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Sabrina Janesch: Gegen das Vergessen schreiben

Neben deportierten Wolga-, Schwarzmeer- oder Wolhyniendeutschen waren nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1955 Zehntausende sogenannter Zivilverschleppter in Lagern und Sondersiedlungen des heutigen Kasachstans interniert.

Über die Geschichte einer solchen Familie und deren Begegnungen mit Russlanddeutschen dort und später wieder in Deutschland schrieb Sabrina Janesch den Roman SIBIR.

Hier können Sie sich diese Folge anhören

Diese Folge entstand infolge der Lesungen mit der Autorin in Stuttgart, Detmold und Rheine als Veranstaltung des Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg bzw. als Kooperationsveranstaltungen des Kulturreferates mit der Friedrich-Naumann-Stiftung, der VHS-Detmold-Lemgo und des Modellierton e.V. Wir danken dem Rowohlt-Verlag für den freundlichen Hinweis auf unseren Podcast.

Edwin: Hallo, Ira! Der Sommer startet und gleichzeitig auch die Urlaubs- und die Lesesaison.

Ira: Ja, lesen, du hast zwei ganz spannende Tage hinter dir. Was hast du denn die letzten Abende gemacht?

Edwin: Wir hatten zusammen mit der Naumann-Stiftung und der Volkshochschule Detmold-Lemgo Lesungen in Detmold und in Rheine angeboten. Und zwar hat Sabrina Janesch aus ihrem neuen Roman „Sibir“ gelesen. Du warst auch viel unterwegs.

Bild© Frank Zauritz

Ira: Ich war zuletzt in Tbilissi, in Georgien auf einer Konferenz, wo es um Ambivalenzen des Postsowjetischen ging. Da waren auch einige Menschen dabei, die du kennst, Jannis Panagiotis, Hans Christian Petersen, und Dmytro Myeshkov die waren alle mal Podcast-Interview-Partner bei uns. Sabrina Janesch hast du eben angesprochen. Mit ihr hatte ich vor einigen Wochen eine Lesung in Stuttgart. Und weil wir beide sie persönlich kennenlernen durften und beide nicht nur von ihr als Person, sondern auch von ihrem Roman „Sibir“ begeistert sind, haben wir uns dafür entschieden, diese Folge mit ihr gemeinsam zu machen.

Edwin: Im Grunde sprechen wir heute über bestimmte Aspekte, die bei uns im Podcast noch nicht beleuchtet wurden. Das sind historische Aspekte, wie zum Beispiel das Kollektivschicksal der sogenannten Zivilgefangenen oder der Zivilverschleppten nach Kasachstan, nach Zentralasien. Von denen wusste ich noch nicht so viel, beziehungsweise habe ich von Einzelschicksalen mal gehört, aber ich wusste nicht, dass es dann doch so viele Menschen betraf. Und um diese Gruppe, geht es in diesem Roman. Es geht auch um das Aufeinanderprallen dieser Erinnerungsgeneration oder Erinnerungsgemeinschaft mit den Aussiedlern dann in den 1990er-Jahren, was ich sehr spannend fand.

Ira: Außerdem möchten wir heute über Galiziendeutsche sprechen. Über die ging es noch in keiner unserer Folgen.

Ira: Und noch ein Aspekt: Unsere heutige Gästin, Sabrina Janesch, ist ebenso wie Christiane Hoffmann, mit der wir in der letzten Folge über ihren Roman sprachen, auch eine Person, die zur zweiten Generation gehört, also deren Eltern von Deportation oder Verschleppung betroffen waren und direkt eine Migrationserfahrung hatten, die aber hier in Deutschland geboren worden sind. Auch das ist ein spannender Aspekt. Da werden wir uns der Frage der Identität und dem Aspekt, inwiefern diese Vergangenheit der Eltern sie auch noch betrifft, widmen.

Sabrina Janesch: Hallo Ira, hallo Edwin! Danke für die Einladung.

Edwin: Sabrina Janesch ist im niedersächsischen Gifhorn, in der Nähe von Hannover geboren. Sie studierte kreatives Schreiben, Kulturjournalismus und Polonistik, also polnische Kultur, und Sprache in Hildesheim und in Krakau in Polen. 2010 erschien ihr erster Roman mit dem Titel „Katzenberge“, der mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis und dem Anna-Seghers-Preis. Danach folgte ihr Roman „Ambra“, ein Roman über eine deutsch-polnische Familiengeschichte. Der nächste Roman, der 2017 erschienen ist, der heißt „Die goldene Stadt“. Er spielt in Südamerika und wurde ein richtiger Besteller. Die Autorin hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Und folgendes verbindet euch beide, Ira und Sabrina: sie war auch Stadtschreiberin des Deutschen Kulturforum östliches Europa in Danzig. Also, da warst Du im Auftrag des Deutschen Kulturforums in Polen unterwegs. Wann war das denn?

Sabrina Janesch: Ja, tatsächlich, diese Stadtschreiberstelle in Danzig, die hatte ich 2009 inne, also noch bevor mein Erstling, ein Debutroman, herausgekommen ist. Und ich erinnere mich, dass ich während der ersten Wochen in Danzig tatsächlich noch an Katzenberg schrieb, bevor ich dann Hals über Kopf mich in diese Recherche vor Ort gestürzt und sofort diesen zweiten Roman in Angriff genommen habe. Ein völlig irrwitziges Tempo. Und jetzt, viele Jahr Jahre später, gehe ich es so viel gemächlicher an und nähere mich dem Sujet von einer größeren Entfernung und auch von mehreren, von verschiedenen Seiten aus. Damals war das ein Thema nach dem nächsten.

Edwin: Und bis auf „Die goldene Stadt“ spielen die Romane eher im östlichen Europa beziehungsweise im Osten. Auch „Sibir“. Klingt zwar nach Sibirien, spielt aber in Kasachstan. Was verbindet Dich persönlich mit Osteuropa beziehungsweise mit Zentralasien?

Sabrina Janesch: Immer wieder Aspekte meiner Familiengeschichte. Ich bin aufgewachsen als halb Deutsche, halb Polin, so dass polnische Geschichte, polnische Kultur mir natürlich sehr nahe liegt. Aber auch auf Seiten meiner väterlichen Familie gibt es wahnsinnig starke Ost-Bezüge. Mein Vater ist 1942 im Warthegau geboren und wurde mit seiner Familie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der Sowjetarmee nach Zentralasien verschleppt. Diese formativen Jahre seiner Kindheit verbrachte er bis 1955 in Kasachstan, in einem Dorf in der Steppe. Er durfte die Region 1955 zusammen mit vielen anderen Kriegs- und Zivilgefangenen wieder verlassen. Für ihn war das aber eine Zeit der Kindheit. Er kam da mit einem russischen Akzent raus. Ich würde auch sagen, wirklich durchaus östlich, russisch geprägt, durchaus auch mit vielleicht ganz speziellen spezifischen kasachischen Eigenheiten. Aber dennoch gab es da diese, ich nenne sie mal östliche Prägung, so dass ich eigentlich nie den Eindruck hatte, eine ganz gewöhnliche, normale Deutsche in Niedersachsen zu sein. Und als Kind hat man ja manchmal den Drang, irgendwo dazugehören zu wollen. Mittlerweile begreife ich es einfach als wahnsinnigen Schatz, als Reichtum und als Chance, Einblick in mehrere Kulturen und in mehrere Historien zu haben.

Ira: Dein Roman „Sibir“, der dieses Jahr erschienen ist und der, ich weiß nicht, ob man schon von dem Besteller sprechen kann, aber er verkauft sich, glaube ich, extrem gut und erfährt unglaublich gutes Feedback. In dem Roman verarbeitest Du auch die Geschichte deines Vaters. Es ist ein fiktiver Roman, aber dennoch, dieser rote Faden zieht sich. Es geht im Roman um Josef Ambacher, der mit seiner Familie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Zentralasien verschleppt wird und dann bis 1955 in der kasachischen Steppe überleben muss. Dann geht es aber auch um die Geschichte seiner Tochter fünfzig Jahre später in Mühlheide. Das ist ein fiktiver Ort in Norddeutschland. Da wird die Geschichte wieder neu erlebt, weil plötzlich Anfang der Neunziger Russlanddeutsche in die Region kommen. Und das ist für Laila, die Tochter von Josef Ambacher, die Chance nun doch Fragen an ihren Vater zu stellen und diese Familiengeschichte nochmal neu zu beleuchten. Für Josef Ambacher ist es auch eine Chance, sich mit dem Erlebten zu konfrontieren. Es geht in dem Roman um noch einiges mehr. Edwin, magst du noch ein paar Punkte ergänzen.

Edwin: Neben der Geschichte, die du jetzt kurz zusammengefasst hast, gibt es natürlich eine Vielfalt an verschiedenen anderen Charakteren, die unterschiedliche Rollen spielen. Die Sprache ist sehr metaphernreich. Es gibt sehr viele mystische Elemente, die Menschen haben spannende Namen, die zum Teil selbst sprechend sind. Es geht um den Umgang mit der komplizierten Herkunftsidentität in einer Bundesrepublik Anfang der 1990er Jahre, als es noch nicht so gang und gäbe war, über diese Kollektiverfahrungen zu sprechen. Damals war Deutschland mit anderen Sachen beschäftigt. Es geht um das Verhältnis der, „Normalos“, wie sie im Roman oft bezeichnet werden. Also der Deutschen, die keine Migrationsgeschichte in Osteuropa haben, und der „Grenzgänger“, also die Menschen, die Mitte der 1950er Jahre zurückgekommen sind. Man nannte sie Heimkehrer, obwohl sie nicht zurück nach Hause gekommen sind, sondern sie leben da am Rande der Lüneburger Heide. Und die Menschen, die da leben sind sonderbar. Es ist Community - es waren mehrere Familien - die eine besondere Beziehung zur Natur, Aberglaube, Mystik haben. Zum Teil sprechen sie Russisch und tragen kasachische Spitznamen. Was für uns, für Aussiedler aus Kasachstan seltsam zu erfahren ist, dass es Menschen gab, die schon vor Jahrzehnten ähnliche Eigenschaften hatten. Es geht um eine besondere Vater-Tochter-Beziehung. Es geht um das Bewahren der Erinnerung vor dem Vergessen, das Verhältnis von oral history, Fiktion und Geschichtsschreibung in einer Gesellschaft, wo diese abwegigen Geschichten eigentlich keine große Rolle gespielt haben oder die Gesellschaft nicht sonderlich interessiert haben. Es geht aber auch, wie gesagt, um die Zivilverbanten in der Sowjetunion, die zwischen 1945 und 1955 da waren, die Aussiedler in den Neunzigerjahren und eine bestimmte Schicksalsgemeinschaft in dieser kasachischen Steppe: Menschen, die sich gegenseitig geholfen haben, um in dieser unwirtlichen Gegend zu überleben. Sabrina, du hast Dich mit diesem Thema auch geschichtlich auseinandergesetzt. Was sind denn diese Zivilgefangenen oder die Zivilverschleppten? Wie bezeichnet man sie korrekt?

Sabrina Janesch: Ich meine mich zu erinnern, dass mein Vater und seine Tante sich selbst immer als Verschleppte bezeichnet haben. Das ist das, wie sie selbst, auf diesen Abschnitt ihres Schicksals Bezug genommen haben. Jetzt nach der Recherche und nach dem Verfassen des Romans bin ich für mich selbst als quasi Mitglied jener Schicksalsgemeinschaft dazugekommen, für mich zu begreifen, dass jene Verschleppung und diese Traumata, die da erworben wurden, nicht einzig das sind, was diese Menschen, definiert oder das sind, worüber ich sie definieren möchte. Da gab es Gott sei Dank noch andere menschliche und ganz individuelle Aspekte. Aus der Niederschrift des Romans und wie ich über diese Familie und diese Community nachdenken möchte, war das für mich ein take-away, dass es eben noch so viel mehr gab. Ich meine mich zu erinnern, dass ich einmal ein Paper vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zum Thema der Zivilverschleppung nach dem Zweiten Weltkrieg gelesen habe, und die schätzen da ganz konservativ, da die Sowjetverwaltung wohlweislich natürlich keine Erhebung angestellt hat oder das nachgehalten hat, wie viele Zivilistinnen wirklich verschleppt worden waren. Der Wissenschaftliche Dienst geht davon aus, dass es etwa 300.000 bis 800.000 Individuen waren, also deutlich mehr, als ich noch während des Anfangs meiner Recherche annahm. Denn anfangs hatte ich Kenntnis von dieser Geschichte von meinem Vater, meiner Familie, unseres unmittelbaren Umfeldes, und so war mir gar nicht klar, was für eine Größenordnung hier eigentlich vorliegt. Da ist mir die Spucke weggeblieben, als mir auffiel, dass das doch ein signifikanter Teil der deutschen Gesellschaft ist, dem so etwas widerfahren ist. Und das hat mich in dem Vorhaben darüber schreiben zu wollen bestärkt, und immer wieder auch auszutarieren, auszuloten, wo da die Gemeinsamkeiten sind, was die kollektiven Erfahrensmomente sind, was da die Begebenheiten sind, die sich überall ähneln, und was können wir für uns daraus mitnehmen?

Edwin: Zu der Zahl, die du jetzt gerade genannt hast. Wahrscheinlich erstreckt sich diese Zahl auf die gesamte Sowjetunion, und vermutlich war ungefähr die Hälfte dann in Kasachstan. Das heißt, so wie ich das verstanden habe, waren das ja keine in dem Sinne sowjetischen Bürger, die dahin verbracht wurden, sondern das waren ja quasi für die Sowjetunion Ausländer, die in irgendeiner Art und Weise aus ihrer Heimat in die Sowjetunion entführt wurden, und da dann zum Teil Zwangsarbeit verrichten mussten. Wir kennen diese Kollektivschicksale von Deutschen aus Rumänien oder aus Ungarn. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben ihre Heimatstaaten diese Menschen quasi als Zwangsarbeiter an die Sowjetunion einfach so überstellt. Wie gesagt, das waren ja keine Kriegsgefangenen. Es gab ja auch deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, die eben bis 1955 da waren. Im Falle deiner Familie oder der Familie deines Vaters, waren es einfache Zivilisten.

 

Sabrina Janesch: Ja, ganz genau. Und ich habe immer wieder Mutmaßungen gelesen, was das eigentlich sollte. Da war ab und zu die Rede von der Arbeitskraft wie eine Art menschliche Reparationsleistung, die man sich da erhofft. Wobei ich da auch immer kopfschüttelnd davor saß, denn wir haben es wirklich mit ganz vulnerablen Gruppen, also Zivilistinnen zu tun, die 1945 in den Ostgebieten sich befunden haben. Gott, das waren Frauen mit ihren wirklich kleinen Kindern und Menschen über 65. Da kann man sich ausmalen, über wie viel Arbeitskraft die eigentlich verfügten und dann noch mal mehr nach diesem wochenlangen Transport nach Zentralasien, den allein schon ganz viele nicht überlebt haben. Dann gab es zwei verschiedene Arten von Schicksalen, wie ich das begriffen habe, nämlich einmal die Verbringung in Arbeitslager, Arbeitslager für Männer, Arbeitslager für Frauen, mit furchtbar harten Verhältnissen. Andere, die vielleicht ein kleines bisschen mehr Glück hatten, die wurden in der Steppe ausgesetzt und konnten ihren Weg in eine Steppensiedlung machen und dort in einer Kolchose arbeiten. Und so ist es zum Beispiel meiner Familie ergangen, sodass sie sich dort in diesen Mikrokosmos, in diese Gesellschaft eingegliedert haben.

Ira: Deine Familie hatte dann das Glück, dass sie 1955 zusammen mit anderen deutschen Kriegsgefangenen unter Adenauer nach Deutschland zurückkehren durften. Zurück ist ein bisschen schwierig in dem Fall, denn deine Familie väterlicherseits kommt eigentlich aus Galizien. Magst du uns kurz was zu Galiziendeutschen sagen? Das Interessante ist ja, dass meine Familie aus der Westukraine kommt und deine Vorfahren gar nicht so weit davon entfernt waren und haben trotzdem eine völlig andere Geschichte, weil Galizien eine andere politische Geschichte hat.

Sabrina Janesch: Das ist dieses Phänomen mit Galizien. Also ich hatte schon gesagt, ich bin halb Polin, halb Deutsche. Aber wenn man in meinem Fall drei Generationen zurückgeht, wohnten alle meine Vorfahren in Galizien. Die Deutschen als deutsche Siedler, als deutsche Kolonisten und die Polen als polnische Siedler, und ganz in der Nähe dann noch deine Vorfahren. Ganz unglaublich, was für eine Kakophonie von verschiedenen Sprachen, Kulturen und Religionen! Ganz faszinierend! Und analog zu der Geschichte der Russlanddeutschen oder der Wolgadeutschen, sind die Galiziendeutschen vor 200-300 Jahren von der österreichischen Kaiserin Maria Theresia ins Land nach Galizien geholt worden. Galizien war damals der östliche Zipfel der Habsburger Monarchie, und so hatte die Kaiserin um deutsche, Siedler, Handwerker, Landwirte geworben. Da sind dann Tausende jenem Ruf gefolgt, und haben sich dann dort während der Jahrhunderte ihre Gemeinden aufgebaut, ihre Kirchen, ihre Schulen, ihre Dörfer. Immer auch mit Einbezug ihrer Religion. In diesem Fall eines wirklich altmodischen und sehr traditionellen Katholizismus.

Edwin: Das heißt, die Galiziendeutschen waren keine Russlanddeutschen, das waren „österreichische Deutsche“. Sie waren dann wahrscheinlich auch in ihrer Identität eher habsburgisch.

Sabrina Janesch: Edwin, ich vermute, die Bewohner jener äußersten Zipfel dieser Großreiche, die an diesen Säumen gewohnt haben, sich mehr über Tradition und Sprachzugehörigkeit identifiziert haben, mehr noch als diese Nationalitätenzuweisungen. Ich denke, wichtig für die war, dass sie deutschsprachig waren, dass sie auf Deutsch ihre Bibel studiert haben. Das war für sie ausschlaggebender, als ob die sich jemals österreichisch, habsburgisch, deutsch gefühlt haben. Ich denke, das war immer etwas, was von außen herangetragen wurde. Zum Beispiel in Form eines Passes, den sie irgendwann vom Deutschen Reich bekommen hatten, als klar war: „Ach, das sind ja deutschsprachige in Galizien. Hier wird es demnächst brenzlich. Kommt doch lieber heim ins Reich.“ Und das war dann auch Teil meiner Familiengeschichte, dass die Repression in diesem Teil Galiziens immer mehr zunahmen und sie also diesem Ruf „heim ins Reich“ gefolgt sind und von den Nationalsozialisten schließlich im Warthegau angesiedelt wurden, was heute Teil von Polen ist.

Sabrina Janesch und Ira Peter bei der Lesung in Stuttgart. Bild© Haus der Heimat

Edwin: Diese Aktion Heim ins Reich war ja ein Bestandteil des Geheimabkommens zwischen Hitler und Stalin 1939 und dementsprechend durften Menschen, die sich als deutsch identifiziert haben, ins Deutsche Reich emigrieren. Nicht nur aus Galizien, sondern auch zum Teil aus Bessarabien, aus der Bukowina. Aus den Bereichen, die die Sowjetunion im Zuge dieser Aufteilung Osteuropa annektiert hatte. So sind die Menschen damals vom Deutschen Reich in diesem Warthegau angesiedelt, worüber wir jetzt auch schon in mehreren Folgen gesprochen hatten. Es ist nur verrückt, dass diese Menschen und deine Familie dann 1945 in die Sowjetunion, nicht in ihrer Heimat, aber in den Osten geschickt wurden, was für sie dann auch keine Heimat war. Genauso wie sie als sogenannten Heimkehrer in die Bundesrepublik gekommen sind, was für sie ja auch keine Heimat war. Menschen ohne Heimat.

Sabrina Janesch: Die totale Entwurzelung auf diese physische Art und Weise betrachtet. Ich vermute und hoffe es sehr für diese Menschen, dass sie immer viel Heimat und viel Trost in ihrer kulturellen Identität finden konnten. Zum Beispiel über die Sprache. Ich spreche nochmal die Religion an. Ich weiß nicht, ob das nur meine Familie war, in der das so signifikant war. Ich vermute mal, ganz stark nicht. Und auch – wenn ich jetzt ganz speziell mein Vater anschaue – über das Geschichtenerzählen. Das sind immaterielle Werte von Heimat und von Tradierung, die da, glaube ich, emotional und psychisch sehr wichtig waren, die sie dann schließlich in dieses Norddeutschland getragen haben, das für sie wie ein fremdes Land war.

Ira: Das heißt, die Verschleppungsgeschichte war bei euch schon sehr präsent. Wurde da auch viel darüber erzählt?

Sabrina Janesch: Ja. Mein Vater hat mit mir viel darüber gesprochen, hat viel mit mir geteilt. Ich weiß, dass viele Menschen nicht drüber sprechen konnten, die auch teilweise in den Lagern waren oder vorher Soldaten gewesen sind und das Ganze als Erwachsene erlebt haben, die da vielleicht auch noch mal deutlich andere Leidenswege haben durchschreiten müssen. Mein Vater hat das Ganze als Kind erlebt. Ich hatte schon gesagt, der ist 1942 geboren, der hat auch Furchtbares erleben müssen, aber konnte dann im Laufe der Jahre, wo die Verhältnisse sich ein wenig gebessert haben, wo die Dinge ein wenig einfacher wurden, konnte er zumindest in Teilen auch immer wieder eine ausgelassene Kindheit erleben und so hat er mir hauptsächlich von dieser Kindheit in der Steppe berichtet. Auch die schlimmen Geschichten wurden erzählt und berichtet. Damit hat er mich nicht verschont. Aber eben auch ein ganz grundlegendes Gefühl von Freiheit und fast von Wildnis und dieser persönlichen Freiheit, hinausgehen zu dürfen. Dieser Impuls, das war etwas, was ihn bis zum Schluss begleitet hat: Das Vergnügen daran, rauszugehen, loszulaufen und zu erkunden, zu entdecken.

Edwin: In dem Roman fängt eine der Hauptpersonen, Laila, die Tochter von Josef Ambacher, an, sich fragen zu stellen und ihrem Vater die Fragen zu stellen. Das ist nicht irgendwann, sondern nach dem Fall der Berliner Mauer kommen plötzlich Aussiedler in Mühlheide an. Die erscheinen nach einem Schneesturm, der diese Community sehr stark an den Buran aus der Steppe erinnert, aufgrund eines Missverständnisses oder Verwaltungsfehlers. Es dient als Trigger für Josef Ambacher bestimmte Handlungen vorzunehmen, die für Außenbetrachter irrational wirken. Wie reagiert den Lailas Vater im Roman auf diese russlanddeutschen Aussiedler?

Sabrina Janesch: So wie ich diese Figur porträtiert habe oder sie sie porträtieren wollte, war, dass er mit einer großen Herzensgüte auf diese Menschen zugeht. Denn das, was er in dieser Zeit in der Steppe erworben hat, in der Zeit zwischen Kasachen, zwischen Russen und zwischen dem ganzen Dutzend Ethnien mehr, war - das war mein Eindruck - eine Art von Unvoreingenommenheit und einer großen Güte gegenüber dem Mitgeschöpf, dem Nächsten. Wir sind wieder bei der christlichen Religion. Und so hat er diese Neuankömmlinge, wie er sie nennt, sofort in sein Haus aufgenommen. Denn so wie ich diesen Roman aufgebaut habe, war es für mich am interessantesten, Episoden aus der Vergangenheit und aus der näheren Vergangenheit, also aus den 1940 - 50ern und aus den 1990ern immer wieder zu spiegeln, auf Ähnlichkeiten abzutasten, zu befragen. Und so habe ich die Ankunft der Aussiedler in Niedersachsen mit der Ankunft der Verschleppten 1945 in der Steppe gespiegelt, wo sie überraschend auf bereits anwesende Russlanddeutsche trafen, die seit 1941 dort in der Steppe deportiert und festgesetzt waren.

Edwin: …die Familie Quapp und es gibt auch zwei Geschwister, die dann Mitschüler von Josef in der Dorfschule sind, wo er neben den Kasachen auch Russisch lernen muss, weil die Kasachen auch kein Russisch können.

Sabrina Janesch: …die russische Sprache. Ich muss auch sagen, dass gegenüber den Russlanddeutschen, die seit Jahrhunderten in Russland gelebt und diese Sprache und auch kulturelle Aspekte erworben haben, habe ich mich immer ein bisschen benachteiligt gefühlt. Ich verstehe Russisch wirklich sehr gut, aber wann immer ich Russlanddeutsche beobachte – zum Beispiele auch bei unseren Lesungen, bei unseren Begegnungen in der Vergangenheit – , dann sehe ich Menschen, die sich heimlich, recht leise und diskret auf Russisch unterhalten. Und ich denke mir: Ich gehöre eigentlich zu euch. Ich bin eine von euch! Guckt mich nicht an wie eine Deutsche! Frechheit! (lachen) Es ist ganz kurios, wie lange diese eigentlich zeitlich sehr begrenzte Episode – 10 Jahre in Kasachstan – doch in so einer familiären Identität nachstrahlen kann. Es ist erstaunlich!

Ira: Wie war das bei dir? In Gifhorn waren dann ja auch plötzlich Russlanddeutsche. Hast du dich mit denen solidarisch gefühlt? Hattest du das Gefühl, dass du durch die Geschichte deines Vaters auch ein bisschen zu denen gehörst? Wie waren da die Kontakte?

Sabrina Janesch: Absolut! Jetzt wo wir drüber sprechen: Vielleicht wird dieses Sentiment ein bisschen dadurch verstärkt, dass ich ja auch halb Polin bin und weite Teile meiner Kindheit, bevor ich eingeschult wurde, in Polen auf dem Bauernhof verbracht habe. Noch zu Zeiten des Kommunismus. So dass ich ein gutes Einfühlungsvermögen für den Osten und für östliche Phänomene, Dispositionen und Charaktereigenschaften habe, die kollektiv manchmal sichtbar werden. Dass es da eine große Zuneigung oder zumindest ein Verständnis gibt. Und so waren mir die Russlanddeutschen oder die Aussiedler, die dann bei uns auftauchten, alles andere als fremd. Vielleicht habe ich auch ein wenig meinen Vater nachgeahmt, aber für mich war es wichtig, die Tür zu öffnen und die nach Hause einzuladen. Ich habe dann immer wieder an ihren Gesichtern bemerken können, wie sie sich gewundert haben, dass unser Haus mit russischen Folkloreartefakten vom Baikalsee, aus Sibirien, teilweise auch aus Kasachstan ausstaffiert war. Meine Mutter, die in der Küche stand und einen Barszcz gekocht hatte. Also Barszcz analog zum Borschtsch in Russland. Die haben gedacht, die kommen in einen deutschen Haushalt und – Überraschung! – hier ist was anderes los! Das waren immer ganz besondere und auch kuriose Momente, die dann diesen Roman mitausgelöst haben.

Edwin: Was mich immer wieder wundert, ist, dass obwohl so viele Menschen in Deutschland lebten, die Vertriebene oder Flüchtlinge waren - es waren 14 Millionen -, diese Zivilverschleppten, nach der Wiedervereinigung viele Ostdeutsche, die ja auch eine traumatische Kollektiverfahrung gemacht haben, waren die Aussiedler in den 90er Jahren plötzlich mit dem gleichen gesellschaftlichen Problemphänomen konfrontiert: Dass man sie nicht als Teil der deutschen Gesellschaft betrachtet hat, dass man sie als Fremde gezeichnet hat. Du hast jetzt von deiner persönlichen Erfahrung erzählt, dass deine Familie eher offen den Aussiedlern gegenüberstand. Aber was glaubst du, was war denn damals in den 90er Jahren? Warum hat man aus diesen alten Fehlern nicht gelernt und versucht, es anders zu machen?

Sabrina Janesch: Weißt du, ich glaube nicht, dass die in den 1955er Jahren eine Art Weg geebnet haben für euch, die ihr später gekommen seid. Ich glaube nicht, dass die irgendeinen Diskurs aufgemacht haben und sich zu erkennen gegeben und sich erklärt haben. Ich glaube, dass war einfach überhaupt gar kein Thema. Da war noch keine Bresche geschlagen. Als dann die Aussiedler in den 90ern gekommen sind, mussten sie den Kampf neu anfangen und sich irgendwie positionieren, oder von sich berichten. In den 50er Jahren ist da in der Hinsicht wirklich wenig geschehen. Vielleicht auch, weil die Sorge hatten in einen Topf mit den Kriegsgefangenen geschmissen zu werden, die ja en bloc zurückgekehrt sind. Im Roman gibt es so eine Stelle, wo gesagt wurde, dass es schon seine Gründe gehabt haben wird, warum sie nach Kasachstan oder nach Sibirien verschleppt worden waren. Was haben die bloß getan? Ich glaube, dass diese Menschen weder den Nerv noch die psychische Kraft hatten, sich da zu erklären, Vorurteile richtigzustellen. Das war eher eine zeitliche und auch eine psychische Disposition. Die Menschen haben den Kommunismus, den Stalinismus in Zentralasien erlebt. So dass man sich da lieber unauffällig zur Seite gestellt hat und lieber nichts erzählt und nicht besprochen hat.

Edwin: Ist das heute anders? Was würdest Du dir im Umgang mit diesen Kollektivgeschichten in unserer Gesellschaft wünschen?

Sabrina Janesch: Wir sitzen jetzt gerade gemeinsam hier im Podcast „Steppenkinder“ und sprechen über den Roman „Sibir“. Ich möchte das gerne als Zeichen dafür werten, dass diese Geschichten immer mehr von Interesse sind, in den Mainstream finden, Beachtung finden, wie vielleicht auch der Osten in den letzten Jahren. Und das wäre jetzt auch eine Frage an euch beide, ob es seit Ausbruch des Ukrainekrieges zu einer Veränderung in der öffentlichen Wahrnehmung und der öffentlichen Emotionalität kam? Und auch dem Interesse, dass man dem Osten entgegenbringt?

Ira: Dem Interesse begegne ich meist in der Form, dass ich mich als Russlanddeutsche gegenüber dem russländischen Angriffskrieg auf die Ukraine positionieren soll. Und dann muss ich immer erstmal erklären, dass das „Russland“ in „Russlanddeutsch“ sich nicht auf das jetzige Land Russland bezieht, sondern auf das zaristische Russland, in das meine Vorfahren irgendwann mal ausgewandert sind. Das Interesse ist größer geworden, aber es ist ein fragwürdiges Interesse, denn ich hätte mir tatsächlich schon vor vielen Jahren mehr Interesse für die Ukraine gewünscht. Man hat sich schon immer für Russland und diese russische Seele, die auch uns Russlanddeutschen immer wieder gern angedichtet wird, interessiert. Aber nicht wirklich für die anderen osteuropäischen Länder und ich glaube, da wurde einiges verpasst. Das Interesse ist da, aber die Art des Interesses ist ein bisschen herausfordernd. Wie erlebst du das, Edwin?

Edwin: Es gibt hier bei uns ein verklärtes Bild von dem Osten. Auf der einen Seite ist es wie ein Bild von dem Orient und dann gibt es noch das Russland als Bild. Das sind klischeehafte Vorstellungen über diese Region. Aber die sind zum Teil so in dem Kollektivbewusstsein verfestigt, dass man bisher nicht mal bereit war, das zu differenzieren und sich von dem Gedanken zu verabschieden, dass hinter Polen alles Russland ist. Ich hoffe, dass das jetzt zu einer größeren Sensibilisierung beiträgt, nicht nur zu sehen, dass es unterschiedliche Nationen sind: Ukrainer, die Belorussen und die Moldauer sind keine Russen. Sondern, dass es irgendwann das Gefühl für eine tiefere Differenzierung gibt, so dass die Russlanddeutschen auch nicht unbedingt Russland sind. Dass Russland aus verschiedenen Minderheiten besteht, dass Kasachstan auch aus verschiedenen Minderheiten besteht und dass es einfach nur spannend ist, sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen und nicht immer nur diese Schablonen draufzulegen. Ich hoffe, dass unsere Gesellschaft jetzt sensibilisiert ist, aber da müsste aus meiner Sicht noch ein bisschen was passieren.

Sabrina Janesch: Da würde ich gern eine Anschlussfrage stellen. Du hast eben von einer differenzierten Wahrnehmung der Länder des Ostens gesprochen, Edwin. Mich würde interessieren, wie ihr das seht, Ira und Edwin, ob ihr auch Ähnlichkeiten oder Verwandtschaftslinien seht zwischen diesen östlichen geprägten Communities und worin diese Ähnlichkeiten bestehen könnten?

Ira: Ähnlichkeiten sehe ich zwischen Menschen, die im postsowjetischen Raum aufgewachsen sind. Das Spüre ich immer wieder. Ich reise sehr viel in den postsowjetischen Ländern. Vor allem Georgien, Aserbaidschan, Armenien in den vergangenen Monaten. Da merke ich schon, dass ich mich schnell zugehörig fühle. Ich wurde 1983 in der Sowjetunion geboren, das heißt, ich kann mich noch sehr gut an meine Kindheit in der Sowjetrepublik Kasachstan erinnern. Ich habe da auch die ersten drei Schulklassen besucht. Es ist zum einen das Russische, das immer noch in diesen Ländern von vorwiegend älteren Menschen gesprochen wird, das verbindet, aber auch eine bestimmte Mentalität. Es ist ganz schwierig, das in Worte zu fassen. Aber das sind die Ähnlichkeiten. Und dann wiederum, wenn man auf die Einwanderinnengruppen in Deutschland guckt, die aus dem postsowjetischen Raum sind und die allermeisten davon sind tatsächlich Russlanddeutsche, aber darunter sind auch Menschen, die als jüdische Kontingentgeflüchtete hierhergekommen sind oder als Arbeitsmigrantinnen, die russische, ukrainische oder moldauische Wurzeln haben. Da gibt es wiederum ganz viele Unterschiede. Nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Mentalität oder dem Sprachgebrauch. Ich kenne sehr viele russlanddeutsche Familien, die kaum noch Russisch sprechen. Oder wenn ich in meine Familie gucke. Gerade die Jüngeren sprechen gar kein Russisch mehr. Das heißt, man könnte sie unter dem Begriff russischsprachig gar nicht mehr zusammenfassen, während das vielleicht für andere Einwanderinnengruppen in Deutschland aus dem osteuropäischen Raum immer noch gilt.

Sabrina Janesch bei der Lesung in Rheine Bild© Kulturreferat für Russlanddeutsche

Edwin: Es ist ein komplexes Thema. Ich sehe auf jeden Fall Gemeinsamkeiten, wenn es um Aussiedlergruppen geht. Wenn es Aussiedler aus Schlesien, aus Siebenbürgen, aus Rumänien sind, gibt es da natürlich Gemeinsamkeiten. Im Sinne davon, dass man eine deutsche Minderheit früher war und ähnliche Denkmuster entwickelt hat, vom Leben als Minderheit in einer osteuropäischen Umgebung. Dann gibt es ähnliche Kollektiverfahrung im 20. Jahrhundert. Aber auch das Zusammenleben mit anderen Kulturen. Nicht in einem homogenen Kulturraum zu leben mit bestimmten Leitlinien der Kultur, an die man sich hält, sondern, dass man sich an Kontexte schnell anpassen kann, dass man Überlebensstrategien entwickelt, um in einer unwirtlichen Gegend zu überleben. Eine gemeinsame Sprache zu entwickeln mit Menschen, die kulturell komplett anders sind. Wenn ich darüber nachdenke, in welchen Nachbarschaften die Russlanddeutschen zum Beispiel in Kasachstan gelebt haben. Ich erinnere mich an dieses Beispiel, dass in einem Dorf in Nordkasachstan Ukrainisch gesprochen wurde, weil – so die Erklärung – da Polen und Deutsche zusammengelebt haben, die in den 1930er Jahren aus Wolhynien dahin deportiert worden sind. Und weil weder die Polen Deutsch konnten noch die Deutschen Polnisch, aber beide Gruppen konnten Ukrainisch, haben sie sich darauf verständigt, dass sie in diesem Dorf miteinander Ukrainisch sprechen. Das ist vielleicht eine Ähnlichkeit der Menschen, die aus diesem multiethnischen, multikulturellen Mittelosteuropa und Osteuropa stammen. Was es ja auch spannend macht. Das ist ja nicht nur konfliktbeladen, sondern das ist unglaublich spannend. Das ist gerade für Literaten wie dich oder ich denke zum Beispiel an Literaten aus der Vergangenheit, wie Joseph Roth, den ich sehr verehre der Stoff ist, aus dem die spannenden Geschichte gemacht werden.

Sabrina Janesch: Absolut und gleichzeitig ist es hoffentlich auch ein Sujet, aus dem die Zukunft gemacht ist, nämlich die Pluralität, die Kakophonie und auch das friedliche und flexible Zusammenleben. Ich finde, das ist wegweisend und das sind Impulse und Erkenntnisse, die östlich geprägte Aussiedlercommunities in den Mainstream verstärkt funken und hineingeben können, weil das wichtige und, wie ich finde, essenzielle Aspekte des menschlichen Zusammenlebens sind.

Edwin: Wir wollen mit Dir über Kasachstan sprechen.

Ira: Ich glaube, du kannst uns dazu einiges sagen. Denn du bist im Jahr 2018 im Rahmen der Recherche für deinen Roman nach Kirgistan und Kasachstan gereist. Unter anderem in das Dorf in dem dein Vater gelebt hat. Wie hat sich das angefühlt als du plötzlich dort standest? Was hast du noch gefunden?

Sabrina Janesch: Das war wirklich komplett überwältigend. Da mein Vater mir so viel erzählt hatte und ich dadurch schon als Kind immer ein Kopfkino hatte, wie dieses Dorf aussieht, wie der Steppenfluss aussieht, wie die Steppe im Sommer flirrt und im Winter meterhoch verschneit ist. Ich hatte das alles cineastisch im Kopf. Das Ganze dann live – natürlich ein bisschen anders. Ein Amerikaner würde sagen grand. Eine unfassbare Skala! In der Steppe gibt es ja diesen Platz, diesen Raum. Kleines Dorf, wo alle auf einem Haufen sind? Nein! Alle sind auseinander mit wahnsinnig viel Platz. Das mit eigenen Augen zu sehen und durch die Realität korrigiert zu werden, war unglaublich. Das war sehr emotional. Für mich ist es immer das Schönste mit den Menschen in Berührung zu kommen und mich mit ihnen auszutauschen und die Leute im Dorf waren wahnsinnig herzlich. Haben sofort verstanden, warum ich da bin. Am Anfang war ich ein bisschen besorgt, ob die das komisch finden, ob die denken, dass ich Revanche möchte. Aber weit gefehlt. Die waren alle total gerührt, dass ich auf den Spuren von meinem Papa bin. Wir durften bei denen übernachten und die haben für uns gekocht. Wie man sich diesen klischeehaften Osten auch vorstellen kann. Im Guten. Und genauso hat er sich gezeigt. Mit einem Herzen aus Gold und voller Gastfreundschaft. Mein kasachischer Guide und ich haben schließlich auch das Haus gefunden, in dem meine Familie zuletzt gewohnt hatte. Ich denke, Anfang der 50er war genug da, um sich ein schon recht adrettes Häuschen zu bauen. Dieses Häuschen ist heute leider halb eingestürzt aber immer noch betretbar und da bin ich hineingegangen und habe die Spuren der Werkzeuge meines Urgroßvaters gesehen, der Tischlermeister war. Das war meines Erachtens nach der emotionale Höhepunkt. Buchstäblich handfeste Spuren meiner Familie dort zu finden.

Edwin: Weil wir ortskundige Zuhörer haben: Könntest du uns das ein bisschen beschreiben, wo das ist?

Sabrina Janesch: Das ist etwa 250 -280 Kilometer nordöstlich von Astana. Das sind kleine Örtchen, die sich um einen Bahnschienenstrang scharen. Da gibt es Stancia Koluton, Staryj Koluton und Novyj Koluton. Das ist in der Gegend von Atbassar. Ich denke, jemand, der aus der Nähe kommt, wird sich grob orientieren können. Mein Vater hat seine Kindheit in dieser Kolchose in Novyj Koluton verbracht.

Edwin: Kann man sich wahrscheinlich wie im Wilden Westen vorstellen, oder?

Sabrina Janesch: Absolut! Ich habe immer wieder gedacht, dass es wie in der Prärie ist. Heutzutage sogar noch. Die Leute haben da keinen Wasseranschluss. Elektrizität ja, aber kein Wasseranschluss. Das heißt, da reagiert noch das Prinzip Wassereimer. Für mich etwas, was ich aus Polen, selbst aus Ostpolen so nicht kannte. Wobei ich da meine Hand nicht für ins Feuer legen würde, dass es da nicht auch noch solche Zustände gibt. Vor allen Dingen aber das Gefühl, ganz weit weg zu sein. Abgeschnitten zu sein und das hat mich gewundert, denn wir waren keine 300 Kilometer von Astana, von der Hauptstadt des Landes entfernt

Ira: Hast du die Steppe auch so richtig über deine Sinne wahrgenommen? Wie hat sie gerochen? Wie klingt sie? Welche Erinnerung hast du da?

Sabrina Janesch: Das war definitiv das Hauptziel dieser Reise. Alles mit den eigenen Sinnen wahrzunehmen, um es dann schildern zu können. Ich bin Mitte Juni gefahren, was ich für Hochsommer hielt und tatsächlich brannte die Sonne schon sehr stark vom Himmel. So, dass man, wenn man still stand, anfing zu schwitzen und es war wahnsinnig heiß. Aber kaum kam der geringste Windstoß, war es sofort wirklich kalt. Ich war ständig im Zwiespalt. Möchte ich mehr Kleidung ablegen oder will ich meine Jacke anziehen? Was passiert mit mir? Ich habe da ganz merkwürdige Erinnerung an diese auch körperliche Empfindung, die diese Steppe in mir ausgelöst hat. Ich habe sie als recht unbarmherzig in Erinnerung, was diese Temperatur und diese Wetterverhältnisse anging. Zu kalt. Zu heiß. Der Wind, wenn er auffrischt, wird sofort wirklich sehr stark. Das ist etwas, was mir größten Respekt abgenötigt hat. Einmal für diesen geografischen Raum, der so stark ist und gleichzeitig für die Menschen, die dort gelebt haben. Seien es die europäischen Siedler, die Verschleppten, die dort auskommen mussten. Und nochmal mehr, für die Menschen, die dort eine Zivilisation, eine Kultur, eine Nation aufbauen konnten, nämlich die Kasachen. Das hat mich immer wieder beeindruckt, so dass ich mehr von ihnen wissen wollte und schließlich viel kasachische Literatur, viele Märchen, Legenden, Mythen studiert habe und das für mich zu diesem Buch dazugehörte, zu benennen, auf wessen Erde man da eigentlich steht.

Edwin: In dem Roman wimmelt es auch nur so vor Djinns und vor Schaitans und der ganzen kasachischen Mystik.

Ira: Wird der Roman eigentlich ins kasachische Übersetzt? Das wäre sehr schön!

Sabrina Janesch: Das wäre mir eine große Freude. Bis jetzt habe ich keine Kunde davon, aber das wäre für mich natürlich wirklich ein Herzensanliegen. Absolut.

Edwin: Um vielleicht nochmal einen Bezug zur russlanddeutschen Literatur herzustellen. Der Roman hat mich in Grundzügen an den Roman „Das Haus des Heimatlosen“, des wahrscheinlich bekanntesten deutschen Autors in Kasachstan, Herold Belger, erinnert. Da ist es auch so ähnlich. Er ist Feldscher in einer Krankenstation, so ähnlich wie die Tante der Hauptfigur Josef. Aber die wichtigste Frage haben wir noch nicht gestellt. „Sibir“ ist ja eine Region, die man eher mit Russland verbindet. Du hast deinen Roman „Sibir“ genannt, er spielt aber in Kasachstan. Was meintest du damit?

Sabrina Janesch: Zweierlei eigentlich. So wie ich das von meinem Vater und von vielen, die dieses Schicksal erlebt hatten mitbekommen habe, haben sie sich ganz emblematisch mit „Sibir“ auf dieses Schicksal der Verschleppung bezogen. Verschleppung, Verbannung, Verbringung an einen ganz weit entfernten, vielleicht auch wüsten und wilden Ort. Das war symbolhaft für diese Schrecken der Verschleppung. Das andere: Ich will jetzt nicht auf die genaue geografische Grenze schauen, aber ich meine, das Sibirien nicht mit der Landesgrenze der Russischen Föderation endet, sondern ein bisschen nach Nordkasachstan hinein überlappt.

Edwin: …Es geht in die kasachische Steppe über…

Sabrina Janesch: …so dass wir eventuell gerade noch geografisch korrekt bezeichnet sind.

Edwin: Aber es geht tatsächlich um die Metapher, um die Verbannung.

Sabrina Janesch: Absolut.

Ira: Liebe Sabrina, wir danken dir von Herzen für dieses Gespräch. Es ist so schön, sich mit dir zu unterhalten! Du kannst so unglaublich schön und mitreißend erzählen. Ich bin dankbar, dass du diesen Roman geschrieben hast. Für mich ist es ein ganz wichtiges Werk. Ich habe es unglaublich genossen. Jede Seite. Man kann deine Liebe, wie du sie eben auch zu Kasachstan und diesen Menschen dort geschildert hast, wirklich spüren. Alle, die den Roman noch nicht gelesen haben: Eine sehr, sehr große Empfehlung von Herzen von uns beiden. „Sibir“ von Sabrina Janesch. Danke dir und ich hoffe, wir sehen uns noch ganz oft wieder.

Sabrina Janesch: Das hoffe ich auch! Danke für dieses wunderbare Gespräch, dass wir sicher noch ewig lang weiterführen könnten. Herzlichen Dank!