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Dr. Alfred Eisfeld und Wladimir Leysle: „Mir san von Odes‘!“ – über Deutsche und ihr Kulturerbe in der Ukraine

Rund 400.000 Deutsche lebten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Viele von ihnen wurden während des Zweiten Weltkrieges als „Volksdeutsche“ ins „Deutsche Reich“ umgesiedelt, die meisten kamen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg als Deportierte nach Sibirien und Zentralasien.

Heute leben etwa 30.000 Angehörige der deutschen Minderheit in der Ukraine. Mit Dr. Alfred Eisfeld vom Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreises e.V. und Wladimir Leysle, Vorstandsvorsitzender des Rates der Deutschen in der Ukraine, sprechen wir über die Geschichte der Deutschen in der Ukraine und ihr kulturelles Erbe.

Diese Folge entstand in Kooperation mit dem Deutschen Kulturforum östliches Europa.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Edwin: Heute bin ich in Detmold und du bist ja noch in Odesa. Wobei, für dich heißt es Endspurt. Der Oktober ist dein letzter Monat in der schönen Schwarzmeerstadt und der letzte Monat, den du als Stadtschreiberin da verbringen wirst. Was hast du über die Ukrainedeutschen und ihr Erbe dabei erfahren?

Ira: Ich habe mich sehr intensiv mit der ukrainedeutschen Geschichte befasst. Obwohl ich das auch schon vorher gemacht habe, meine Großeltern waren Wolhyniendeutsche in der Westukraine, habe ich doch einiges an Neuem erfahren.

Ira auf Spurensuche bei einer entfernten Verwandten in Wolhynien im Juli 2021

Edwin: Was vielen heute nicht bekannt oder nicht bewusst ist: Mehr als die Hälfte der Russlanddeutschen lebte vor dem Zweiten Weltkrieg in der heutigen Ukraine. Um euch einen Überblick über die Geschichte der Ukrainedeutschen zu geben, sprechen wir heute mit Dr. Dr. h.c. Alfred Eisfeld. Er ist Osteuropahistoriker und Experte für Geschichte und Kultur der Deutschen im Russischen Reich, der Sowjetunion und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Einer seiner Forschungsschwerpunkte sind die Deutschen in der Ukraine. Alfred Eisfeld ist geschäftsführender Leiter des Instituts für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreis e.V.

Ira: Und wie es um die Deutschen in der Ukraine heute steht, darüber sprechen wir in der zweiten Hälfte dieser Podcastfolge. Dazu habe ich ein kurzes Interview geführt mit Wladimir Leysle. Er wohnt in Kyjiw und ist Vorstandsvorsitzender des Rates der Deutschen in der Ukraine.

Edwin: Was verbindet dich persönlich mit der Ukraine und wann warst du zum letzten Mal dort?

Alfred Eisfeld: Mit der Ukraine verbindet mich viel. Meine Vorfahren sind 1788 aus Danzig in die Ukraine eigenwandert und haben dort über Generationen im Gouvernement Jekaterinoslaw, später Dnepropetrowsk, gewohnt. Sie wurden 1943 „heim ins Reich“ geholt und 1945 wieder zurück in die Sowjetunion. Auf der Wanderung durch die Sowjetunion kam meine Familie dann 1969 wieder in die Ukraine, aus der wir 1973 nach Deutschland ausgewandert sind. Beruflich habe ich in der Tat ziemlich viel mit der Ukraine zu tun, weil ich mich dort mit Archivalien und musealen Sammlungen beschäftigt habe und mit Kollegen eine Reihe von Konferenzen und Publikationen zustande gebracht habe. Zuletzt war ich vor der Pandemie in der Ukraine und meine nächste Reise steht in drei Wochen an. Da werden wir in Kyjiw am Institut für Weltgeschichte der Akademie der Wissenschaften eine Konferenz anlässlich des 80. Jahrestages der Deportation der Deutschen aus der Ukraine durchführen.

Ira: Kannst du uns einen Überblick darüber geben, wann und woher die Deutschen in das Land kamen, das wir heute als Ukraine bezeichnen?

Alfred Eisfeld

Alfred Eisfeld: Das war Ende des 18. und im 19. Jahrhundert, als die Welt richtig in Bewegung war. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in deutschen Gegenden kriegsbedingte Zerstörungen, Hungersnöte und richtige Epidemien, die ganze Landstriche entvölkert haben. In anderen Gegenden gab es eine Überbevölkerung. Katharina die Große hatte ein Reich übernommen, in dem es Randprovinzen gab, die zu Unrecht als menschenleer galten und wirtschaftlich unerschlossen waren. In dieser Situation versuchte sie Bauern ins Land zu holen.

Die Ukraine war damals kein einheitlicher Staat. Teile davon wurden vom Russischen Reich verwaltet, Teile von Österreich-Ungarn. Es war auch eine sehr polyethnische Bevölkerung. Mit dem Vordringen des Russischen Reiches mussten Teile der dort ansässigen Bevölkerung ihre Heimat verlassen. Ab 1803 beginnt eine geregelte Einwanderung auf Einladung der russischen Regierung. Da ging es vor allem um die Anlage von bäuerlichen Kolonien, die die aufstrebenden Städte Odessa und Nikolaew mit Lebensmitteln versorgen sollten. Bals sollten deutsche Siedler Flächen erschließen und diese urbar machen.

Eine etwas andere Geschichte hat sich in Wolhynien abgespielt. Nach den polnischen Aufständen strömten Deutsche aus dem Herzogtum Warschau nach Wolhynien und haben sich dort vor allem als Pächter niedergelassen. In der Bukowina und Galizien verlief die Kolonisation ganz anders. Wir haben es also mit völlig verschiedenen Gruppen zu tun: Hier Kolonisten, die sich mit staatlicher Unterstützung etablieren konnten, dort nur Pächter. Oder auch Landarbeiter auf Domänen von Großgrundbesitzern.

Ira: Wie kamen denn die unterschiedlichen Gruppen, die in das Russische Zarenreich kamen, miteinander aus? Welche Sprache haben sie gesprochen?

Alfred Eisfeld: Man musste nicht unbedingt viel miteinander kommunizieren, denn gesiedelt wurde getrennt nach Ortschaften, zum Teil auch nach Konfessionen. Sehr viele Beamte und Militärs im Russischen Reich waren deutsch-baltischer Herkunft und sprachen Deutsch. Dazu gab es deutschsprachige Geistliche und Zivilbeamte. Mit der Zeit haben Kolonisten allerdings auch Russisch oder Ukrainisch gelernt.

Edwin: Wie kann man sich das Leben im 19. Jahrhundert dieser verschiedenen Gruppen vorstellen?

Alfred Eisfeld: Es gab in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen nicht zu übersehenden Unterschied zwischen den Mennoniten an der Molotschna etwa und Kolonisten, Lutheranern und Katholiken. Mennoniten haben ihre Höfe in den seltensten Fällen zur Hälfte geteilt. Geerbt hat der jüngste Sohn. Alle anderen mussten ein Handwerk erlernen oder die Gemeinde hat für sie Land gepachtet oder gekauft. So ging es dann mit der Gründung von Tochterkolonien bis in den Südural, Nordkaukasus und nach Sibirien. Bei den Kolonien im Schwarzmeergebiet war es kennzeichnend, dass sie zu Wohlstand gekommen sind. Durch ihren Kinderreichtum und den Wohlstand hat eine Expansion stattgefunden. Sie haben Land gepachtet und aufgekauft und wurden in vielen Gebieten zur dominierenden Kraft. Nicht von der Anzahl der Bevölkerung, sondern von ihrem wirtschaftlichen Potential her. Bei den Wolhyniendeutschen war die Geschichte viel komplizierter, weil Pachtverträge nur befristet abgeschlossen wurden und bei jeder Verlängerung die Preise gestiegen sind. Das wurde dann uninteressant. Wolhyniendeutsche haben dann auch Ländereien gepachtet und Land gekauft im Südural, Sibirien und bis in die Steppen Nordkasachstans.

Haus in ehemaliger deutscher Siedlung Towine in Wolhynien

Edwin: Wie war das Zusammenleben mit den Nachbarn, mit den Ukrainern, mit den anderen Gruppen, die da angesiedelt waren oder auch davor da lebten?

Alfred Eisfeld: Die Konfliktlinien verliefen weniger zwischen den Ethnien, sondern mehr zwischen den sozialen Schichten. Es ist bekannt, dass unter den deutschen Kolonisten viele Saisonarbeiter aus den ukrainischen und russischen Nachbardörfern tätig waren. Zu Konflikten ist es gekommen zwischen den Pächtern und Landgemeinden, den deutschen und ukrainischen und den ukrainischen und russischen Großgrundbesitzern, weil das Land binnen kurzer Zeit immer teurer wurde und russische und ukrainischen Großgrundbesitzer nicht mehr Land aufkaufen konnten. Die deutschen und mennonitischen Gemeinden konnte es zu besseren Preisen abkaufen. Die Großgrundbesitzer haben auch nicht genügend Arbeitskräfte bekommen. Es war nicht mehr möglich, zu Hungerlöhnen Landarbeiter zu bekommen. Und deshalb gab es schon im ausgehenden 19. Jahrhundert die Mär von der deutschen Übermacht und von der friedlichen Eroberung der Randgebiete des Russischen Reiches, die dann im Ersten Weltkrieg zur Deportation vor allem der Wolhyniendeutschen geführt hat.

Ira: Wie hat sich die Lage für die Deutschen in der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg verändert und vor allem mit der Machtergreifen der Kommunisten?

Alfred Eisfeld: 1917 herrschte im ganzen Land eine Aufbruchsstimmung. Darunter auch unter den Deutschen. Man sprach sehr viel über Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Selbstbestimmung. Dazu kam es aber nach der Machtergreifung nicht. Die Verstaatlichung des Landes, die Schließung von Kirchen und Schulen haben selbstverständlich nicht dazu beigetragen, dass die deutsche, genauso wie auch die ukrainische oder russische Bevölkerung der Sowjetmacht aufgeschlossen gegenüber war. Im Gegenteil: Man hat passiven Widerstand geleistet. Es gab aber auch zahlreiche Bauernaufstände. Die Sowjetmacht hat sich aber durchgesetzt. Der Preis dafür war die Hungersnot 1921 und 1922 und dann wieder nach der Enteignung der Bauern 1932 bis 1934 hinein. Die letzte ist in der ukrainischen Geschichtsforschung als „Holodomor“ bekannt.

Interessant ist, dass die Sicherheitskräfte die deutsche Bevölkerung schon seit 1924 verdächtigt haben der Sowjetmacht insgesamt feindselig gegenüberzustehen. In Folge wurde ab den 1920er Jahren und dann nach der Hungersnot von 1932 und 1933 ein Überwachungssystem aufgebaut. Ganze Gruppen der Bevölkerung wie Lehrer, Geistliche, ehemalige selbstständige Bauern wurden als Feinde der Sowjetmacht gebrandmarkt. Es ging schon in den frühen 1920er Jahren damit los, dass eine Auswanderung von Mennoniten vor allem nach Übersee stattfand. 1928 und 1929 kommt es dann zu Deportationen von Deutschen. Erstmal in die Nordregion, also Archangelsk, dann 1934 nach Karelien und 1936 aus Wolhynien wiederrum nach Kasachstan.

Edwin: Der Historiker Timothy Snyder hat den Begriff „blood lands“ entwickelt für ein Gebiet in Europa, dessen Zivilbevölkerung sehr viel Schreckliches erleben musste, zu dem auch die Ukraine gehört. Mit dem Einzug der Sowjetmacht und des Stalinismus ging diese schreckliche Periode nicht zu Ende. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam dann die nächste Katastrophe in dieses Gebiet. Wie erging es der deutschen Minderheit mit dem oder nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges?

Alfred Eisfeld: Die Deportation der Deutschen aus der Ukraine hat schon vor dem Krieg stattgefunden. Nur war sie zahlenmäßig beschränkt und auf einzelne Gruppen fokussiert. Mit Ausbruch des Krieges hat sich das erstmal fortgesetzt. Die Rote Armee hat eine Niederlage nach der anderen erlitten und war auf dem Rückzug. Dort, wo es östlich des Dnepr ruhiger war, hat man die Bevölkerung komplett nach Kasachstan und Sibirien ausgesiedelt. Auch in dieser Situation, als die sowjetische Armee geschlagen war und sich auf dem Rückzug befand, hat man noch immer die restliche Bevölkerung aus dem Donezkgebiet und aus der Umgebung von Charkiw deportiert. Auch nach der Befreiung der Gebiete wurden Deutsche, die den Status „Volksdeutsche“ bekamen, als Volksverräter verhaftet und zu zehn Jahren und mehr Haft verurteilt und verbannt.

Wer nach dem Ende der Kampfhandlungen zurückkehren konnte, wurde ebenfalls deportiert und in die Sondersiedlungen und Arbeitslager verbannt. Ein Großteil der Deutschen aus der Ukraine wurde bekanntlich 1943/44 ins Deutsche Reich gebracht, um sie dort für den nationalsozialistischen Staat bei der Germanisierung etwa der polnischen Gebiete nutzbar zu machen. 1945 haben Repatriierungskommandos alle früheren Sowjetbürger, derer sie habhaft werden konnten, repatriiert. Die Repartierung der Russlanddeutschen bestand darin, dass man sie als Arbeitskräfte auf Betriebe verteilt hat. Jedenfalls war 1945 der Stand erreicht, dass es in der Ukraine praktisch keine deutsche Bevölkerung mehr gegeben hat.

Ira: Wie viele Deutsche haben insgesamt auf dem Gebiet der Sowjetrepublik Ukraine vor dem Zweiten Weltkrieg gelebt?

Alfred Eisfeld: Die Zahlen variieren. Es ist aber eine Größenordnung von über 400.000.

Ira: Heute haben wir knapp 30.000 Menschen in der Ukraine, die sich als ethnische Deutsche bekennen.

Edwin: Die Ukraine ist in den letzten Jahren und in den letzten Jahrzehnten bemüht, dieses sozialistisch-kommunistische, sowjetische Erbe aber auch das Erbe des Russischen Imperiums loszuwerden. Die Siedlungswerke, die durch die russischen Zaren auf dem Gebiet der heutigen Ukraine betrieben wurden, sind im Prinzip eine Kolonisation dieses Landes gewesen. Wie geht die heutige ukrainische Gesellschaft damit um?

Alfred Eisfeld: Ich würde sagen, dass die Trennungslinie nicht zwischen den Ethnien verläuft, sondern zwischen der geistigen Einstellung. Wer die Souveränität und die Identität der Ukrainer akzeptiert und mitträgt, ist wohlgelitten. Wer sich dagegen stellt, weniger bis gar nicht. Dazu können allerdings auch Ukrainer gehören, die von der Mehrheitsgesellschaft nach meinem Empfinden abgelehnt werden. Die deutschen Kolonien oder die Leistungen, die von den deutschen Kolonisten aber auch von der Stadtbevölkerung vollbracht wurden, sind ein Teil des historischen Erbes der Ukraine. Aber wenn man ein Denkmal für Katharina aufstellen will oder für einen anderen russischen Zaren, dann wird es brenzlig. Dann kommt der russische Imperialismus zum Vorschein.

Ira: Lasst uns dazu in das Interview mit Wladimir Leysle vom Rat der Deutschen der Ukraine reinhören, wie er die aktuelle Situation der Deutschen in der Ukraine beschreibt.

Wladimir Leysle: Wir sind ein Dachverband für mehr als 100 Organisationen, die hier in der Ukraine existieren. Wir sind in verschiedenen Bereichen aktiv: Jugend- und Seniorenprojekte, religiöse Gemeinden, es gibt Kurse für die deutsche Minderheit. Aber nicht nur für sie, wir möchten generell Impulse für die deutsche Sprache geben. Wir können viel über die deutsche Minderheit in der Ukraine sprechen, aber wenn wir unsere Muttersprache wenig benutzen, dann ist das schade. Unsere Geschichte ist daran schuld. Die deutsche Minderheit macht sehr viel hier in der Ukraine, und das sind gute Impulse für bilaterale deutsch-ukrainische Beziehungen in verschiedenen Bereichen: wissenschaftliche, wirtschaftliche, Jugendaustausch.

Ira: Ihr bietet Sprachkurse an, oder publiziert Kinderbücher, zweisprachig, und zwar auf Deutsch und Ukrainisch. Wie kriegt ihr das finanziert?

Wladimir Leysle: Einerseits bekommen wir wie andere deutsche Minderheiten Osteuropas starke Unterstützung vom Bundesinnenministerium, das uns sehr hilft. Parallel dazu haben wir Unterstützung von der ukrainischen Seite. Die ukrainischen Kulturstiftung unterstützt zurzeit einige unserer Projekte. Zum Beispiel im vorherigen Jahr arbeiteten wir am virtuellen Museum über Wolhyniendeutsche. Dieses Jahr beginnen wir mit dem virtuellen Museum über Galiziendeutsche. Oder zum Beispiel ein kurzer Dokufilm über die Deportation der Ukrainedeutschen, was für uns besonders in diesem Jahr wichtig ist. Viele Menschen in unserem Verein bezahlen Teilnehmerbeiträge und investieren ihre Zeit und Mühe. Rund 20 bis 25 Prozent des Geldes für unsere Projekte kommen aus eigener Tasche.

Ira: Mit Dr. Alfred Eisfeld haben wir viel über die Zeit der Kolonisten gesprochen, also über die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg. Mich würde interessieren, wie ging es nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine für die Deutschen weiter? Die allerallermeisten waren ja deportiert, nur wenige sind zurückgekommen. Wie ist mit dem deutschen Erbe umgegangen worden?

Wladimir Leysle: Ich selbst bin in Lettland geboren und in Kasachstan aufgewachsen. Und bin fasziniert, wie viele Sachen in der Ukraine noch geblieben sind. Zum Beispiel war ich vor vier Wochen auf einer Expedition in Galizien und bin begeistert, wie viele Gebäude wie Kirchen noch geblieben sind. Schwierig ist für uns momentan, dass wir nicht so viele Leute oder Kraft haben, um alles in Ordnung zu bringen. Wir brauchen Partner in Deutschland, die uns helfen.

Ira: Was ist eigentlich mit der Ukraine? Sieht sie dieses deutsche Erbe als Teil ihrer eigenen Geschichte?

Wladimir Leysle: Die deutsche Sprache ist in der Ukraine durch die Sprachcharta geschützt und das ist keine Kleinigkeit für uns. Das bedeutet, dass die Ukraine die deutsche Sprache offiziell als Kulturerbe der Ukraine anerkannt hat. Es gibt noch 12 andere Minderheitensprachen, die diesen Schutzstatus bekommen haben. Schwer ist für uns, passende Experten zu finden, um das deutsche kulturelle Erbe der Ukraine zu schützen.

Ira: Welche anderen Minderheitensprachen werden in der Ukraine durch die Sprachcharta geschützt?

Wladimir Leysle: Generell geht es nicht um Minderheiten, sondern um Sprachen, die relevant und aktuell für die Ukraine als Minderheitensprachen sind wie zum Beispiel die krimtatarische Sprache. Diese Minderheit ist größer als die deutsche Minderheit. Es gibt die ungarische Minderheit, rumänische Minderheit, Gagausen oder Karäer, deren Sprachen durch diese Charta geschützt sind. Das bedeutet, man kann für Sprachunterricht Unterstützung bekommen oder Möglichkeiten hat, sie als zweite Fremdsprache in der Schule zu lernen. Durch die Schulreformen, die wir jetzt in der Ukraine haben, haben wir Angst, dass die deutsche Sprache in der Zukunft weniger Stunden bekommt. Aber es gibt eine Nachfrage für die deutsche Sprache. Mindestens 600.000 Menschen lernen Deutsch als Fremdsprache. Leider keiner mehr als Muttersprache.

Wir möchten mehr über die deutschen Minderheiten in Lehrwerken sehen. Unsere Aufgabe ist es zu erklären, dass Deutsche nicht nur Klischees wie Bier und BMW sind, sondern dass beispielsweise ein Friedrich Falz-Fein das Naturschutzgebiet Askanija-Nowa gegründet hat oder, dass wir ganz stark im wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Leben der Ukraine sind und was wir vor dem Zweiten Weltkrieg gemacht haben.

Ira: Was erfahren denn SchülerInnen in den Schulen in der Ukraine über die Deutschen vor dem Zweiten Weltkrieg?

Wladimir Leysle: Wenig. Auf der einen Seite ist es schwierig, alles in ein Geschichtsbuch zu packen. Jede Minderheit möchte über sich irgendwas schreiben und Papier im Lehrbuch ist knapp. Man muss für Jugendliche dieses Material durch neue Methoden und in interessanterer Form zeigen, zum Beispiel als Trickfilm oder kurzes Erklärungsvideo. Das machen wir momentan auf unserm YouTube-Kanal.

Ira: Was bedeutet für die Deutschen, die in der Ukraine heute leben, die deutsche Identität?

Wladimir Leysle: Wir sehen uns ganz klar als Europäer. Es gibt positive Sachen von beiden Nationen und man kann das Beste von beiden Seiten nutzen. Für uns gibt es keinen Konflikt zwischen den Identitäten. Man kann aber sagen, wenn wir einen Konflikt wie zum Beispiel im Osten der Ukraine haben, dann sagen alle „Wir sind ukrainische Bürger und helfen“.

Ira: Hat der Krieg im Osten der Ukraine dazu beigetragen, dass mehr ethnisch Deutsche aus der Ukraine ausgewandert sind?

Wladimir Leysle: Viele Deutsche, die in der Ostukraine leben, sagten: „Wir suchen für unsere Kinder bessere Möglichkeiten.“ Darum haben wir viele Binnenflüchtlinge, die jetzt in Kiew, Odessa oder Lemberg leben. Es gibt Menschen, die gut Deutsch sprechen und jetzt als ukrainische Bürger in Deutschland arbeiten oder als Spätaussiedler dort leben. Aber wenn Menschen eine gute Perspektive für sich hier sehen, dann bleiben sie auch. Die deutsche Minderheit hat eine positive Zukunft in der Ukraine.

Edwin: Wir haben gehört, dass ein Teil der Deutschen in der Ukraine sich als ethnische Deutsche verstehen. Wie ist das in Deutschland? Verstehen sich Russlanddeutsche mit ukrainedeutschen Wurzeln als Ukrainedeutsche?

Alfred Eisfeld: Dafür gibt es keinen Bedarf. Denn die meisten Deutschen, deren Wurzeln in der Ukraine waren, sind aus anderen Gebieten ausgewandert. Die waren nach 1945 nicht mehr auf ukrainischem Gebiet ansässig. Sie sind als Aussiedler, als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen und haben diese Inbesitznahme durch die souverän gewordenen Republiken nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gar nicht mitgemacht. Die haben die Identität von Ukrainedeutschen nicht. Aber: „Mir san von Odes‘!“

Ira: Und da wären wir wieder zurück in Odesa, wo ich ja gerade sitze. Wir kommen zum Ende unseres Gesprächs. Edwin, ich weiß, dass du noch etwas mit Odesa vorhast.

Edwin: Es geht um Kulturtransfer im 19. Jahrhundert. Also jetzt nicht nur um die deutschen Kolonisten und Siedler. Wir werden am Landestheater in Detmold das Buch: „Geschichten von Menschen und Tieren“ vorstellen und die Ausstellung dazu im Museum. Es handelt sich um ein Buch, das 1885 dem Odessaer Verlag „Emil Berndt“ erschienen ist. Es ist ein Kinderbuch mit sehr schönen bunten Lithografien, die wiederum aus einer Stuttgarter Manufaktur stammen. Dieses Buch wurde in ganz Russland verkauft und gelang auch in die Familie Schaefer, eine zu Wohlstand gekommene Kolonistenfamilie in St. Petersburg. Diese Familie ist nach der Oktoberrevolution nach Deutschland geflohen und das war eins der wenigen Stücke, das sie noch retten konnten. Der Fotograph A. T. Schaefer, ein bekannter Opern- und Theaterfotograph, hat dieses Buch seiner Großmutter zum neuen Leben erweckt, bearbeitet und ins Deutsche übersetzt.

Ira: Alfred, womit beschäftigst du dich in nächster Zeit in Zusammenhang mit der Ukraine?

Alfred Eisfeld: Es gibt mehrere Ideen. Mich interessiert zum Beispiel das Schicksal der Schriftsteller und Journalisten, die in Charkow ansässig waren und Anfang der 1930er Jahre verhaftet wurden. Wir befassen uns weiterhin mit der Aufarbeitung von Archivbeständen. Ich denke, es lohnt sich, die 1930er Jahre in den einzelnen Gebieten etwas näher anzuschauen. Dort lebten Menschen, es sind nicht nur Zahlen.

Archiv in Zhytomyr (Wolhynien)

Edwin: Ira, was steht bei dir im letzten Monat an und was war ein Highlight zum Thema deutsches Kulturerbe oder deutsche Minderheit in deiner Zeit in Odesa?

Ira: Ich glaube, es ist einfach die Summe an Menschen, die ich in der Ukraine getroffen habe, die zum Teil deutsche Wurzeln haben oder gar keine familiäre Beziehung zu Deutschen haben, aber sich einfach für dieses Thema interessieren und wahnsinnig engagiert sind. Ich habe kürzlich in Tarutyne, in Bessarabien, einen Mann kennengelernt, der ukrainischer Bulgare ist. Er interessiert sich sehr für die deutsche Geschichte Bessarabiens und hat zum Beispiel in Sarata, einem ehemals deutschen Ort, in dem er lebt, über die Lehrerfortbildunganstalt „Wernerschule“ ein Buch veröffentlicht. Solche Menschen habe ich immer wieder hier in der Südukraine getroffen. Ich finde es bewundernswert, dass sie versuchen diesen Teil der ukrainischen Geschichte öffentlich zu machen und im Erinnerungsbewusstsein des Landes zu verankern. Diese Begegnungen machen für mich die Zeit hier in der Ukraine so besonders.

Und was noch ansteht ist: Nächste Woche bin ich nochmal in Bessarabien unterwegs, für die dritte Auflage des Buches über Bessarabiendeutsche. Ich mache dort Fotos von ehemaligen deutschen Siedlungen, von Friedhöfen und Kirchenruinen der Deutschen. Auch führe ich noch eine Medienwerkstatt für junge Menschen aus Odesa durch und drehe mit einem Regisseur aus Kyjiw eine kurze Doku über meine Arbeit als Stadtschreiberin. Nächsten Monat ist meine Abschlussveranstaltung, die ich organisiere zum Thema deutsche Spuren in Odessa, wie man das deutsche Kulturerbe der Ukraine als Kapital und als Brücke zwischen der Ukraine und Deutschland nutzen kann.

Deutsche Kirche in Bessarabien (Neu-Posttal)

Edwin: Das Land am Rande, so heißt die Ukraine eigentlich wörtlich übersetzt, aber mitten in Europa. Wir sprachen heute mit Dr. Dr. Alfred Eisfeld und mit Wladimir Leysle – danke.

Zu dieser Folge haben wir einige Lesetipps für euch zusammengestellt.

Als Einführung in die historischen und aktuellen Themen der Ukraine empfiehlt Ira das vom Zentrum liberale Moderne herausgegebene Buch „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“.

Im kürzlich erschienen Roman „Die Stille bei Neu-Landau“ schildert Katharina Martin-Virolainen die Geschichte der Schwarzmeerdeutschen und spielt im Ort Neu-Karlsruhe bei Odesa, den Ira erst vor kurzem zusammen mit der Autorin besuchte und in ihrem Blog Bilder davon veröffentlichte. Für die, die sich speziell für die Bessarabiendeutschen und die Grenzregion zwischen der Ukraine, Moldau und Rumänien interessieren empfiehlt Ira „Bessarabien: deutsche Kolonisten am Schwarzen Meer“ von Ute Schmidt, das beim Deutschen Kulturforum östliches Europa erschienen ist.

In der Mitherausgeberschaft unseres heutigen Gastes Alfred Eisfeld erschien Anfang dieses Jahres der Band „Der große Terror in der Ukraine: Die deutsche Operation 1937-38“, der ein Jahr zuvor in russischer und ukrainischer Sprache in der Ukraine erschien. Daneben empfehlen wir auch alle anderen Publikationen des Autors zur Kultur und Geschichte der Deutschen im postsowjetischen Raum, die ihr z.B. in der Bibliothek des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold finden könnt.

Schließlich empfiehlt Edwin Eleonora Hummels Erfolgsroman „Die Fische von Berlin“ (2005 im Steidl-Verlag erschienen), in dem es um die Wege von schwarzmeerdeutschen Familien zwischen Deutschland und der Sowjetunion unter dem Vorzeichen des Zweiten und des Kalten Krieges geht. Sowie den Roman „Die Köchin von Bob Dylan“ von Markus Berges (erschienen 2016 bei Rohwolt), der sich ebenso einem schwarzmeerdeutschen Schicksal in den Zwängen des Stalinismus und des Nationalsozialismus widmet.