molotschna, die 1882 in dieses Gebiet migrierten.[5] In den 1930er Jahren wurde die Familie erstmals Opfer des stalinistischen Terrors. Wedels Vater wurde für ein Jahr verhaftet. Sieben seiner Onkel wurden ermordet. Einige Monate nach dem Deportationserlass vom 28. August 1941 wurde sein Vater 1942 deportiert und in die Arbeitsarmee zur Zwangsarbeit eingezogen. Zwei Jahre später starb er dort ohne Wissen der Familie an den grausamen Arbeitsbedingungen. Im Oktober 1942 weitete die Regierung den Zwangsarbeitserlass auf russlanddeutsche Frauen aus.[6] Daraufhin wurde Jakob Wedels Mutter Martha zu einer 70 Kilometer entfernten Baugrube deportiert und musste dort Zwangsarbeit leisten.

Die fünf Geschwister zwischen vier und 14 Jahren waren im folgenden Hungerwinter während der Kriegsjahre auf sich gestellt. Immer wieder unternahmen die Kinder Versuche, ihre Mutter zurück nach Hause zu holen.[7] Kurz nach Marthas Deportation reiste der älteste Sohn Heinrich seiner Mutter unter großen Gefahren hinterher. Bei der Baugrube angekommen, bat er den Aufseher, für einige Tage die Arbeit seiner Mutter übernehmen zu dürfen. Martha kehrte an Stelle ihres Sohnes nach Hause zurück. Ihre Rückkehr schenkte Jakob Wedel neue Hoffnung. Später schrieb er in seiner Autobiographie: „Jetzt war die Sonne wieder in unserem Hause. Alles veränderte sich sofort. Es wurde wieder warm und gemütlich.“[8] Aus Wiedersehensfreude malte er für seine Mutter das Bild Mutters Blumen (1942). Gemeint waren die Zimmerpflanzen der Mutter, die er während ihrer Abwesenheit pflegen sollte. [9]

Mutters Blumen, 1942. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Kurz darauf kehrte Martha jedoch in die Zwangsarbeit zurück. Wedel nahm im Kindesalter eine erste Arbeit an, um sich und seine Geschwister vor dem Verhungern zu retten. Trotzdem erkrankten er und seine Schwester auf Grund der Mangelernährung an Skorbut und überlebten nur knapp. Nach einigen Fehlversuchen gelang es der Familie am 5. November 1944, ihre Mutter dauerhaft aus der Zwangsarbeit zurückzuholen. Erst danach stabilisierte sich der Zustand der Kinder etwas.[10]

Die gewaltsame Trennung der Familie und das Leben am Existenzminimum waren für Wedel traumatische Erlebnisse.[11] Schon als Kind lernte er die extreme staatliche Diskriminierung kennen, welche die sowjetische Regierung auf Personen und Gruppen ausübte, die nicht ihrem propagierten Menschenbild entsprachen. Später beschrieb er die Trennung von seiner Mutter als Höhepunkt der Repressionserfahrung in seinem Leben.[12] Die unscheinbar wirkende Zeichnung Mutters Blumen (1942), die für Wedel fest mit einer prägenden Leiderfahrung verbunden ist, bewahrte er sorgsam auf. Die Flecken und Verschmutzungen zeugen einprägsam von den wechselhaften Lebensumständen Wedels, durch welche die Zeichnung nach ihrer Entstehung in einer ärmlichen Behausung in Bergtal in Kirgisien etwa 70 Jahre und 5.000 Kilometer später ihren heutigen Standort im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold erreichte. Die Zeichnung markierte für Jakob Wedel schon im Kindesalter den Beginn eines künstlerischen Schaffensprozesses im Kontext des Konflikts zwischen Mensch und System in der Sowjetunion, der ihn noch über sein gesamtes Leben hinweg beschäftigen sollte.

Aufstieg und Anpassung

Obwohl Wedel bereits in der Schule Talent zum Zeichnen und Holzschnitzen zeigte, begann seine Karriere als Künstler erst nach der Besserung seiner Lebensumstände. 1954 zog er kurz vor Aufhebung der Sonderkommandantur in die Hauptstadt Frunse.[13] Dort arbeitete er als Tischler in dem staatlichen Betrieb Kirgismöbel. Parallel verbesserte er seine Fähigkeiten in angeleiteten, abendlichen Kunstkursen. Dadurch konnte er beruflich aufsteigen. Er berichtet, dass er in seinem Betrieb zunehmend Möbel als Sonderaufträge für die Regierung oder das Militär herstelle.[14] Mit dem Abschluss seines ersten Abendstudiums beendete er seine Tätigkeit bei Kirgismöbel. Stattdessen begann er, im Auftrag einer Abteilung in einem staatlichen Betrieb des Kultusministeriums zu arbeiten. Dort stellte er Holzmuster her, meist mit Naturmotiven oder solchen aus dem ländlichen (Arbeits-)Alltag, die dann massenhaft vervielfältigt und verkauft wurden.

Beispielhaft für diese Schaffensperiode ist die Skulptur Erfolg des jungen Hirten (1966). Die Skulptur zeigt einen Hirten, der erfolgreich zwei Lämmer gezüchtet hat. Mit dieser Skulptur befolgte Wedel den staatlichen Auftrag an seine Abteilung, die landwirtschaftliche Arbeit in seiner Heimat zu glorifizieren. Die Skulptur propagiert einen produktiven, heiteren Arbeitsalltag im landwirtschaftlichen Kontext der Kirgisischen SSR. Die vermeintlich wirklichkeitsnahe Abbildung ohne jede Abstraktion und die Propagandafunktion der Skulptur sind typisch für den sogenannten sozialistischen Realismus. Parteisekretär Ždanov stellte diese Stilrichtung auf dem 1. Sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 vor und erklärte in seiner Rede, dass es Aufgabe und Methode des sozialistischen Realismus sei „die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu erziehen“.[15] Mit dem sozialistischen Realismus wurde ein Konstrukt von Normen geschaffen, nach denen ausschließlich Kunst entstehen sollte, die den Vorstellungen der Regierung entsprach und ihre Ideologie propagierte. Ein weiteres Gestaltungsprinzip, das in Bezug auf Wedels Werke eine Rolle spielt, war die Forderung nach sogenannter „Volkstümlichkeit“ und „Massenverbundenheit“ (narodnost‘ und massovost‘).[16] 

Diese gaben eine möglichst volksnahe und einfach gehaltene Themenwahl des Kunstwerks vor und mündeten oft in romantisierte, folkloristische Abbildungen, die nicht selten mit der charakteristischen Heldenverklärung einherging. [17]Typische Motive waren dabei Arbeit, Technik und Alltag. Der sozialistische Realismus und dessen Gestaltungsrichtlinien waren spätestens seit dem Kongress für die Künstler der Sowjetunion verbindlich.[18] Chruščev ließ in einer kurzen Phase zwar wieder mehr öffentliche Meinungsfreiheit zu und bemühte sich in eigenem Interesse, dem Personenkult um Stalin in der Kultur entgegenzuwirken.[19] Doch diesen Freiheiten waren Grenzen gesetzt, und spätestens unter Brežnev wurden sie zurückgenommen und oppositionelle Meinungen wieder unterdrückt und zensiert.[20] Letztendlich ließ die Führung der kommunistischen Partei zu keinem Zeitpunkt einen Zweifel an ihrem Anspruch, die alleinige Gestaltungshoheit in den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur auszuüben.[21]

Erfolg des jungen Hirten, 1966. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Durch die Produktion von Kunst nach den Vorgaben der autoritären sowjetischen Regierung zur Zeit der „halbherzigen Rehabilitierung“[22] der deutschen Minderheit konnte sich Wedel im Vergleich zu vielen anderen Russlanddeutschen eine stabile soziale Stellung erarbeiten. Er besaß ein eigenes Grundstück mit einem „voll ausgestatteten Haus“,[23] heiratete und hatte ein ausreichendes Einkommen, um seine Familie zu versorgen. Darüber hinaus erfüllte sich sein Kindheitstraum einer künstlerischen Tätigkeit nachzugehen. Neben einer Bezahlung erhielt er durch seine regierungstreue Arbeit Zugang zu Werkzeug und Rohmaterial, das er für eigene Projekte nutzte. Sein elterliches Dorf war durch die mennonitische Konfession geprägt. Nachdem er aber in Frunse angekommen war, löste er sich aus diesem Umfeld. Er heiratete eine russische Frau und erweiterte den Kreis seiner Bezugspersonen außerhalb seines bisherigen Milieus.[24]

Insgesamt scheint der Konflikt zwischen Mensch und System über 20 Jahre nach der Entstehung von Mutters Blumen (1942) für Wedel nicht mehr existent. Wedel hat sich zu diesem Zeitpunkt mit dem sowjetischen System arrangiert. In der Nachkriegsgesellschaft passte er sein Leben dem von der Regierung propagierten Menschenbild an, wodurch er die Freiheit erhielt, seinen Wunschberuf auszuüben und in diesem sogar eine regionale Anerkennung erreichte. Diese beiden Punkte unterscheiden seine Biographie von anderen russlanddeutschen Lebensläufen, die unter anderem bei der Berufswahl von Einschränkung und Diskriminierung geprägt waren.[25]

Der Wunsch nach einer eigenen Werkstatt spornte Wedel 1966 zu einem weiteren Kunststudium an, das er 1970 abschloss. Seine Abschlussarbeit war eine Skulptur, die Wedel in unterschiedlichen Schreibweisen mit dem Namen „Gerasim“ (1970) betitelte.[26] Damit spielte er auf die Hauptfigur in Turgenews 1854 erschienener Novelle Mumu an. Turgenew kritisiert in der Novelle die Leibeigenschaft der russischen Bauern. Die Geschichte handelt von einem Konflikt zwischen dem Leibeigenen Garassim und seiner adeligen Herrin. Garassim leidet unter der absoluten Befehlsgewalt seiner Herrin über ihn und andere Leibeigene. Nach etlichen Diskriminierungen zwingt sie ihn, seinen Hund und damit die letzte verbliebene Freude in seinem Leben zu töten. Garassim führt den Befehl aus, doch danach verlässt er den Hof seiner Herrin.[27] Obwohl vor der Revolution geschrieben, vereinnahmte die sowjetische Regierung die Geschichte Mumu zu Propagandazwecken im Sinne ihrer Utopie einer klassenlosen Gesellschaft.

Wedel erschuf als Abschlussarbeit eine für ihn auffallend abstrakt gehaltene Büste. Doch über den vergebenen Titel und die Darstellung als kräftiger und trauriger Mann war die Skulptur für seine Prüfer:innen im Abendstudium deutlich genug als Garassim identifizierbar. Erneut hatte Wedel sein Thema entsprechend dem sozialistischen Kanon gewählt. Damit bestand er die Abschlussprüfung, die in der Sowjetunion nicht nur eine handwerkliche, sondern auch eine ideologische war. Wedel bewies gegenüber seinen Prüfer:innen seine Eignung für bessergestellte künstlerische Tätigkeiten im Auftrag der Regierung.

Gerasim, 1970. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Das Kunststudium und seine bisherigen Arbeiten zahlten sich für Wedel aus. Zwischen den 1960er und den 1980er Jahren fertigte er zahlreiche Werke im staatlichen Auftrag an. Dazu gehörten Leonid Breschnew in seinem Arbeitskabinett (1976) oder Michail Frunse (1985), für die er von Funktionären der lokalen kommunistischen Partei Anerkennung bekam.[28] Diese Aufträge forderten ihn immer wieder dazu auf, ein System und seine Akteure zu glorifizieren, welche die Deutschen in der Sowjetunion noch immer diskriminierten. Den Höhepunkt seines Ansehens erreichte er in diesem Zusammenhang im Jahr 1974. Zu ihrem 50. Jubiläum beauftragte die kirgisische kommunistische Partei Wedel mit einem Holzintarsienbild. Mit den Maßen von 3 x 4,5 Metern erschuf Wedel mit diesem Auftrag eines seiner physisch größten Werke. Trotz des unspektakulären Motivs bot ihm die aufwendige Intarsientechnik eine Möglichkeit, seine handwerklichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.[29]

Außerdem berichtet Wedel in seiner Autobiographie von zwei besonderen Ausstellungsorten, an denen das Bild präsentiert wurde. Die erste Station war die Jubiläumsfeier in den Räumen des kirgisischen Zentralkomitees in Frunse. Darüber hinaus sei das Bild in einer zweiten Station in den Kreml gewandert und dort gezeigt worden. Nach eigenen Angaben reiste Wedel im Auftrag der kirgisischen kommunistischen Partei persönlich mit einem Flugzeug der Regierung nach Moskau. Dort habe er das Bild zusammen mit einigen Helfern in Brežnevs Empfangszimmer aufgehängt.[30] Wedel durfte dieses, wie auch die anderen Propagandabilder, nicht persönlich signieren, sondern lediglich mit dem typischen Zusatz „von den Werktätigen der Kirgisischen SSR“ versehen.[31] Ein Wiederauffinden der Intarsie ist deshalb schwierig, bisher sind davon nur zwei Schnappschüsse mit geringer Qualität überliefert, die Wedel persönlich angefertigt hat.

Völkerfreundschaft, 1974. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Jakob Wedel erreichte mit diesem Werk den Höhepunkt seiner politischen Anerkennung. Doch trotz der vermeintlich großen Bühne im Kreml blieb seine Bekanntheit auf die Kirgisische SSR beschränkt. Seine Reise nach Moskau beinhaltete nur den Auftrag, Ausbesserungsarbeiten von Transportschäden an der Intarsie und das Aufhängen zu übernehmen. Persönliche Ehrungen wie eine Einladung zu einer Eröffnung mit Regierungsfunktionären blieben ihm versagt.[32]

Innerer Konflikt und kritische Werke

Hatten die Repressionen in seiner Kindheit und der Standortwechsel nach Frunse ihn endgültig zu einem parteitreuen „Sowjetmenschen“ transformiert? Er selbst widerspricht in seiner Autobiographie dieser Ansicht:

So war mein Leben voll eingenommen mit künstlerischer Tätigkeit, aber als Deutscher, der eigentlich ganz andere Wurzeln hat, die eine ganz andere Lebensauffassung, eine andere Mentalität erzeugen, verspürte ich immer eine seelische Leere. Es lastete auf meinem Gemüt der Repressionsdruck mit den ständigen Forderungen im nationalen Geiste zu arbeiten, gemäß der Nationalitätenpolitik nur die nationalen Eigenschaften in der Kunst zum Ausdruck zu bringen.[33]

Doch es gibt auch andere Hinweise, die der These einer vollständigen Assimilation widersprechen. Zum einen sorgten die Meldepflicht zur Zeit der Sonderkommandantur, der Eintrag über die deutsche Herkunft seiner Familie in seinem Pass und sein deutscher Name dafür, dass ihm seine Zugehörigkeit zu einer Minderheit in der sowjetischen Gesellschaft zu jeder Zeit bewusst war. 

Zum anderen zeugen einige seiner überlieferten Bilder davon, dass er sich in dieser Zeit aktiv mit seiner Vergangenheit auseinandersetzte. Ein Beispiel dafür ist die Bildserie Der physisch und seelisch Gebrochene (1968). Während seines zweiten Kunststudiums traf er bei einem Spaziergang einen ehemaligen deutschen Zwangsarbeiter, der ihm die Geschichte seiner 17-jährigen Haft erzählte.[34] Erneut nahm Wedel eine Leidensgeschichte zum Anlass für einen künstlerischen Schaffensprozess und zeichnete drei Porträts des Mannes.[35] Wedel lebte in seinem neuen Umfeld also nicht in einer ideologischen Blase. Jedwede öffentliche künstlerische Verarbeitung dieses Themas unterließ er jedoch. Ein solche hätte zu Repressionsmaßnahmen ihm gegenüber geführt, worüber Wedel sich angesichts der Opfererfahrung seiner Kindheit deutlich bewusst war.

Trotzdem ging Wedel einige Jahre später über die bloße Dokumentation von Unrecht hinaus. Mit der Skulptur Die Last des Hirten (1976) verbildlichte er erstmals kritische Gedanken. Die Skulptur zeigt insgesamt vier Schafe und drei Lämmer, die übereinander auf den Schultern ihres Hirten stehen. Der kirgisische Hirte ist zwar kräftig, aber er hält der Belastung nur mit einer gewissen Anstrengung stand. Das Gewicht der Schafe zwingt ihn in eine gebückte Haltung. Mit der Wahl seines Motivs nahm Wedel Bezug zu Der Erfolg des jungen Hirten (1966) und revidierte seine einstmals euphemistische Darstellung landwirtschaftlicher Arbeit hin zu einer vorsichtigen Kritik an der sozialistischen Planwirtschaft. Der Hirte strahlt im Vergleich zur früheren Skulptur nicht mehr ausschließlich Freude und hoffnungsvolle Zuversicht aus, sondern scheint ernst und bedrückt. Obwohl der Hirte 1976 kräftiger als sein jüngeres Pendant wirkt, wird die Schafzucht nach Planwirtschaft in Wedels Skulptur doch zu einer übermenschlichen Aufgabe. Die landwirtschaftlichen Arbeiter in Kirgisien zeigte Wedel zwar weiterhin in typischer Propagandadarstellung als besonders leistungsfähig, doch die Planvorgaben der Regierung kritisierte er als realitätsfern. Damit offenbart er in seiner Skulptur die klaffende Lücke zwischen Planvorgaben und wirtschaftlicher Realität in der Sowjetunion. Gemessen an den bisher bekannten und überlieferten Werken, die Wedel in der Sowjetunion schuf, setzte er sich mit Die Last des Hirten am sichtbarsten kritisch mit dem Sowjetsystem auseinander.

Die Last des Hirten, 1976. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Weitere Anhaltspunkte für eine regierungskritischere Gesinnung Wedels lassen sich anhand einer Gegenüberstellung von zwei kurz nacheinander entstandenen Werken herausarbeiten. Auf der einen Seite steht mit der Holzintarsie Aufruf zum Kampf (1979) ein typisches Propagandawerk: Das Bild zeigt eine monumentale Frauendarstellung in martialischer Siegerpose, vergleichbar mit der Mutter-Heimat-Statue in Wolgograd.[36] Im Hintergrund umgeben die Holzschattierungen das Monument wie ein Feuer nach einer erfolgreichen kriegerischen Auseinandersetzung. Im unteren Drittel des Bildes steht übersetzt: Monument für die Kämpfer der Revolution in Frunse. In typischer sowjetischer Bildsprache propagiert die Holzintarsie die Oktoberrevolution als den Sieg über die Klassengesellschaft und den vermeintlichen Fortschritt in der Sowjetunion zu einer egalitären Gesellschaft. Die Abbildung zeigt ein digitalisiertes Dia, der Verbleib des originalen Intarsienbildes ist ungeklärt.

Aufruf zum Kampf, 1979. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Doch zwei Jahre nach der Fertigstellung der Intarsie zeigte Wedel noch eine andere Perspektive auf die Alltagsrealität der Sowjetunion. Das Relief aus Sapelli, dem Wedel nach seiner Migration in die Bundesrepublik den bedeutungsvollen Titel Ringen um Freiheit (1981) gab, zeigt auf den auf den ersten Blick einige Gemeinsamkeiten zur Intarsie. Eine idealisierte Frauendarstellung, die in Siegerpose eine Fahne hochhält und die Darstellung von Feuer, das beiden Bildern eine martialische Anmutung verleiht. Im Unterschied zum früheren Bild umspielt das Feuer die Frau auf dem Pferd im Ringen um Freiheit aber nicht, sondern schließt sie ein. Die Frau streckt die geschlossene Faust mit der Fahne in der Hand dem Flammenkreis entgegen und das Pferd tritt den Flammen entgegen nach hinten aus. Reiterin und Pferd sind außerdem nach vorne gerichtet in Bewegung.

Ringen um Freiheit, 1981. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

In Wedels erst in Deutschland nachgelieferter Auflösung beschreibt er die Skulptur als Versinnbildlichung der Freiheitsbestrebungen der russlanddeutschen Minderheit in der Sowjetunion.[37] Die Jungfrau auf dem Pferd verkörpere die Russlanddeutschen, während der Feuerkreis die staatlichen Repressionen symbolisiere, in welchen sie im und nach dem Zweiten Weltkrieg schuldlos gefangen gewesen wären. Der Versuch der Reiterin, den Feuerkreis zu verlassen, ist laut Wedel ein Hinweis auf die Massenauswanderung der Russlanddeutschen als einzige Möglichkeit, der Ungerechtigkeit in der Sowjetunion zu entkommen. Der Auslöser für die Arbeit an der Skulptur sei sein eigener Ausreiseantrag gewesen, den er 1979 gestellt hatte. In seiner Autobiographie behauptet Wedel, die Hoffnung auf eine baldige Ausreise in der Skulptur verarbeitet zu haben: Deshalb habe er der Reiterin die Möglichkeit einer erfolgreichen Flucht offengelassen, wie sich am linken Vorderhuf des Pferdes zeigt, der den Feuerkreis durchbrochen hat und die Bewegung von Pferd und Reiterin vorgibt. Wie bei den Skulpturen der Hirten erschuf Wedel mit dem Ringen um Freiheit geradezu eine Gegendarstellung zu der drei Jahre zuvor fertiggestellten Holzintarsie. Obwohl er dieselben Motive nutzte, gab er ihnen eine neue Bedeutung. Allerdings machte er diesen Prozess nicht öffentlich, denn nach eigenen Angaben stellte er das Ringen um Freiheit in der Sowjetunion nicht aus. Im Unterschied zu den Skulpturen der Hirten ist das Werk in seiner Aussage mehr verschlüsselt. Die Gegenüberstellung mit dem Aufruf zum Kampf (1979) lässt die kritischere Ausrichtung der Skulptur zwar vermuten, letztendlich wurde diese Deutung aber erst von Wedel ex post aus der Bundesrepublik heraus mit der Skulptur verknüpft. Ob seine Kritik schon während des Schaffensprozesses intendiert war, lässt sich nicht zweifelsfrei klären. 

Migration und Transformation

Nachdem er gemeinsam mit seiner zweiten Frau Klara einen Ausreiseantrag gestellt hatte, achteten sie beide in den kommenden Jahren darauf, den sowjetischen Behörden keine Vorwände für repressive Maßnahmen zu liefern. Wedels Werke werden zunehmend unpolitischer.[38] Trotzdem mussten sie beide jahrelang auf eine Genehmigung warten und konnten erst 1988 in die die Bundesrepublik auswandern. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Konflikt zwischen Mensch, Kunst und System für Wedel mit zunehmendem Lebensalter erneut an Schärfe gewann. Erste subtile Hinweise finden sich in seinen Werken. Zweimal schien er sich mit nachfolgenden Skulpturen noch einmal korrigieren zu wollen. Spätestens sein Ausreiseantrag war aber ein deutliches Zeichen dafür, dass er trotz seiner beruflichen Tätigkeit als Künstler und der ihm zuteil gewordenen Anerkennung nicht mehr mit seinen Lebensumständen in der Sowjetunion zufrieden war.

Als er schließlich 1988 mit seiner Frau in die Bundesrepublik auswanderte, veränderte sich das Leben des mittlerweile 57-Jährigen umfassend. In Detmold traf er auf eine gut organisierte russlanddeutsche Community, die ihm bei seiner Integration in Deutschland maßgeblich behilflich war und zu der er bereits aus der Sowjetunion Kontakt hatte.[39] Wedel war fest entschlossen, in der Bundesrepublik weiter als Künstler tätig zu sein. Nennenswert unterstützte ihn Otto Hertel, der in Detmold als Lehrer und gleichzeitig als Vorsitzender der Landesgruppe NRW der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland tätig war. Hertel organisierte gemeinsam mit Wedel schon einen Monat nach dessen Ankunft eine erste Ausstellung seiner Werke. Bereits im darauffolgenden Jahr erhielt Wedel ein Stipendium im Künstlerhaus Schwalenberg im Kreis Lippe.[40]

Losgelöst von den Verpflichtungen des Sowjetsystems verarbeitete Wedel seine Geschichte in neuen Werken. In einem explosionsartigen Schaffensprozess in den ersten Jahren nach seiner Migration entstanden Werke, in denen sich sein Stil und die behandelten Themen radikal wandelten. Seine neueren Skulpturen prangerten die Repression der Russlanddeutschen vor allem in der stalinistischen Diktatur an. So widmete er der Deportation der russlanddeutschen Frauen in die Zwangsarbeit eine chronologisch aufgebaute Werkreihe. Beginnend mit O Gott erbarme dich! (1988), bildete er eine Mutter im Moment der Trennung von ihren Kindern ab. In Der Leidensweg (1989–1991) beschrieb er den Transport der Frauen aus ihren Heimatdörfern in die Zwangsarbeit. Explizit betonte er die gewaltsame Verschleppung, aber auch das Zurückbleiben und die Hilflosigkeit der Kinder und älteren Personen, die nicht arbeitsfähig waren. Das letzte Werk in dieser Reihe ist Die letzte Kraft (1990) und zeigt die schwere Arbeit der Frauen im Arbeitslager, die zusammen mit den menschunwürdigen Lebensbedingungen zum Tod vieler Lagerinsassinnen führte.

Die letzte Kraft, 1990. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte.

Natürlich stehen diese und viele darauffolgende Werke im direkten Kontext seiner Biographie. Trotzdem verzichtete er darauf, die dargestellten Personen seiner Familie nachzuempfinden. Stattdessen abstrahierte er im Vergleich zu früheren Werken und fokussierte stattdessen den Ausdruck einer Leidenserfahrung in Körperhaltung, Mimik und Gestik. Mit Blick auf frühere Porträts ist stilistisch daher höchstens der Gerasim (1970) ähnlich. Zudem legte Wedel Titel und Werkbeschreibung so an, dass sie nicht seine persönlichen Erlebnisse beschrieben. Stattdessen entwickelte er den Anspruch, in und mit seinen Werken die stalinistische Diktaturerfahrung von Russlanddeutschen aufzuarbeiten.[41] Dazu organisierte er mit Hertel, der 1996 das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte gründete, erste Wanderausstellungen. Seine neuen Werke waren in der Regel aus Gips und wurden durch die Transporte der Wanderausstellungen häufig beschädigt. Wedel sammelte daher Spenden und sucht Kontakte zur lokalen Kulturförderung, um schließlich mehrere Bronzeabgüsse in Auftrag zu geben, die dann in den Wanderausstellungen gezeigt wurden. Zudem stellte er über Otto Hertel sicher, dass seine Skulpturen seit 1996 dauerhaft im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte ausgestellt sind.[42]

Die Neuausrichtung von Wedels Werk wenige Jahre nach seiner Migration ist erheblich. Seine Aufarbeitung beginnt mit der stalinistischen Diktatur und führt bis in das damalige Zeitgeschehen. Vier Jahre nach seiner Ausreise gestaltete Wedel mit der Skulptur Die 70-jährige kommunistische Bruderschaft (1992) eine so explizit satirische Darstellung des Sowjetsystems wie in keinem seiner Werke zuvor. Abgebildet ist ein aufrecht stehender und übergewichtiger Wolf, der in einer Pfote einen wehrlosen Hasen festhält, während er mit der anderen Pfote ein Schnapsglas zum Maul führt. Der Hase hält mit großen, verängstigten Augen ebenfalls ein Glas in der Pfote, wird aber durch den Griff des Wolfs so sehr blockiert, dass er es nicht bis zum Mund führen kann. 

Die Skulptur beschreibt das ausbeuterische Verhältnis zwischen der politischen Elite und dem Volk in der Sowjetunion. Die Herrschenden zwingen die Beherrschten zu einer vermeintlichen Bruderschaft, doch statt einer gleichberechtigten Partnerschaft profitieren ausschließlich erstere. In leicht zu entschlüsselnder Bildsprache kritisierte Wedel die sozialistische Sowjetunion und ihre politischen Akteure als ungerecht, heuchlerisch und egoistisch. Die für den sozialistischen Realismus zuvor so typische Heldenverklärung der Führungskader der Sowjetunion wich einer anthropomorphen Tierdarstellung. Die einstmals unantastbar mächtigen Staats- und Parteiführer wurden durch ein instinktgeleitetes Tier ersetzt. Dadurch verloren das Sowjetsystem und seine Akteure den heilsbringenden Nimbus, mit dem Wedel sie in seinen früheren Propagandadarstellungen gezeigt hatte. Er gab sich nicht mehr mit einem bloßen Erinnern und Anklagen von Ungerechtigkeit zufrieden. Stattdessen machte er das System lächerlich. Ein Werk wie die Die 70-jährige kommunistische Bruderschaft war im Kontext seiner Schaffenstätigkeit in der Sowjetunion unvorstellbar und zementiert in seiner Biographie die Migration von Ost nach West.

Die 70-jährige kommunistische Bruderschaft, 1992. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Neubewertung und Synthese

Geradezu zwangsläufig drängen sich folgende Fragen auf: War Wedel seit den Repressionserfahrungen seiner Kindheit kritisch gegenüber dem Regime eingestellt? Hatte er sich aus Angst vor erneuter Repression assimiliert und sich deshalb lange Zeit nicht zu diesem Thema geäußert? Oder aber fühlte er sich durch die Anerkennung als Künstler in der Sowjetunion integriert und geschmeichelt, so dass er seine früheren Erlebnisse bereitwillig nicht thematisierte? Entwickelte er seine abwertende Haltung gegenüber der Sowjetunion erst als Folge seiner Migration in die Bundesrepublik? War der Spott über den Osten möglicherweise die Anpassung an den Westen?

Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. Fest steht allerdings, das Wedels Werk eine Ambivalenz aus Anpassung und kritischer Auseinandersetzung innewohnt, die zwar ansatzweise in der Sowjetunion erkennbar war, jedoch erst nach seiner Migration völlig offenbar wurde. Die Gesamtheit seiner Werke vor und nach Migration demonstrieren ein Spannungsfeld von Mensch, Kunst und System, das von Anpassung und Unterstützung des Regimes über subtile Kritik bis hin zu beißender Satire unterschiedliche Aspekte in sich vereint. Seine Migration beziehungsweise schon deren bloße Möglichkeit markiert in seiner Biographie den Beginn eines tiefgreifenden Transformationsprozesses.

Wedels Autobiographie ist bei der Frage nach seiner Haltung zur Sowjetunion vor seiner Migration nur bedingt aussagekräftig, da sie erst 2014 entstanden und von seiner Integration in den Westen geprägt ist. Aus der Rückschau heraus nutzte er weite Teile des Buchs dafür, selbst eine Deutung und Synthese seines Lebenswerks vorzulegen. Dieser Anspruch äußert sich etwa in Werkbeschreibungen und -interpretationen, aber auch in geänderten Werktiteln.

Ein Beispiel dafür ist seine Interpretation der Skulptur Gerasim (1970), mit der er sein zweites Kunststudium in der Sowjetunion abschloss. In seiner Autobiographie setzt Wedel die Geschichte des Garassims mit der Repression der Russlanddeutschen in der Sowjetunion gleich und schreibt: „Wie dem Gerasim wurde auch uns alles genommen [...]. In seinen Gesichtszügen wollte ich das stille tiefe Leiden einer einst starken und blühenden Volksgruppe vermitteln.“[43] Ist die etwas abstrakte Ausführung des Gerasim vielleicht ein Hinweis auf die doppelte Identität der Skulptur? Letztendlich legte Wedel diese Bedeutung erst später durch seine Autobiographie in das Werk. Ob er tatsächlich 1970 bei der Werkentstehung die Intention verfolgte, eine Leidensgeschichte der Russlanddeutschen in den trauernden Gesichtszügen des Gerasim abzubilden, bleibt zumindest fraglich. Die gleichen Argumente lassen sich für die Skulptur Ringen um Freiheit (1981) anführen. Einerseits finden sich vor allem im direkten Vergleich mit der Holzintarsie Aufruf zum Kampf (1979) Veränderungen in seiner Bildsprache. Andererseits stellte er den Bezug zur russlanddeutschen Geschichte erst Jahre später in seinem Buch her.

Die Holzintarsie Aufruf zum Kampf (1979) ist ein Beispiel dafür, dass Wedel später noch einmal in seine Werke eingriff. In einer von ihm handgeschriebenen Inventarliste ist die Intarsie in der bereits genannten Weise betitelt. In seiner Autobiographie findet sich unter einer Abbildung der Intarsie allerdings der Titel „Kampf für den Frieden“.[44] Schwächt Wedel den ursprünglichen Titel des Werkes mit der Absicht ab, mehr den gewaltverneinenden Werken seiner späteren Schaffensperiode zu entsprechen? 

Wedels Werk lässt sich nicht linear analysieren. Seine Migration in den Westen bedeutete eben nicht den Abschluss seines Werks im Osten. Im Gegenteil öffnete Wedel seine früheren Werke Jahre später erneut. Er deutete und bearbeitete sie. Die Migration und Integration in ein neues Gesellschaftssystem transformierte in einem zweiten Schaffensprozess seine früheren Werke. Der Umstand, dass Wedel sein Handeln und sein Werk nachträglich anpasste und erklärte, ist ferner ein Anhaltspunkt dafür, dass er sich der verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten seines Lebenswerks rückblickend bewusst war und sich deshalb seine Deutungshoheit sichern wollte.

Die Veröffentlichung seiner Autobiographie und die gemeinsam mit Hertel organisierten Wanderausstellungen zeigen, wie sehr Wedel in Deutschland bestrebt war, eine möglichst breite Öffentlichkeit mit seinen Werken zu konfrontieren. In seiner Wahlheimat in Schieder-Schwalenberg fiel es ihm leicht, sich zu vernetzen. Er war zudem bereit, Werke im Kontext der regionalen Geschichte seiner neuen Heimat herzustellen. Dazu schreibt er in seiner Autobiographie: „Gleich nach meiner Ankunft in Deutschland wurde mir bewusst, dass ich meine Themen überwiegend aus der Geschichte und Gegenwart der ursprünglich deutschen Bürger weit außerhalb meiner Umgebung schöpfen würde, und das ist einer der kürzesten Wege zum vollen Vertrauen und Verständnis für mich.“[45]

Ernst von Bandel bei der Arbeit am Hermannsdenkmal, 2001. Eine bronzene Kopie steht seit 2011 in der Bandelhütte am Hermannsdenkmal in Detmold.

Um dieses Vertrauen zu bestärken, nutzte Wedel außerdem eine für ihn altbewährte Methode: Wie in der Sowjetunion bildete er mit seinen Skulpturen Personen ab, die mit der lokalen Politik, Kultur verbunden sind. Zu diesen Personen gehörten zum Beispiel der Altbürgermeister Wilhelm Ahrens, der zur Zeiten Wedels den Vorsitz über den lokalen Schützenverein innehatte, Günter Honold, eigentlich Bäckermeister, aber gleichzeitig auch Vorsitzender des Schwalenberger Verkehrsvereins, Robert Burau, der Gründer des gleichnamigen Verlags, der unter anderem die Druckkataloge zu Wedels Ausstellungen verlegte, und natürlich Otto Hertel. Auf diese Weise gewann Wedel ein Netzwerk aus Förderern. Diese unterstützten ihn darin, seine Werke dauerhaft an populären Orten zu platzieren. Dazu gehören Skulpturen zur lokalen Geschichte und Kultur an mehreren Standorten in Schwalenberg und Bad Meinberg und ein Porträt von Ernst von Bandel nur wenige Meter entfernt vom Hermannsdenkmal in Detmold.[46] Auf diese Weise gelang es Wedel, in seiner Heimatregion eine gewisse Bekanntheit zu erreichen. Die Werke aus seiner Reihe zur russlanddeutschen Diktaturerfahrung sind seit Mitte der 1990er Jahre beinahe lückenlos in deutschlandweiten Wanderausstellungen oder im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold ausgestellt.[47] Eine bronzene Kopie der Skulptur Die letzte Kraft steht seit 2002 auf dem Parkfriedhof in Marzahn-Hellersdorf in Berlin. Bezogen auf russlanddeutsche Erinnerungskultur erreichen seine Werke deshalb Personen im gesamten Bundesgebiet. Wedel prägte das kulturelle Gedächtnis mit seiner künstlerischen Aufarbeitung des Stalinismus zu diesem Zeitpunkt bewusst als eine Leidensgeschichte, hinter der seine früheren Werke aus der Sowjetzeit zurücktraten.

Fußnoten

  1.  Vgl. Hildermeier, Sowjetunion, S. 53; Guski, Literaturgeschichte, S. 322.
  2.  Die im Folgenden thematisierten Werke von Jakob Wedel sind seit 2019 in der Ausstellung „Kunst, Mensch, System. Anpassung oder Widerstand?“ im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte zu sehen.
  3.  Vgl. Wedel, Leben, S. 112–140, 225–252.
  4.  Mit der Unabhängigkeit Kirgisistans 1991 wurde Frunse in Biškek umbenannt und gleichzeitig zur Hauptstadt des neuen Staates ernannt. Schon zuvor war Frunse die Hauptstadt der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Das Dorf Bergtal wurde 1931 in Rot-Front umbenannt.
  5.  Vgl. Wedel, Leben, S. 12.
  6.  Vgl. Krieger, Kolonisten, S. 130.
  7.  Vgl. Wedel, Leben, S. 139, 152–177.
  8.  Ebd., S. 136.

  9.  Vgl. ebd.
  10.  Vgl. Wedel, Leben, S. 177–179.
  11.  Vgl. ebd., S. 134–180.
  12.  Vgl. ebd., S. 134–152.
  13.  Wedel macht keine Angabe, dazu wie ihm dieser Umzug vor der Aufhebung der Sonderkommandantur möglich war. Er berichtet lediglich, dass er sich bis 1956 monatlich bei einem Beamten in Frunse melden musste. 
  14.  Vgl. ebd., S. 353, 375–378.
  15.  Zit. nach: Erbe, Die verfemte Moderne, S. 38.
  16.  Vgl. Guski, Realismus S. 322.
  17.  Satjukow, Helden S. 15–35 Vgl. dazu Wedel, Manastschy (1965), Erfolg des jungen Hirten (1966), Der Riese Kodschomkul (1974), Reihe Kujrutschuk mit 23 Skulpturen (1979–2011), Kleiner Held (1984).
  18.  Vgl. Hildermeier, Sowjetunion, S. 53.
  19.  Vgl. Engel, Tauwetter, S. 350.
  20.  Vgl. Hildermeier, Sowjetunion, S. 83. Vgl. Engel, Tauwetter, S. 351.
  21.  Vgl. ebd, S. 157. Vgl. Engel, Tauwetter, S. 351–353.
  22.  Krieger, Kolonisten, S. 140.
  23.  Wedel, Leben, S. 358.
  24.  Vgl. ebd., S. 291, 331.
  25.  Vgl. Krieger, Kolonisten, S. 153–156.
  26.  Jakob Wedel übersetzt den Namen der Hauptfigur „Герасим“ für den Titel seiner Skulptur mit „Gerasim“. Für die Beschreibung der Novelle in diesem Text wird aber die übliche deutsche Übersetzung mit „Garrassim“ verwendet. 
  27.  Vgl. Turgenev, Mumu.
  28.  Vgl. Wedel, Leben, S. 328–336, 357, 371–372, 375–378, 389–401.
  29.  Bei dieser Technik werden verschiedenfarbige Hölzer zugeschnitten und ähnlich einem Mosaik auf einer ebenen Fläche so ineinandergelegt, dass ein Bild entsteht. Vgl. ebd., S. 388.
  30.  Vgl. Wedel, Leben, S. 397–400. 
  31.  Vgl. ebd., S. 427.
  32.  Vgl. ebd., S. 389–393.
  33.  Vgl. ebd., S. 357.
  34.  Vgl. Wedel, Leben, S. 362–363.
  35.  Vgl. ebd., S. 362. Bisher ist nur die Überlieferung von zwei Porträts bekannt. Vgl. MrK 0000/17 und 2011/302.
  36.  Jakob Wedel war mit der Tochter von Evgenij Vučetič bekannt, nach dessen Entwurf die Mutter-Heimat-Statue 1967 in Wolgograd fertigstellt wurde. Vgl. Foto Ausstellungseröffnung Jakob Wedel, MrK 2019/655.
  37.  Vgl. Wedel, Leben, S. 433–434.
  38.  Vgl. zum Beispiel die Werkreihe Kujrutschuk, MrK 2012/272 – MrK 2012/289; Die Libelle, MrK 2012/218; Basketball, MrK 2012/234.
  39.  Erste Freikirchler siedelten sich in Lippe kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an. Sie kamen als Heimatvertriebene und Flüchtlinge aus dem Raum Danzig und Westpreußen. Diese wurden dann für die ersten Aussiedler aus der Sowjetunion ab Anfang der 1970er Jahre eine Anlaufstation. Nach der gemeinsamen Gründung freikirchlicher Gemeinden sammelten sich vor allem in den 1990er Jahren um diese herum weitere Spätaussiedler:innen an. Vgl. dazu Müller, Mennoniten, S. 62.
  40.  Vgl. Wedel, Leben, S. 453–454.
  41.  Vgl. Wedel, Werkbeschreibungen, MrK 2019/469, Nr. 112–113 und 131.
  42.  Vgl. Wedel, Briefverkehr, MrK 2019/470.
  43.  Vgl. Wedel, Leben, S. 374.
  44.  Vgl. ebd., S. 507.
  45.  Wedel, Leben, S. 453
  46.  Nach Angaben der Denkmal-Stiftung des Landesverbands Lippe auf www.hermannsdenkmal.de (Zugriff 21.06.2021) wird das Hermannsdenkmal bei Detmold jährlich von mehr als 500.000 Personen besucht. Wedels Skulptur steht nur etwa 150 Meter weiter
  47.  Vgl. Wedel, Presseberichte, Briefverkehr. MrK 2019/470.

Quellen

  • Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte, Objektsammlung. Bildwerke von Jakob Wedel, Inventarnummern hauptsächlich: 2012/194 bis 2012/296, 2018/692 bis 2018/744 und 2019/311 bis 2019/665. Online einsehbar unter: www.russlanddeutsche.de/images/russlanddeutsche/content/museum/ausstellungen/JakobWedel/WedelOnline-gesamt_compressed.pdf (Zugriff 05.12.2022).
  • Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte, Archiv. Nachlass von Jakob Wedel, Inventarnummern: 2019/468 bis 2019/470.
  • MrK 2019/468: Jakob Wedel, Bildhauer. Beschreibung mit Fotos der geschaffenen Kunstwerke aus Gips, Holz und Bronze N.1. Objektbeschreibungen Nr. 1–102.
  • MrK 2019/469: Jakob Wedel, Bildhauer. Beschreibung mit Fotos der geschaffenen Kunstwerke aus Gips, Holz und Bronze N.2. Objektbeschreibungen Nr. 102–177.
  • MrK 2019/470: Jakob Wedel Künstlerpersönlichkeit. 1. Kunstwerke und Ausstellungen. Sammlung von Presseberichten. 2. Einige Darstellungen der Biografie des Künstlers und Ergänzungen dazu. 3. Listen von Werken. 4. Begleittexte zu den Kunstwerken. 5. Briefverkehr.

Literatur

  • Engel, Christine: Vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1990), in: Städtke, Klaus (Hg.): Russische Literaturgeschichte. 2. Auflage, Stuttgart 2011.
  • Erbe, Günter: Die verfemte Moderne: die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur in der DDR, Opladen 1993.
  • Guski, Andreas: Sozialistischer Realismus (1934–1953), in: Städtke, Klaus (Hg.): Russische Literaturgeschichte. 2. Auflahge, Stuttgart 2011.
  • Hildermeier, Manfred: Die Sowjetunion 1917–1991. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Oldenburg 2007.
  • Krieger, Viktor: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. Eine Geschichte der Russlanddeutschen, Bonn 2015.
  • Müller, Stefan: Mennoniten in Lippe. „Gottes Volk unterwegs zwischen Verfolgung und Verführung“. Milieustudie in einer ethno-konfessionellen Gemeinschaft rußlanddeutscher Aussiedler, Bielefeld 1992.
  • Satjukow, Silke/Gries, Rainer: Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002.
  • Turgenev, Ivan Sergeevič: Mumu, Stuttgart 1992.
  • Wedel, Jakob: Über mein Leben 1931–2014. Lage, 2014.
  • Wedel, Jakob: Jakob Wedel Bildhauer, Lage 2001.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Jakob Wedel: Mutter Blumen, 1942. MrK 2011/303.
Abbildung 2: Jakob Wedel: Der Erfolg des jungen Hirten, 1966. MrK 2012/241.
Abbildung 3: Jakob Wedel: Gerasim, 1970. MrK 2012/269.
Abbildung 4: Jakob Wedel: Völkerfreundschaft 1974, MrK 2019/649.
Abbildung 5: Jakob Wedel: Die Last des Hirten, 1976. MrK 2012/197.
Abbildung 6: Jakob Wedel: Aufruf zum Kampf/Kampf für den Frieden, 1979.
Abbildung 7: Jakob Wedel: Ringen um Freiheit, 1981. MrK 2019/370.
Abbildung 8: Jakob Wedel: Die letzte Kraft, 1990, MrK 0000/8.
Abbildung 9: Jakob Wedel: Die 70-jährige kommunistische Bruderschaft, 1992, MrK 0000/11.
Abbildung 10: Jakob Wedel: Ernst von Bandel bei der Arbeit am Hermannsdenkmal, 2001, MrK 2018/735.