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Mehr als fromme Russlanddeutsche? Geschichte, Kulturerbe und Gegenwart der Mennoniten

Wer sind Mennoniten und warum kamen ihre Vorfahren ins Russische Reich? Wie (über-)lebten sie im Osten Europas bis zum Zerfall der Sowjetunion? Was ist das Besondere an ihrer Kultur und Geschichte? Und wo leben heute Menschen mit mennonitischen Vorfahren? In dieser Folge gibt Edwin Warkentin, dessen mennonitische Vorfahren aus Westpreußen in die Südukraine ausgewandert waren, einen Überblick.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Ira: Heute geht es um ein Thema, auf dass ich mich schon lange Zeit gefreut habe und das gerade sehr aktuell ist, weil ich immer noch das Buch von Irene Langemann lese. Edwin, du hattest vollkommen recht, es ist wirklich herausragend. Ich klebe an jedem Wort. Ich freue mich immer auf den Abend, wenn ich endlich im Bett liege und das Buch lesen darf. Denn da geht es um Menschen, die einen mennonitischen Hintergrund haben. Und darum wird es heute auch gehen.
Das Thema Mennoniten hatten wir längere Zeit auf dem Schirm, weil der Begriff immer wieder in unseren Folgen auftaucht. Wir haben mal im April 2021 eine Folge mit Dr. Katharina Dück und Dr. Heinrich Siemens gemacht. Eigentlich ging es generell um (russland-)deutsche Mundarten und dann mit Schwerpunkt auf dem plautdietschen Dialekt. Da hatten wir schonmal das Thema ein bisschen angerissen aber so richtig darüber haben wir noch nicht gesprochen und jetzt dachten wir, es ist Zeit. Und du bist unser Experte für die Folge. Das ist hervorragend.

Edwin: Ich freue mich, dass du dich darauf freust, aber für mich war das immer ein Thema, dass ich mit sehr viel Respekt und Vorsicht behandelt habe, weil dieses Thema nicht so einfach ist. Es ist nicht einfach nur eine Gruppe von Russlanddeutschen, sondern es ist viel komplexer, viel tiefer und viel vielschichtiger.

Ira: Wie ist denn dein persönlicher Bezug zu dieser Gruppe der Mennoniten und Mennonitinnen?

Edwin: Ich stamme väterlicherseits von Mennoniten ab. Mein Bezug dazu ist vielleicht noch insofern geprägt, als dass ich eine mennonitisch geprägte Gemeinschaft in der späten Sowjetunion hautnah erleben konnte. Meine Eltern haben mich in der Sowjetunion in den Sommerferien nicht in ein Pionierlager geschickt, sondern zu meinen Großeltern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen in das Geburtsdorf von meinem Vater geschickt. Dieses Dorf war im südlichen Sibirien, im Altaigebiet. Das war weitestgehend plattdeutschsprechend und zum Teil noch mennonitisch geprägt. Die ganzen Facetten haben noch ein Bild von einer Gemeinschaft ergeben, wie sie wahrscheinlich früher, als sie noch viel religiöser waren, war. Ich habe ein Dorf erlebt, wo man im Laden das Brot noch in der plattdeutschen Mundart bei der Verkäuferin bestellt hat und die hatet dann auch auf Plattdeutsch geantwortet.

Ira: Kannst du das noch? Kannst du ein Brot auf Plautdietsch bestellen?

Edwin: Leider nicht.

Ira: Du verstehst wahrscheinlich noch einiges, oder?

Edwin: Ich verstehe es, aber kann nicht antworten. Es ist eine sehr besondere Mundart. Sie gehört zur Familie der niederdeutschen Mundarten, der sogenannten plattdeutschen Dialekte und ist historisch betrachtet wahrscheinlich der östlichste Zipfel der plattdeutschen Dialekte gewesen. Denn das ist die Mundart, die früher im sogenannten Westpreußen, also dem polnisch regierten Preußen von der deutschen Bevölkerung dort gesprochen wurde und die es dort in der Region nicht mehr gibt. Sie gibt es eigentlich fast nur noch bei den Spätaussiedlerinnen und Spätaussiederinnen, die aus der Sowjetunion in den 1990er Jahren nach Deutschland kamen. Sie sind die einzigen Träger dieser norddeutschen Mundart.

Ira: Ich finde es so faszinierend. Ich bin mit dem Plautdietschen einmal in Berührung gekommen, als ich Elina Penner, eine russlanddeutsche Autorin, auch mit mennonitischen Wurzeln, zuhause für eine Reportage besucht hatte und sie spricht mit ihren Eltern Plautdietsch. Ich habe wenig verstanden, um ehrlich zu sein. Irene Langemann hat sich in ihrem Roman „Das Gedächtnis der Töchter“ auch dazu entschieden Plautdietsch zu nutzen für, zum Beispiel, die Gespräche zwischen ihren Eltern und sie übersetzt das im Roman nicht. Der Lesende muss sich das selbst erschließen. Und wenn man es liest, vor allem, wenn man es sich selbst laut vorliest – und das mache ich dann – dann versteht man einiges. Vor allem aus dem Kontext. Irene Langemann hat selbst gemeint, dass es so eine ulkige Sprache ist, und das finde ich auch. Kannst du uns vielleicht ein, zwei Wörter sagen, dass die Zuhörenden einen Eindruck bekommen?

Edwin: Plattdeutsch sprechen heißt Plautdietsch vertalen. Manche Vokabeln erinnern zum Beispiel an englische Wörter. Aus vertalen kommt tell, also „erzählen“ im Englischen. Oder waut es de Klock? Das ist die Frage nach der Uhrzeit, also „What ist the clock“ könnte man vielleicht so direkt ins Englische übersetzen. Wie wirkt denn auf dich diese Mundart? Nach was klingt sie für dich?

Ira: Nach irgendwas Holländischen vielleicht? Irgendwas Nordisches? Ich finde tatsächlich, es ist extrem schwierig zuzuordnen, aber es klingt in der Tat ulkig und irgendwie eine knuffige Sprache.

Edwin: Und vielleicht als Tipp: Die deutsche Minderheit in Kasachstan, bzw. die Deutsche Allgemeine Zeitung dort, hat im Sommer einen Kurzfilm gedreht, der ist mittlerweile veröffentlicht ist. Er heißt „Die letzten der Mennoniten“. Da könnt ihr, unsere lieben Zuhörer, Zuhörerinnen, die letzten Sprecher des Mennonitenplatts in Kasachstan hören, wie sie am Küchentisch oder bei der Tierpflege irgendwo in der kasachischen Steppe miteinander Plautdietsch vertalen.

Ira: Aber gib uns mal einen gröberen Überblick: Wer sind eigentlich diese Mennoniten. Jetzt haben wir schon etwas über die Sprache erfahren, die sie wohl auszeichnet, aber was sind das für Menschen und woher kamen sie?

Edwin: Das ist eine schwierige Frage. Im Unterschied zu den anderen Gruppen der Russlanddeutschen, wo wir das klar zeitlich abgrenzen können. Zum Beispiel die Wolgadeutschen sind ab 1763, bzw. 1766 dem Ruf der Zarin gefolgt, nach Russland eingewandert und lebten da auf ihrem Gebiet bis zur Deportation 1941. Insofern lässt sich das mehr oder weniger zeitlich und räumlich sehr gut abgrenzen. Alles dazwischen kann man dann gut beschreiben. Bei den Mennoniten ist es nicht so einfach. Denn die Mennoniten waren und sind Teil einer christlichen Religionsströmung, der sogenannten Täufer. Vereinfacht gesagt, sind Mennoniten so wie Katholiken oder Lutheraner, nur kleiner und exklusiver. Das heißt, es handelt sich hier um eine schon weitestgehend religiöse Gemeinschaft und nicht eine Kulturgemeinschaft, die wie bei den Wolgadeutschen oder Wolhyniendeutschen, durch eine gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames Territorium und so weiter und sofort geprägt waren. Die Mennoniten sind historisch betrachtet der nördlichste Zweig dieser Täuferbewegung. Sie sind die älteste freikirchliche Bewegung in Europa. So entwickelte sich diese Idee genaugenommen sei 1525 in der Schweiz, in Zürich oder in anderen Schweizer Städten. Es war eine Bewegung von städtischen Eliten. Die wollten eine Gemeindesouveränität und wollten ihre Prediger und Priester selbst bestimmen und selbst wählen. Sie wollten autonom bleiben und haben sich von kirchlichen Hierarchien und Instanzen abgegrenzt. Sie nahmen selbst keine kirchlichen oder politischen Ämter an da sie keinen Schwur leisten wollten. Zum Teil verkehrten sie damals nicht mit anderen Christen, mit Katholiken und Lutheranern. Das heißt, die haben sich von Anfang an schon ziemlich von den anderen abgesondert. Und das Wichtigste ist: die praktizierten die Erwachsenentaufe. Das heißt, für sie ist die Vorstellung Christ zu sein, stark mit einem bewussten Eintritt zur christlichen Gemeinschaft verbunden. Die Kindertaufe lehnen sie ab, weil in ihrer Vorstellung ist es so, dass Kinder den Glauben nicht bewusst annehmen können. Das sind mehr oder weniger die Postulate der Täuferbewegung. Wer sich damit ein bisschen näher beschäftigen will, kann ja mal googlen, was das „Schleitheimer Bekenntnis“ ist. Das sind die Grundregeln, auf die sich diese Schweizer Täufer damals geeinigt haben. Das sind mehr oder weniger die Grundregeln, nach denen viele Täufer weltweit heute immer noch leben. Die Mennoniten sind eigentlich die niederländisch-norddeutschen Täufer gewesen. Als Mennoniten haben sie sich nach dem einflussreichsten Theologen dieser Bewegung genannt. Er hieß Menno Simons oder Simonszoon. Er war ein katholischer Priester, wechselte aber quasi die Fronten und hatte sich nochmal neu taufen lassen. Er war die prägendste Figur dieser Bewegung in den Niederlanden und Norddeutschland. Was er eingeführt hat oder worauf er Einfluss genommen hat, womit sich heute die Mennoniten insbesondere identifizieren, ist der Pazifismus. Er hatte Gewaltfreiheit gepredigt. Für ihn war die Bergpredigt der wichtigste Bestandteil der Bibel und Grundlage des Gemeindezusammenlebens. Insofern ist die Geschichte der Mennoniten sehr stark mit der Bewegung der Täufer verbunden.

Ira: Woher kamen denn diejenigen Mennoniten, die ins Russische Zarenreich eingewandert sind? Was war denn die letzte Station vor der Auswanderung und wann war diese Auswanderung größtenteils?

Edwin: Wir müssen auf jeden Fall berücksichtigen, dass es regionale Schwerpunkte dieser Idee gab. Im 16. Jahrhundert war der Schwerpunkt Norddeutschland, also Friesland, Niederlande, Norddeutschland. Bis zum 18. Jahrhundert war der Siedlungsschwerpunkt in Westpreußen, also im heutigen nördlichen Polen und ab dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert war der Schwerpunkt der Mennoniten weltweit in der heutigen südlichen Ukraine im Russischen Reich. Nachdem dieser Teil Polens königlich preußisch geworden ist, also sie nicht mehr dem polnischen König unterstanden und Friedrich der Große, der preußischen König, die allgemeine Wehrpflicht eingeführt hatte, war das für die pazifistischen Mennoniten der Grund gewesen, dieses Land zu verlassen. Katharina die Große hatte im Rahmen ihrer Privilegien, die sie an die Kolonisten ausgesprochen hat, denen die Wehrfreiheit für immer zugesichert. Das heißt, wenn wir jetzt zum Beispiel bei den Wolgadeutschen mehr von wirtschaftlichen Faktoren und Anreizen sprechen, so waren das für die Mennoniten definitiv diese religiösen Überzeugungen. Die wollten irgendwo leben, wo sie a) keinen Wehrdienst leisten mussten und b) eine weitestgehende Gemeindeautonomie hatten. Im Folgenden haben sie auch einen sehr hohen Grad an Selbstverwaltung, an Selbstorganisation entwickelt. Sie wollten weitestgehend ohne Einfluss der Außenwelt leben, aber sollten natürlich im Gegenzug für die russischen Zaren Länder erschließen. Als Landwirte zum Beispiel. In Westpreußen waren sie sehr erfolgreich in der Erschließung der Sümpfe oder Flussniederungen gewesen und für die Zaren haben sie eben die Steppe erschlossen. Das war quasi ihr Beitrag dafür, dass sie als eine besondere religiöse Gemeinschaft in Ruhe gelassen wurden. Insofern ist es nicht so einfach zu sagen, woher sie kamen. Kamen sie aus den Niederlanden? Kamen sie aus Norddeutschland? Kamen sie aus Westpreußen? Kamen Sie aus der Ukraine? Denn aus der Ukraine mussten sie dann in den 1940er Jahren auch weggehen. Sie wurden deportiert oder sind mit der abrückenden deutschen Wehrmacht aus der Ukraine weggegangen.

Ira: Nochmal genau: Die Hauptsiedlungsgebiete der mennonitischen Menschen, die waren in der südlichen Ukraine. Da hat ja auch ein Teil deiner Familie gelebt, richtig? Was weißt du denn aus deiner Familiengeschichte, wie sie dort gelebt hatten?

Edwin: Es gab mehr oder weniger zwei große Siedlungen. Die eine Siedlung wurde 1789 gegründet, die andere zwei Jahrzehnte später. Die Erste nannte sich Chortitza. Das ist heute ein Stadtteil von Saporischschja. Die Insel Chortitza ist auch für die Ukrainer ein besonderer Erinnerungsort, weil das der zentrale Treffpunkt des Kosakenstaates dieses unabhängigen ukrainische Staates aus der Neuzeit gewesen ist. Der andere Siedlungsschwerpunkt war die sogenannte Molotschna-Siedlung. Eine Ansiedlung um den Fluss Molotschna. Sie ist in der Nähe der heutigen Stadt Tokmak. Heute hören wir von dieser Stadt in der Kriegsberichterstattung öfters, weil das genau dieser Ort ist, in dem jetzt gerade die ukrainische Armee ihre Hauptoffensive im Süden durchführt. Das waren die Hauptsiedlungsgebiete der russlanddeutschen Mennoniten, die damals im Russischen Reich eingesiedelt sind. Die nächste Generation hat wieder neues Land gebraucht. Dann gab es Ansiedlungen zum Beispiel im Nordkaukasus. Es gab mennonitische Ansiedlungen in der Wolgarepublik, es gab Ansiedlungen im Ural und in Sibirien. Über diese sibirische Ansiedlung hatten wir in der letzten Dezemberfolge gesprochen und über diese spektakuläre Flucht über China nach Südamerika. Das ist die Geschichte meiner Familie, diejenige, die freiwillig in der Zarenzeit aus der südlichen Ukraine, aus dem Gebiet Cherson freiwillig nach Südsibirien gegangen sind. Da leben heute noch die „letzten“ Nachfahren der Mennoniten, die früher in der Ukraine gelebt haben. Noch heute gibt es eine Handvoll Dörfer in Sibirien, wo es noch Plautdietsch sprechende gibt. Und es gibt zwei, drei Dörfer, die zum größten Teil noch religiös geprägt sind und wo noch echte Mennoniten leben.

Ira: Und weil sie schon in Sibirien waren, hat Stalin im Zuge des Zweiten Weltkriegs deine Familie zumindest nicht deportieren lassen. Alle anderen, die aber beispielsweise in der Südukraine geblieben sind, die kamen dann Ostwärts und mussten ihre Heimat verlassen. Denn das, womit man diese russlanddeutschen Mennoniten gelockt hatte, wie die Glaubensfreiheit und so weiter, diese Rechte wurden ihnen ja peu à peu auch wieder genommen. Kannst du uns dazu was sagen? Das begann ja nicht erst mit Stalin, sondern schon vorher. Der Wehrdienst zum Beispiel wurde ja in einem bestimmten Maße auch für die Mennoniten irgendwann mal eingeführt.

Edwin: Weißt du, was ich vergessen habe? Das ist ganz wichtig und hätte ich bei der Frage vorher sagen sollen. Es waren nicht viele Mennoniten, die damals nach Russland gegangen sind. Es waren nur etwa 6000 Personen. Also ein paar hundert Familien. Insgesamt waren mehr oder weniger 10 Prozent der Kolonisten mennonitisch. Das heißt, wenn wir heute von Nachfahren dieser Menschen sprechen, dann sag ich immer, dass 10 Prozent der Russlanddeutschen Mennoniten sind. Durch den starken wirtschaftlichen Aufschwung – und sie waren wirtschaftlich erfolgreich – und natürlich auch durch ihre frommen religiösen Vorstellungen hatten sie sehr große Familien. Insofern hat sich die Größe dieser Gemeinde gerade in der Ukraine im 19. Jahrhundert extrem vergrößert. Es waren sehr viele Mennoniten, die da in Russland wirtschaftlich erfolgreich gelebt haben. Später haben sie sogar Unternehmungen und Industrie gegründet. So gab es zum Beispiel den Unternehmer Abraham Koop. Er hatte auf dem Gebiet der heutigen Stadt Saporischschja eine Fabrik gegründet, die Landmaschinen hergestellt hat. Daraus entwickelte sich in der sowjetischen Zeit das Automobilwerk Saporisky Awtomobilebudiwny Sawod, das ist ein Automobilwerk, das nach wie vor Autos herstellt.
Welche Einflüsse das auf sie genommen hat? Es gab im Zuge von allgemeinen Reformen im Russischen Reich nach und nach Einschränkungen dieser Gemeindeselbstverwaltung. Die waren am Anfang noch gar nicht so gegen die Deutschen gerichtet, sondern man hat versucht allgemeine Gesetze für die davor privilegierten unterschiedlichen Gruppen einzuführen. Im Zuge dessen wurde auch der allgemeine Wehrdienst im Russischen Reich eingeführt. Das hatte damals sehr viele Mennoniten abgeschreckt und die sind dann nach Übersee ausgewandert. Zuerst nach Nordamerika und am Anfang des 20. Jahrhunderts sind sie auch verstärkt nach Südamerika weitergezogen. Die sind dahingezogen, wo sie ähnliche Bedingungen vorfanden, wie damals als Kolonisten. Zum Beispiel haben sie den mittleren Westen der USA erschlossen, oder in Kanada den kanadischen mittleren Westen. Aber mit der sowjetischen Zeit nach der Oktoberrevolution, insbesondere nach den rigorosen antikirchlichen Gesetzen, waren dann diese besonders kirchlich geprägten Gruppe in starke Mitleidenschaft gezogen worden. Sehr viele waren Prediger, viele hatten bestimmte Ämter in diesen Gemeinden und die wurden dann ziemlich stark verfolgt. Ich würde jetzt nicht sagen, dass die Gruppe eine besondere Opfergruppe unter den Russlanddeutschen oder unter den Sowjetbürgern war, aber die Anzahl der damals betroffenen mennonitischen Russlanddeutschen im Verhältnis zu der Gesellschaft war schon sehr groß. Das betraf damals in den 1920er, 1930er Jahren fast jede Familie. Aber Ira, du hast ja auch, soweit ich weiß, eine spezielle religiöse Prägung in deiner wolhyniendeutschen Familie gehabt. Waren das auch Mennoniten? Ich weiß, dass Mennoniten auch in Wolhynien gelebt haben. Gehörten die zu denen?

Ira: Nee, meine Vorfahren waren vor allem Lutheraner, die in der westlichen Ukraine gelebt haben. Es gab aber auch ein paar baptistische Menschen bei mir. Ich kann das teilweise nicht mehr ganz zuordnen, ob die sich später für den Baptismus entschieden hatten und eigentlich lutherisch waren. Aber ich habe auf jeden Fall einen Urgroßvater, der streng religiös, soweit ich weiß ursprünglich aber Lutheraner war. Dann wurde er auf Grund seiner Religionsausübung dreimal verhaftet. In den 1940ern, ich glaube auch schon in den 1930er Jahren, also bereits in der Ukraine wurde er verhaftet. Später, nach dem die Familie deportiert worden war und er dann nachkam, wurde er in Kasachstan Anfang der 1950er nochmal verhaftet. Er hat später eine freie Glaubensgemeinschaft gegründet, die es bis heute in Krefeld gibt. Das ist eine große Freikirche. Mir war es bis vor einigen Jahren auch gar nicht bekannt. Ich war da auf einer Hochzeit eingeladen und dann hat mich eine Frau in einen Seitenraum geführt und meinte, dein Urgroßvater, der Richard Steinke, hat doch unsere Gemeinde gegründet. Es hingen Fotos von ihm an der Wand, wie eine Art Schrein. Das fand ich sehr beeindruckend. Was ich noch beeindruckender finde ist, dass, als die Männer in den 1930ern, 1940ern, 1950ern deportiert waren, in Gulags und in der Trudarmee waren und die predigten nicht mehr halten konnten, viele Frauen diese Aufgabe übernommen hatten. Eine Urgroßmutter von mir, Emilia Sonnenberg, hat auch Predigten gehalten und den Konfirmationsunterricht für die jungen Menschen gegeben. Diese Predigten waren, wie Religion und die Ausübung von Religion in der Sowjetunion ja verboten. Das heißt, man hatte keine Kirchen mehr in diesen Sondersiedlungen in Kasachstan, sondern man hat sich für den Gottesdienst zuhause getroffen. Das erzählen mir meine Eltern auch noch bis heute. Da wurden die Möbel zu Seite geschoben, Stühle hingestellt und da haben dann tatsächlich oftmals die Frauen die Gottesdienste geleitet. Das finde ich ganz spannend.

Edwin: Aber es gibt Verbindungen zu Mennoniten. Deine Geschichte, die du jetzt gerade erzählt hast, hat zumindest zwei Verbindungen. Der Begriff Baptismus kommt vom Taufen. Insofern praktizieren sie auch die Erwachsenentaufe. Da geht es auch darum, dass sich ein Mensch bewusst mit dem Glauben auseinandersetzt. Das andere ist, weil du gesagt hast, dass Kirchen verboten waren. Ab einem gewissen Zeitpunkt mussten sich alle religiösen Gemeinschaften in der Sowjetunion bei den offiziellen Kirchen registrieren. Diese Kirchen gab es ja in der Sowjetunion. Diese Kirchen waren staatlich gesteuert und von KGB-Spitzeln durchsetzt. Es gab für diese ganzen verschiedenen Freikirchen - auch unter den ethnischen Russen und Ukrainern gibt es Freikirchen - die sowjetische baptistische Kirche. Unter dem Dach dieser Baptisten mussten sich diese freien Kirchen registrieren. Deswegen haben sich in der Generation meiner und deiner Großeltern fast alle Freikirchen sich einfach nur Baptisten genannt. Aber es bedeutet nicht gleichzeitig, dass sie in der klassischen baptistischen Vorstellung unterwegs waren, sondern die waren einfach nur unter dem Dach der baptistischen Kirche vereinigt. Und so ist es ja auch heute in Deutschland. Die Nachfahren dieser Freikirchen, die sind in ganz verschiedenen, unterschiedlichen Gemeinden organisiert. Viele von denen würden sagen, dass sie Baptisten sind.

Ira: Bevor ich jetzt von dir noch mehr darüber erfahre, wie die Mennoniten heute leben, wie viele es von ihnen noch gibt? Vielleicht ganz kurz ergänzend: Zwei Drittel der Russlanddeutschen, die heute in Deutschland leben, fühlen sich zu der evangelischen Kirche zugehörig. Ich glaube, etwas weniger sind dann Katholiken und unter 10 Prozent sind alle anderen Gemeinden und das entspricht auch ungefähr der Einwanderung damals. Der größte Teil waren evangelische Menschen. Was ist denn dann aus den Mennoniten geworden? Dann hatten wir die Sowjetunion und vor allem ab den 1970er Jahren gab es einige Auswanderungsbewegungen. Wo leben heute denn die meisten mennonitischen Menschen?

Edwin: Laut den Angaben von weltweiten mennonitischen Netzwerken, leben Mennoniten heute vor allem in Afrika und in Asien. Verschiedenen Schätzungen zufolge sind es ungefähr 2 Millionen Menschen weltweit, die sich als mennonitische Christen bezeichnen. Das sind die Menschen, die in ihren Gemeinden auf der Basis dieses Bekenntnisses, von dem ich vorhin gesprochen habe, ihren Glauben praktizieren. Der größere Teil ist eben in Lateinamerika oder in Asien. In Europa sind es in etwa 50.000 Menschen, die sich als mennonitische Gläubige bezeichnen und in Deutschland sind es in etwa 30.000, die sich als Mennoniten bezeichnen. Du wirst dich fragen: 10 Prozent sind doch mehr als diese 30.000? Es ist so, dass es im Laufe der Zeit, schon im Russischen Reich, Abspaltungen unter den Mennoniten gab. Da gab es welche, die Reformen eingeführt haben und für die klassischen Mennoniten waren sie keine Mennoniten mehr. Die wurden dann ausgeschlossen und durften sich nicht Mennoniten nennen. Die nannten sich dann zum Beispiel Brüdergemeinden. Die, die diese Neuerungen nicht angenommen haben, sind dann die klassischen Alt-Mennoniten geblieben. So ist es auch in Deutschland. Hier gibt es verschiedene Mennonitengruppen, die es auch ohne die Russlanddeutschen gab. In Süddeutschland gibt es zum Beispiel auch einige Gemeinden, die sich immer noch Mennoniten nennen, die sich auf Menno Simons berufen. Und die behaupten, dass etwa 20.000 AussiedlerInnen kamen, die sich selbst noch aktiv als Mennoniten bezeichnet haben. Nicht als Freikirchen, Baptisten, Brüder, sondern einfach nur klassische Mennoniten. Hier in Detmold, wo auch unser Museum ist, gibt es viele freikirchliche Gemeinden. Zum größten Teil sind das Menschen, die selbst als SpätaussiedlerInnen hierhergekommen sind. Die wenigsten Gemeinden bezeichnen sich als mennonitische Gemeinden. Deswegen - keine einfache Antwort auf keine einfache Frage.
Wenn wir aber diese Regel mit den 10 Prozent aller Russlanddeutschen anwenden, dann gehen wir von ungefähr 200.000 – 250.000 SpätaussiedlerInnen aus, die Nachfahren dieser Mennoniten sind. Egal, welcher religiöser Prägung sie sind. Ob sie jetzt, wie in meinem Fall, evangelisch sind, oder ob das jetzt Brüdergemeinden, Baptisten oder wirklich diese klassischen Mennoniten sind.

Ira: Hast du einen Einblick in solche Gemeinden? Weißt du, wie heute der Glaube und die Kultur gelebt werden? Sind das besonders strenge Gruppen oder hast du da ein paar Infos für uns?

Edwin: Total unterschiedlich. Die hängen ja alle nicht zusammen diese Gemeinden. Es gibt keine Instanz, keine Hierarchie, es gibt lose Netzwerke, wo sie sich austauschen oder wo sich die Prediger austauschen. Ich würde mich sehr hüten, da irgendwelche allgemeinen Aussagen über diese diversen Glaubensgemeinschaften und -gemeinden zu treffen. Aber du hast nach der Kultur gefragt. Dazu würde ich gerne was sagen.

Ira: Auch gerne aus deiner Familiengeschichte. Gibt es da noch kulturelle Prägungen?

Edwin: Wenn es um Kultur geht, also darum, wie man lebt, wie mennonitische Kultur ausgelebt wird und wenn wir Religion ausblenden, dann dreht sich alles mehr oder weniger um die Mundart, um das Plautdietsche. Wir sprachen ja auch von dem Verein, die Plautdietsch-Freunde e.V., die vor zwei Wochen hier ihr Jahrestreffen hatten. Ich durfte dabei sein. Natürlich habe ich nur 50 Prozent verstanden, was die da gesprochen haben, aber es war schon sehr interessant. Es gibt den Tweeback Verlag, in dem Literatur in dieser Mundart veröffentlicht wird. Den leitet auch Heinrich Siemens. Es gibt auch Autorinnen und Autoren, die in dieser Sprache schreiben. In Nordamerika, in Südamerika und in Deutschland. Der produktivste dieser Autoren, den man da nennen kann, ist Arnold Dyck gewesen. Der ist bereits in den 1970er Jahre gestorben. Er hat sehr viel im Mennonitenplatt geschrieben. Auf ihn geht auch der Arnold-Dyck-Preis zurück, der von den Plautdietsch-Freunden verliehen wird. Zuletzt an Lilli Gebhardt oder auch an Elina Penner. Es gibt aber auch Autorinnen, die über das Milieu schreiben und aus dem Milieu stammen. Die schreiben dann Hochdeutsch oder die Schreiben Englisch. Da wären vor allem Miriam Toews aus Kanada zu nennen, aber auch Elina Penner. Wir müssen da also unterscheiden, was in dieser Mundart geschrieben wird oder Werke von Autoren, die aus dem Milieu stammen oder über das Milieu schreiben. Da gibt es natürlich viel.

Ira: Und bei dir in der Familie? Spürst du noch eine Prägung oder was hast du vielleicht noch von deinen Großeltern mitbekommen, was vielleicht typisch mennonitisch ist?

Edwin: Ich würde sagen, nachdem die Mundart bei mir ja verloren gegangen ist, oder in meiner Familie bei meinem Vater aufgehört hat, ist es wahrscheinlich dann doch der Pazifismus, der für mich prägend war. Ich würde mich jetzt nicht als einen 68er-, 70er-Jahre-Pazifisten bezeichnen, der auf Friedensdemos geht. Das mache ich nicht. Es war mir aber wichtig, meinen Wehrdienst zu verweigern und das so zu begründen, dass es eine starke identitätsprägende Familientradition ist. Denn sogar mein Vater hat es geschafft in der Sowjetunion keinen Wehrdienst leisten zu müssen. Mein Großvater hat es nicht gemacht, weil zu seiner Zeit Deutsche keinen Wehrdienst leisten durften und in den Generationen davor hatten sie sich die Privilegien erkämpft, Zivildienst im Russischen Reich oder auch in der frühen Sowjetunion leisten zu können. Das war mir sehr wichtig. Das ist wahrscheinlich das Prägendste, was mich persönlich betroffen hat. Kulinarik und das alles gibt es auf jeden Fall auch.

Ira: Gib uns mal ein Beispiel. Wie schmeckt denn das Mennonitische? Welche Gerichte gibt es da?

Edwin: Im Unterschied zu den Wolgadeutschen und auch vielen anderen Menschen in der früheren Sowjetunion trinken Mennoniten weniger Tee. Sie trinken Kaffee. Den sogenannten Prips. Es ist meistens Zichorienkaffee, also aus gebrannten Weizenkörnern. Aber dadurch, dass meine Urgroßmutter Verwandte in Brasilien hatte, hat sie hin und wieder mal Päckchen mit brasilianischen Bohnenkaffee bekommen. Und da duftete es in den 1970er Jahren um ihr Haus herum nach richtigen, echten brasilianischen Kaffee. Das ist wahrscheinlich spezifisch bei den Mennoniten, dass sie Kaffee zu jeder Tageszeit trinken. Die können auch zum Abendessen Kaffee trinken. Ich vermute mal, das ist ihre hanseatische Ader. Das haben sie irgendwo in Danzig aufgenommen. Es gibt natürlich klassische Gerichte. Ich habe vorhin den Tweeback Verlag benannt. Der Verlag ist benannt nach einem typischen Gebäck der Mennoniten. Twoiback, der Zwieback.

Ira: Das habe ich übrigens mal probiert bei Elinas Eltern zuhause. Das ist so ein Hefegebäck. Superlecker!

Edwin: Aber ich glaube, sowas, was den Mennoniten auch noch so anhaftet ist dieses Grüblerische und dieses Schwermütige. Als ich meine Oma gefragt habe, was ihre Heimat ist, als ich mich das letzte Mal mit ihr unterhalten habe, bevor sie dann gestorben ist, hat sie gesagt: Nein, nicht dieses Dorf. Auch nicht Russland. Sondern das Himmelreich. Das Himmelreich ist meine Heimat. Diese Einstellung ist wahrscheinlich so typisch für Menschen, die aus diesen Familien stammen.

Ira: Vielen Dank. Ich glaube, wir haben einen ziemlichen guten Überblick über die Mennoniten bekommen. Magst du vielleicht nochmal abschließend die drei Sachen nennen, die unsere Zuhörenden aus dieser Folge mitnehmen können? Was sollten sie über die mennonitischen Russlanddeutschen wissen?

Edwin: Mennoniten sind und waren eine religiöse Gemeinschaft und es sind nicht nur Russlanddeutsche, sondern es ist eine weltweite religiöse Gemeinschaft und sogar einfach nur eine Idee. Mennoniten waren sehr mobil. Sie haben in verschiedenen Regionen der Welt gelebt und haben auch überall Spuren hinterlassen. Zu einem Zeitpunkt war der Schwerpunkt der Mennoniten in der heutigen Südukraine und das ist ein besonderes ukrainisches Kulturerbe. Das teilen wir natürlich mit der Ukraine. Das Kulturerbe hat aber auch Polen, hat Deutschland und sogar auch Russland hat es. Insofern könnte es auch ein europäisches Projekt sein, wenn wir an diesem Kulturerbe arbeiten. Und eine andere wichtige Information wäre, dass etwa 10 Prozent der Russlanddeutschen eine mennonitische Abstammung haben.
Und vielleicht zum Schluss: Ira, kennst du berühmte Menschen, die von Mennoniten abstammen? Wenn nein, dann spiele ich dir kurz mal eine Melodie vor (das Intro der „Simpsons“).

Ira: ich sage mal nein. Spiel vor! Ach, die „Simpsons“?! Okay!

Edwin: Wusstest du, dass der Erfinder der „Simpsons“, Matt Groening, einer mennonitischen Familie abstammt?

Ira: Nee, wie spannend!

Edwin: Sein Urgroßvater war sogar Prediger in einer Mennonitengemeinde.

Ira: Ach, witzig.

Edwin: Insofern gibt es auch berühmte Nachfahren von Mennoniten, von denen man es nicht weiß.

Ira: Ja, bestimmt ganz viele. Die hatten ja so viele Kinder und waren ja alle so fleißig und in der Regel auch sehr gut gebildet. Sehr interessant. Vielen Dank und wir sehen jetzt erstmal auf der Frankfurter Buchmesse und dann in Cottbus, wo die nächste Folge entsteht. Gibt es sonst irgendwelche Termine, auf die du hinweisen möchtest?

Edwin: Ja, am 11.11.2023 in Berlin wird das Projekt des Kulturreferats im Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft e.V. „Junge Russlanddeutsche und der Ukrainekrieg“ vorgestellt. Das ist eine öffentliche Veranstaltung. Die Berliner sind herzlich eingeladen, daran teilzunehmen. Und die nächste Romanpräsentation von Irene Langemann findet am 22.11. in Köln, im Lew-Kopelew-Forum statt und am 30. Oktober gibt es ein Online-Gespräch und eine Romanpräsentation mit Inna Hartwich und ihrem neuen Buch. Gibt es bei dir noch Termine, die erwähnenswert wären?

Ira: Ich glaube, der nächste wichtige Termin ist mit dir in Cottbus am 8. November zum Filmfestival und sonst fliege ich jetzt spontan nach Armenien und werde da zu den geflüchteten Frauen aus Berg-Karabach berichten.