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Irina Unruh: Wo die Pappeln in Kirgistan wachsen
Die Fotografin Irina Unruh, die 1988 als Kind Kirgistan verließ, erzählt ihre Geschichte im Fotobuch "Where the Poplars Grow", das unter Mitwirkung von Helena Melikov und Viktoria Morasch im Verlag SHIFT BOOKS erschienen ist. Sie reiste mehrfach in das Heimatdorf ihrer Familie, um Fragen von Identität, Erinnerung und Heimat zu erforschen. In der neuen Folge sprechen Ira Peter und Edwin Warkentin mit der Fotografin darüber, wie und weshalb vor mehr als 150 Jahren Deutsche in dem Land an der Grenze zu China sich niederließen und unter welchen Umständen sie später wieder gegangen sind. Auch das heutige Kirgistan wird thematisiert. Die Dokumentarfotografin hat bereits in renommierten Magazinen wie National Geographic und GEO veröffentlicht sowie in Städten wie Rom, Brüssel, Tiflis und Jakarta ausgestellt. Für das Buch "Where the Poplars Grow" erhielt sie vor Kurzem die Auszeichnung Silber beim Deutschen Fotobuchpreis 2024/25 in der Kategorie „Bildband künstlerische Fotografie.
Hier können Sie sich diese Folge anhören
Edwin: Hallo Ira. Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gehört und gesehen. Freut mich. Wie geht es dir?
Ira: Hallo Edwin. Es freut mich auch dich zu sehen. Mir geht es sehr gut. Der Herbst ist turbulent. Viel zu tun, aber ich kann mir vorstellen, dass das bei dir ähnlich ist, oder?
Edwin: Ja, der Herbst ist im Kultur- und Projektbereich so etwas wie Ernte und Aussaat gleichzeitig. Es war wirklich ein turbulentes Jahr bisher und die letzten Wochen waren auch sehr bunt. Es sind sehr viele schöne Sachen entstanden. Projekte wurden zu Ende geführt und präsentiert. Froh bin ich sehr und auch schon ein bisschen Stolz, auf das was passiert ist. Wie schaut es denn bei dir aus?
Ira: Ich hatte auch viel zu tun mit dem Buch über Russlanddeutsche, dass ich jetzt geschrieben habe, das nächstes Jahr erscheint. Ansonsten stehen noch einige Veranstaltungen auf der To-do-Liste dieses Jahr. Ich habe natürlich mitbekommen, was bei euch in Detmold so los war. Und über ein bestimmtes Projekt werden wir heute auch mit unserer Gästin sprechen. Wir kamen ja in den letzten Monaten nicht so viel zum Austausch und zum Aufnehmen und ich freue mich, dass das heute klappt. Denn zwischendurch sind auch immer wieder Nachrichten von unserer Zuhörerinnen und Zuhörern angekommen, die uns ein bisschen vermisst hatten. Das hat uns jedes Mal gefreut und wir freuen uns, dass das heute klappt mit einer neuen Steppenkinder-Folge über…
Edwin: Heute sprechen wir über Kirgistan. Wir hatten bis jetzt mehrmals über Kasachstan gesprochen, wir haben über die Ukraine gesprochen, über die Wolga und andere Gebiete. Irgendwann haben wir festgestellt, dass es ja sonst noch etwas zu berichten gibt. Viele haben gefragt, ob uns die Themen oder das Geld ausgegangen sind. Weder noch. Wir wollten schon immer mal eine Folge über Kirgistan machen, über die Deutschen dort und über das Kulturerbe und jetzt hat sich die Gelegenheit angeboten.
Ira: Und zwar in Form von Irina Unruh, mit der wir heute sprechen werden. Sie ist Dokumentarfotografin und hat in vielen renommierten Magazinen bereits ihre Arbeiten veröffentlicht. In „National Geographic“, in „Stern“, in „Geo“ und ihre Arbeiten wurden auch schon in vielen Städten weltweit ausgestellt. In Rom, Brüssel, New York, Tiflis, Jakarta, Berlin und auch in Detmold. Darüber erzählen wir gleich mehr. Für ihr neues Buch ist sie mehrmals nach Kirgistan gereist, um das Heimatdorf ihrer Eltern und Großeltern zu besuchen und heute sprechen wir auch mit ihr über ihr Geburtsland Kirgistan, über die Geschichte ihrer Familie und über ihren neuen Fotoband „Where the Poplars grow“ (Wo die Pappeln wachsen). Die Ausstellung in Detmold bei euch im Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte, die zeigt genau diesen Bildband und da werden wir nachher ein bisschen mehr hören, aber jetzt erstmal herzlich willkommen Irina Unruh bei den Steppenkindern!
Irina Unruh: Vielen Dank! Ich freue mich sehr bei euch zu Gast zu sein, zumal ich selber sehr gern die Steppenkinder höre und viel durch euch gelernt habe und euch sogar als Recherchequelle genutzt habe. Was ich auch zum Teil vermisst habe, war etwas mehr über Kirgistan zu hören und umso mehr freue ich mich, dass ich heute eingeladen bin, um über Kirgisistan zu erzählen.
Edwin: Es gibt ja so eine Vorstellung im russischsprachigen Bereich. Wenn man mit zwei Menschen zusammentrifft, die beide den gleichen Vornamen tragen, dann darf man sich was Wünschen. Ira und Irina, aber soweit ich weiß, Irina, nennst du dich aber nicht Ira, oder?
Irina Unruh: Ich nenne mich nicht Ira. Ich nenne mich tatsächlich nur Irina. Ich glaube aus dem Grund, weil ich zwischendurch als wir nach Deutschland kamen mal Irene für ein paar Jahre hieß, und mich diese Erfahrung so traumatisiert hat, dass ich mir gesagt habe, ich will für immer Irina bleiben und keinen anderen Namen mehr haben.
Ira: Das heißt, du hast dich zurück umbenennen lassen von Irene zu Irina? Ganz offiziell?
Irina Unruh: Genau. Bei mir war es tatsächlich so. Ich habe es auch erlebt, dass bei den ersten Behördengängen der Name geändert wurde. Auch einige Namen meiner Geschwister wurden geändert und dann aber wurde ein paar Jahre später das Familienstammbuch beim Standesamt angelegt und da war dann jemand so nett und fragte, warum ich eigentlich Irene heiße, ich habe doch so einen schönen Namen gehabt. Irina ist doch auch ein gängiger und in Deutschland möglicher Namen und meine Eltern fanden es sofort wichtig diese Gelegenheit zu ergreifen. Seitdem heiße ich wieder Irina.
Ira: Irina, ich kann mir vorstellen, dass viele unserer Zuhörenden gerade gar nicht so ganz genau wissen, wo Kirgistan oder Kirgisistan, wie es auch offiziell bezeichnet wird, liegt. Magst du uns ein bisschen über dein Geburtsland erzählen?
Irina Unruh: Kirgisistan liegt in Zentralasien. Es ist eines der sehr kleinen zentralasiatischen Länder. Die Nachbarländer sind im Norden Kasachstan, dann China im Osten. Tadschikistan und Usbekistan die Nachbarländer im Westen.
Ira: Du lebst jetzt wo in Deutschland und seit wann?
Irina Unruh: Ich lebe seit 2018 in Warendorf im Münsterland. Aber ich habe an vielen unterschiedlichen Orten in meinem Leben bereits gelebt. Aber das ist im Moment die Wahlheimat, die meine Familie gewählt hat, weil mein Ehemann aus dieser Gegend kommt und er den Wunsch hatte, näher zu seiner Familie zu kommen und ich fand, dass das ein nettes Städtchen ist und habe mich drauf eingelassen, habe aber nicht damit gerechnet, dass es doch sehr speziell auch ist.

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Ira: Wir haben eine Gemeinsamkeit. Wir waren beide neun Jahre alt, als wir aus Zentralasien nach Deutschland gekommen sind. Bei euch war das im Jahr 1988. An der Stelle würde ich mich sehr freuen, wenn Edwin uns ein bisschen mehr erzählt über die Deutschen in Kirgistan und wie die überhaupt hingekommen sind.
Edwin: Das ist eine total spannende Geschichte. Deutsche lebten seit ungefähr den 1880er Jahren bereits in diesem Gebiet des heutigen Kirgistans. Damals gab es aber noch kein Kirgisien oder Kirgistan als Land. Russland unterwarf im Laufe des 19. Jahrhunderts verschiedene Sultanate und Emirate dieser Region und nannte dann alles insgesamt Turkestan. Dorthin wanderten Mennoniten aus den Kolonien in der heutigen Ukraine und der Wolgaregion aus. Die russische Machthaber oder Bestatzungsmächte die brauchten dann europäische Siedler, um eine loyale Bevölkerung da zu bekommen und für viele, insbesondere Mennoniten, über die wir schon eine Folge gemacht haben, suchten dann nach Möglichkeiten, um den Wehrdienst zu entgehen, der damals im Zarenreich eigeführt wurde. So sind halt Mennoniten aus der heutigen Ukraine und aus dem Wolgagebiet dieser Möglichkeit gefolgt, sich in Zentralasien ansiedeln zu lassen. Die einen wollten die Befreiung vom Wehrdienst und die anderen lockte eine Prophezeiung, dass sie in Samarkand, im heutigen Usbekistan, den Weltuntergang erwarten sollten. Und bis in die 1920er Jahre lebten ungefähr 4000 dieser deutschen Siedler vor allem im Tal des Flusses Talas und ein kleinerer Teil zog dann weiter in die Nähe der Stadt Xiva im heutigen Usbekistan. Durch Bevölkerungswachstum dieser Ansiedlung oder auch dem Zuzug neuer Siedler wurde ein weiterer Standort im Tal des Flusses Tschüi gegründet, wo sich Irinas Geburtsort Grünfeld oder auch das Berühmte Dorf Bergtal, das heutige Rotfront befindet. Hungersnöte und Repressionen in den 1930er Jahren, führten dazu, dass immer weitere Familienangehörige dieser Familien aus den westlichen Regionen der Sowjetunion in diese Region dazugekommen sind. 1941 wurden Russlanddeutsche eben aus den westlichen Regionen nach Sibirien und Kasachstan deportiert, wo sie bis 1956 dort festgehalten wurden. Danach durften sie zwar nicht in ihre Heimat, in die Ukraine oder an die Wolga zurück, aber wenigstens in die Regionen Zentralasiens umziehen. Das sowjetische Kirgisien, die Kirgisische Sowjetische Republik, war damals Reiseziel Nummer 1 für diese Menschen. Da war es zumindest wärmer als in Sibirien hieß es, aber auch die sowjetischen Verfolgungsbehörden waren nachlässiger oder gnädiger in diesen Regionen als in den zentraleren Regionen der Sowjetunion. Und so lebten bis 1989 ungefähr 110.000 Russlanddeutsche/ Sowjetdeutsche in Kirgisien. Dieser Teil, der bei Xiva lebte, in Usbekistan, die wurden bereits in den 1930er Jahren von den Sowjets weiter nach Tadschikistan deportiert, also noch näher an die afghanische Grenze. Und dort lebten noch Ende der Sowjetunion bis zu den furchtbaren Bürgerkrieg, den es damals gab, noch weitere 30.000 Russlanddeutsche. Eine relativ spannende Geschichte in der Nachbarschaft zu Völkern wie den Tadschiken, Usbeken und Kirgisen. Wie waren denn die Umstände euerer Ausreise 1988? An was erinnerst du dich?
Irina Unruh: ich war damals neun Jahre alt. Somit habe ich vor allem kindliche Erinnerungen. Sehr intensive Erinnerungen habe ich an die letzten Tage vor der Abreise. Ich habe zuvor auch Erinnerung, dass meine Eltern und auch Verwandte sehr emsig waren und in Vorbereitungen steckten, aber uns Kindern war nicht klar, worum es da eigentlich geht. Darüber wurde mit uns nicht gesprochen. Aber wir hatten viel Zeit als Kinder, haben viel gespielt und irgendwann wurde uns dann mitgeteilt, dass wir nach Deutschland fahren und das war am Abend vor der Abreise. Tatsächlich sehr kurzfristig.
Ira: Wie war das für dich? Warst du dann geschockt?
Irina Unruh: Ich war nicht geschockt. Es war für mich okay. Dann fahren wir nach Deutschland. Ich habe keine Vorstellung gehabt, was das genau bedeutet. Ich hatte keine Vorstellung, dass das im Grunde für immer ist und was es heißt, für immer einen Ort zu verlassen. Wir hatten Verwandte, die in Deutschland lebten. Meine Urgroßmutter lebte in Espelkamp und sie war im Jahr zuvor, 1987, mit Geschwistern zu Besuch. An diesen Besuch kann ich mich noch sehr gut erinnern und fand meine Verwandten aus Deutschland sehr spannend. Irgendwie fand ich es faszinierend. Von daher fand ich es erstmal spannend, dass wir nach Deutschland fahren. Und es kam hinzu, dass wir eine sehr große Gruppe von 47 Personen waren. Meine Großeltern und viele Geschwister mütterlicherseits mit ihren Kindern, also viele meiner Cousinen, mit denen ich eng verbunden war, kamen auch mit. Vor daher war das okay. Was mich schon traurig gemacht hat: Ich wusste ich musste Abschied von meiner besten Freundin und einer anderen Cousinen, die auch sehr mochte, nehmen. Meine Klassenlehrerin mochte ich auch sehr. Ich weiß noch, dass meine Mutter mir dann sagte: Dann geh doch zu ihr noch hin und verabschiede dich von ihr. Ich bin dann mit meiner Schwester zusammen zu ihr gegangen. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, dass wir dann in den Sommerferien bei ihr anklopften. Sie war völlig überrascht, dass ich in den Sommerferien bei ihr Abends plötzlich stehe und mit ihr sprechen will. Dann habe ich erzählt, dass wir nach Deutschland abreisen werden. Wir durften aber nicht erzählen, wann genau. Ich durfte nur sagen, dass wir bald nach Deutschland fahren werden. Sie war dann auch völlig überrascht und hat mir eine Brosche zum Abschied geschenkt, die ich bis heute noch habe. Dann kann ich mich auch an die sehr besondere Nacht erinnern. Ein Bruder meines Vaters hat unser Haus übernommen und die Familie kam schon Nachts zu uns. Das Haus durfte nicht leerstehend. Es bestand Sorge, dass, wenn jemand davon Wind bekommt, und das Haus leer steht. Ob die Sorgen berechtigt waren, weiß ich nicht, aber die Verwandten kamen Nachts zu uns und dann ging es mitten in der Nacht los. Es waren mehrere Fahrer, die organisiert wurden, die uns nach Bischkek, damals Frunse brachten. Ich weiß, dass es auch viele Tränen gab. Meine Mutter erzählte mir auch, dass eine Tante sehr viel geweint hat und immer nur sagte: „Was macht ihr da? Was macht ihr da? Wir werden uns nie wieder sehen.“ Für uns Kinder aber war das vor allem ein großer Abenteuer. Wir haben das als unglaublich spannend empfunden, das erste Mal zu fliegen. Wir flogen nach Moskau, weil da die Erwachsenen noch zu Deutschen Botschaft mussten, um da die letzten Dokumente zu bekommen oder zu bearbeiten. Wir blieben zwei Nächste am Flughafen in Moskau. Wir mussten da den Flughafen wechseln. Da habe ich aber lückenhafte Erinnerungen.
Ira: Die meisten Russlanddeutschen kamen Anfang der 1990er nach Deutschland. Wie Edwin 1994 und bei uns war es 1992. Das heißt, eurer Familien hat eher zu der kleineren Gruppe in den 1980ern gehört. Edwin, wie war das denn Ende der 1980er als Russlanddeutsche aus der bröckelnden Sowjetunion auszuwandern?
Edwin: Wie auch Irina beschrieben hat. Das war noch mit der Sorge verbunden, dass die sowjetischen Behörden einen dafür belangen oder dass sie im letzten Moment einen davon abhalten oder behindern nach Deutschland auszusiedeln. Es gab kurz davor noch Fälle, dass Menschen dafür ins Gefängnis gekommen sind, weil sie nach Deutschland aussiedeln wollten. In dieser Zeit von 1987 bis 1990 kamen damals insgesamt etwa eine Millionen Aussiedler nach Deutschland. Das waren aber zum größten Teil Aussiedler aus Polen. Aus der Sowjetunion waren das insgesamt 300.000 Menschen. Zwischen 700 und 1000 Menschen sind damals pro Tag als Aussiedler in Deutschland angekommen. Das war schon extrem viel. Natürlich waren es dann Anfang der 90er Jahre noch mehr, wie du gesagt hast, Ira. 1972 wurde in Kirgisien sogar ein Komitee zur Aussiedlung der Russlanddeutschen gebildet. Es war so eine Zivilgesellschaftliche Untergrundorganisation, die Menschen beraten hat, wie man am besten an den Behörden vorbei kommt oder wie man am besten die Papiere ausfüllt, damit sie erfolgreich in der Bundesrepublik Deutschland bearbeitet werden. Die Menschen kämpften für die Aussiedlung nicht in den Westdeutschen Wohlstand wie es heute in der Kollektiverinnerung der Gesellschaft der Bundesrepublik ist, sondern sie wollten in die Freiheit aussiedeln. Ich hatte bei der Vorbereitung den Wikipedia-Artikel zu diesem Thema angeschaut und dann stand drin: „Grund der Aussiedlung der Deutschen aus Kirgisistan war der Zusammenbruch der Kolchosen in der Nachsowjetzeit.“ Das fand ich schon ziemlich entwürdigend, wie das da beschrieben ist. Ich zitiere den Russlanddeutschen Historiker Viktor Krieger, der zu dem Thema schreibt: „Unvollständigen Angaben zur Folge wurde seit 1972 nicht weniger als 86 Personen für ihre Ausreisebemühungen strafrechtlich belangt und abgeurteilt. Davon endenden zwei in einer psychiatrischen Anstalt. Ein Ausreisewilliger wurde ermordet und ein weiterer verstarb im Straflager.“ Ab 1987 wurden die Ausreisebedingungen in der Sowjetunion gelockert. Nicht nur für die Russlanddeutschen sondern insgesamt für Menschen, vor allem Menschen, die in der Sowjetunion als Juden galten, was bei denen in den Pässen als Nationalität stand. Und die meisten wollten in die USA oder nach Israel ausreisen. So wurden die Ausreisebedingungen gelockert in der Sowjetunion. Und Menschen konnten nun mehr oder weniger ungehindert auswandern. Allein 1987 stellten etwa 30.000 Deutsche in Kirgisien einen Ausreiseantrag. Das ist genau in dem Jahr, als ihr, Irina, dann eure Ausreisebemühungen in der Familie vorangetrieben habt. 30.000 waren ungefähr die Hälfte aller erwachsenen Russlanddeutschen dort. Die haben alleine in diesem Jahr ihren Ausreiseantrag gestellt. Als es dann plötzlich wieder möglich war. Insofern war das schon ein großer Drang der Mensch da rauszukommen.
Ira: Den Drang haben deine Urgroßeltern, Irina, schon viel früher verspürt. 1925 haben die bereits versucht die Sowjetunion zu verlassen. Warum und weshalb war der Plan dann gescheitert?
Irina Unruh: Bei mir in der Familie ist das so, dass es mehrere Geschichten gibt. Dass Familienmitglieder immer wieder versucht haben die Sowjetunion zu verlassen. Bei meiner Familie ist es auch so, dass wir mennonitische Vorfahren haben und immer wieder gab es Situationen, wo sich die politische Lage einfach änderte und es für die Menschen klar war, hier nicht bleiben zu können. Die Ausübung unserer Religion ist für uns wichtig und vor allem die Befreiung vom Wehrdienst ist uns wichtig. Den Mennoniten ist der Pazifismus bis heute sehr wichtig. Immer wenn die Söhne dazu verpflichtet wurden, in den Militärdienst zu gehen, dann suchten Familien nach Wegen, um dieser Verpflichtung zu entgehen. Die Familie meines Großvaters mütterlicherseits lebte in Orenburg. Sie und eine Gruppe von Menschen hatten beschlossen, nach der turbulenten Zeit nach der Revolution und der Bildung der Sowjetunion, die Sowjetunion zu verlassen. Dafür mussten sie aber zunächst nach Moskau, um da eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen. Mein Großvater lebte da noch nicht. Es waren seine Eltern und sie hatten schon mehrere Kinder. Sie sind mit ihren Kindern nach Moskau gefahren und der Bruder meines Urgroßvaters und seine Familie hatten es noch geschafft. Die haben eine Ausreiseerlaubnis erhalten, um die Sowjetunion zu verlassen. Dann gab es über Nacht ein Ausreiseverbot, einen Ausreisestopp, so dass die Eltern meines Großvaters nicht mehr ausreisen konnten. Und so wird es in meiner Familie erzählt, dass die Familie nicht genau wusste, wo sie hin sollten, dass sie nicht wussten, ob sie zurück nach Orenburg können oder ob sie dann Repressalien befürchten müssten. Und so entschieden sie sich nach Kirgistan zu kommen. Mein Großvater ist der erste, der 1927 in Kirgistan zur Welt kam. Was für mich immer wieder spannend war, auch bei meinen Recherchen, ich habe ganz oft den Familienstammbaum genutzt und geschaut, wer ist wann und wo geboren? Und da kann man ziemlich gut sehen, wer zum Beispiel in der Ukraine, in Orenburg geboren wurde. Man kann sehen, welche Lücken es gibt, was da geschichtlich passiert ist, um die Erzählungen, die mir von Familienmitgliedern von Verwandten erzählt wurden, auch einordnen zu können. Was ich extrem schwierig fand, das alles im Grunde zu verstehen. Wenn man anfängt so eine Familiengeschichte zu recherchieren, dann hört man erstmal so viel und versteht dann, dass die in Moskau waren und fragt sich, was sie da gesucht haben, was sie da gewollt haben? Aber Opa ist in Kirgisistan zur Welt gekommen. Ich verstand das alles nicht und fand das unglaublich verwirrend manchmal.
Edwin: Aus demselben Grund habe ich ja auch Verwandtschaft in Kanada, weil zwei Schwestern meiner Urgroßmutter waren damals bei dieser Aktion in Moskau auch dabei, wie alle anderen fünf Schwestern mit ihren Familien auch. Und nur zwei haben dann das Visum für Kanada bekommen und drei wurden abgelehnt. Meine Familie ist dann wieder zurück nach Sibirien, während wir Verwandtschaft in Kanada hatten und wir haben uns erst vor zehn Jahren wiedergefunden. Aber dann lebtest du nach der Aussiedlung in Deutschland und – das darf ich verraten – auch hier in Detmold. Du hast ja hier deine Jugend verbracht. Aber wann bist du dann wieder in Kirgistan oder bzw. in deinem Geburtsdorf in Grünfeld gewesen? Und welche Eindrücke hattest du dort gesammelt?
Irina Unruh: Ich bin genau 20 Jahre nach unserer Aussiedlung nach Deutschland wieder nach Kirgistan gekommen. Es war aber eher Zufall. 2008 war ich zum Ersten Mal wieder da. Was hatte ich für Eindrücke? Ich war zunächst erst mal als Touristin da. Es fühlte sich erst mal so an, als wäre das ein Land, zu dem ich keinen Bezug mehr hatte. Ich habe meine Wurzeln gekappt. Ich glaube, durch die Migrationserfahrung in Deutschland und den Wunsch, nach vorne zu blicken, in die Zukunft zu blicken. Da hatte die Vergangenheit gar nicht so viel Platz im Leben. Und ich habe dann meine Schulausbildung gemacht, habe studiert, bin viel ins Ausland gekommen und gereist. Und als ich dann nach Kirgistan kam, musste ich mich dem Land erstmal annähern, muss ich sagen, dass ich da erst mal schauen wollte, schnuppern wollte. Ich war damals mit meinem damaligen Freund, jetzt Lebenspartner und Vater meiner beiden Kinder, zusammen da und er war ein Stückchen derjenige, der mehr wissen wollte. Der viel gefragt hat. Er wollte meine Herkunft verstehen. Er wollte verstehen, wer ich bin. Das war ihm total wichtig. Ich habe immer gedacht, warum findet findest du es so wichtig? Aber gleichzeitig war ich auch schon sehr stolz, mit ihm dann in das Dorf meiner Kindheit zum ersten Mal zu fahren, ihm das zu zeigen, ihm bestimmte Plätze zu zeigen. Dann war das ziemlich schnell wieder präsent. Und dann war klar, Kirgistan ist nicht einfach irgendein touristischer Ort, sondern das ist der Ort, wo ich meine Kindheit verbracht habe, wo meine Großeltern lebten, meine Eltern. Und das war dann der Moment, der ja wieder ganz viel Nähe zu diesem Land gebracht hat.
Ira: Seitdem ist Kirgistan fester Bestandteil deiner fotografischen Arbeit geworden und vor allem dein neuer Fotoband „Where the People Grow“ hat Kirgistan zum Thema, ist aber wiederum ganz anders als die Arbeiten vorher. Was ist das Besondere an diesem Fotoband?
Irina Unruh: Das Besondere an diesem Fotoband für mich auf jeden Fall ist, dass es meine persönlichste Arbeit bisher ist. Es geht um eine Familiengeschichte. Es geht um meine Identität und meine Herkunft, um die Wurzeln. Und dadurch ist sie natürlich anders als die bisherigen Arbeiten. Und gleichzeitig sehe ich sie aber dennoch ein Stückchen auch als Kontinuität meiner bisherigen Arbeiten. Auch die bisherigen Arbeiten, die ich in Kirgistan gemacht habe, hatten eigentlich auch immer einen persönlichen Bezug. Ich habe immer Themen gewählt, mit denen ich in Berührung gekommen bin durch meine eigene Herkunft.
Edwin: Du verbindest in deinem Buch Bilder des heutigen Lebens in diesen Orten und in dieser Region mit den Bildern aus dem Familienarchiv, also aus deinem persönlichen Familienarchiv. Für mich korrespondierte es unter anderem auch mit dem Roman von Irene Langemann. Sie hatten wir ja auch als Gästin da. Da gibt eine Erzählperspektive der Hauptperson, aber die Familienchronik wird immer eingeflochten, und so ist es sprachlich so spannend, diese verschiedenen Medien zu verbinden. Was war denn deine Idee dahinter deine Bilder mit den Bildern aus dem Familienalbum zu mischen?
Irina Unruh: Also für mich war es eigentlich ein ganz natürlicher Prozess. Ich habe da nie drüber nachgedacht, das so zu tun oder es nicht zu tun. Es war kein stilistisches Mittel. Das war für mich eine Notwendigkeit. Ich habe gedacht, wenn ich meine Geschichte erzähle, wenn ich eine Familiengeschichte erzähle, dann gehören diese Bilder dazu. Die können wir gar nicht weglassen. Und das stand tatsächlich auch nie außer Frage oder es war nie Thema. Von Anfang an eigentlich haben wir das gemeinsam oder habe ich diese Bilder zusammengedacht.
Edwin: Mich bewegt dieses Thema, weil ich denke, mal sehr viele haben Familienschätze zu Hause, Alben, andere alten Sachen, die an die vergangenen Zeiten erinnern. Aber häufig weiß man gar nicht, was man damit anfängt. Und ich fand es so inspirierend bei deinem Buch, dass man so eine kreative Auseinandersetzung damit schaffen kann. Und im Museum hatten wir häufig erlebt, oder ich hatte erlebt, dass Besucher alte Fotos oder Familienbibeln oder Gesangsbücher vorbeibringen und sie dem Museum abgeben wollen, weil sie nicht wissen, was sie selbst damit anfangen sollen. Ich will nicht wissen, was alles bereits im Altpapier so gelandet ist und mir blutet tatsächlich das Herz bei solchen Gedanken. Denn auch ich wurde vor unserer Aussiedlung nach Deutschland „beauftragt“ Fotos zu verbrennen, weil sie nicht mehr ins Gepäck gepasst haben. Was würdest du den Menschen empfehlen? Wie könnten sie mit ihren Familienschätzen sinnvoll umgehen?
Irina Unruh: Also ich würde den Menschen als erstes empfehlen, auf keinen Fall diese Bilder in irgendeiner Art und Weise zu vernichten oder zu entsorgen, sondern sie auf jeden Fall aufzubewahren. Auch wenn man selber nicht genau weiß, was man mit ihnen machen kann oder wenn gerade nicht der Moment da ist. Ich glaube, dass Bilder oft darauf warten, dass sie dann in irgendeiner Form genutzt werden können. Und wenn sie aber weg sind, dann sind sie weg und dann hat man keinen Zugang zu ihnen. Und gerade die Bilder einer Minderheit aus der Sowjetunion sind so wertvolle Bilder, die gibt es nicht oft, auch allein aus der praktischen Perspektive heraus. Ich hatte zum Beispiel eine Tante, die sehr gerne fotografiert hat. Sie hatte ganz viele Alltagsmomente, also Aufnahmen vom Leben. Nicht die klassischen Porträts oder die Bilder von Beerdigungen und Hochzeiten, sondern wirklich auch Alltagssituationen, die sie fotografiert hat. Aber sie hat mir dann beispielsweise auch erzählt, wie schwierig es war, diese Aufnahmen überhaupt zu machen, die Filme zu bekommen. Dass ihr Vater oft nach Frunse gefahren ist, sehr lange nach Filmen gesucht hat. Und selbst wenn man dann Filme gefunden hatte, geschweige denn eine Kamera, hieß es noch lange nicht, dass man sie entwickeln kann. Denn auch die Chemikalien waren schwer zu bekommen und allein dieses Wissen darüber, das ist unglaublich. Das sind wirklich unglaubliche Schätze. Und es wurde wenig fotografiert. Es gibt wenig Aufnahmen und dann sind viele Bilder auch noch bei der Ausreise nicht mitgekommen. Und das, was man in Deutschland besitzt, das, was mitgekommen ist, das darf auf keinen Fall vernichtet werden. Es kann immer sein, dass irgendjemand, eine Nichte oder ein Neffe, irgendwann für sich merkt, dass man was mit diesen Bildern machen möchte und dass sich dann doch was findet, womit man noch gar nicht rechnet. Ich habe zum Beispiel auch eine ganze Kiste mit Fotos bekommen, nachdem meine Oma verstorben ist. Die sollten wegkommen, weil keiner die irgendwie wertgeschätzt hat oder nicht genau wusste, was man damit machen soll. Da waren Alben, die man wegschmeißen wollte. Und meine Schwester wusste aber, dass mir Bilder wichtig sind. Und sie hat die ganze Kiste genommen und sie gerettet. Und ich habe dann erst, als ich für das Buch gearbeitet habe, habe ich dann drei ganz alte Bilder gefunden und eins davon ist im Buch. Das ist das Bild, was aufgeklebt ist mit der Rückseite. Und wenn man es aufklappt, dann ist da ein Familienporträt. Und dieses Bild ist für mich ein ganz besonderes Bild. Es ist sehr dick. Man merkt mehrere Schichten von Papier. Es wurde mehrmals irgendwo abgerissen. Es war vermutlich auf Tapeten aufgeklebt und das ist für mich der beste Beweis dafür, dass es Schätze sind. Teilweise haben die Menschen versucht diese Bilder zu bewahren. Diese Bilder haben in schweren Momenten viel Kraft gegeben. Von daher auf keinen Fall vernichten. Dann lieber in eine schöne Schachtel legen und warten, bis sich jemand findet, der sie nutzen kann.
Ira: Du hast gerade was Besonderes gesagt. In deinem Buch sind tatsächlich Bilder eingeklebt und man hat das Gefühl zwischen den Aufnahmen aus dem heutigen Kirgistan plötzlich in ein Fotoalbum zu blicken. Es hat mich sehr überrascht als ich das Buch das erste Mal mir anschauen konnte. Und es fallen einem bewusst Dinge entgegen, aber dann gibt es auch leere Seiten. Die sind auch wie ein Fotoalbum gestaltet. Man sieht die Fotoecken, aber es fehlen die Bilder. Was wolltest du damit zum Ausdruck bringen.
Irina Unruh: Im Grunde wollte ich von den vielen Lücken berichten, die wir in unseren Familiengeschichten haben, die fehlen, die Erzählungen, die dazu fehlen und eben auch die Bilder, die dazu fehlen. Das ist im Grunde eine ganz authentische Seite, wie sie in Fotoalben meiner Eltern ist, wie sie in Fotoalben meiner Großeltern ist. Dass da Fotoecken aufgeklebt sind, aber die Bilder fehlen. Manchmal sieht man sogar Spuren, von einem Bild, das rausgerissen wurde. Das fand ich unglaublich spannend. Ich wollte gern verstehen, wer da fehlt? Warum fehlen diese Bilder? Was ist mit ihnen passiert? Viele Bilder, die in den Alben auch lose liegen, die nie eingeklebt wurden, die auch durch das Öffnen von Alben verloren gegangen sind. Ich kann mich selber erinnern als wir in Moskau am Flughafen waren, da wurde unsere Alben kontrolliert. Ein Album wurde einbehalten, weil da Bilder von meinem Vater im Militärdienst waren und dann wurde einfach das ganze Album genommen und weggeschmissen wie Flüssigkeiten heute und die ganze Flasche dann wegkommt. So ähnlich war es bei dem ganzen Album. Zwei Alben befanden sich in einer Kiste, die später nachkam, aber das Album, was wir im Koffer mithatten, das wurde uns abgenommen und das passierte oft. Dadurch entstehen diese Lücken. Was ist da gewesen? Bilder erzählen ganze Geschichten und im Grunde fehlen auch ganz viele Geschichten. Bei meiner Recherche habe ich viele Verwandte gefragt, in den Familienstammbaum geschaut und da waren manchmal Personen oder Namen oder auch Bilder und dann hieß es manchmal, dass man nicht weiß, wer dieses Mädchen oder dieser Mann ist. Das fand ich oft unglaublich. Ganz viel Unwissen über Menschen, die zur Familie gehören oder gehörten, aber niemand weiß mehr etwas über die. In meinem Buch gibt es ein Bild von einem Mann in einem Hut. Es ist etwas unscharf und der steht da und keiner weiß etwas über ihn. Ich fand das Bild unglaublich schön, ästhetisch auch, aber wir wissen nicht, wer er ist. Kam er zu Besuch? Lebte er im Dorf? Ist es ein Verwandter? Wer ist dieser Person? Da gibt es keine Antworten und das sind diese Lücken, die ich irgendwie visualisieren wollte.
Edwin: Ich finde es auch eine sehr interessante Metapher, die du damit zum Vorschein bringst, in Hinsicht auf das Kulturerbe der Deutschen, die da in der Region gelebt haben. Nun sind sie weg und wenn es um die Ukraine geht, wie bei Ira und Wolhynien, da sind sie ja schon seit der Mitte der 1930er Jahre weg, in der Wolgaregion seit den 1940er Jahren und jetzt sind die meisten ausgesiedelt, aber ihre Spuren sind noch da. Das ist wie ein Album, in das man dann reinschaut, aber man weiß nicht, wer auf diesen Bildern drauf ist. Wenn dieses Kulturerbe nicht bearbeitet wird, dann ist es einfach eine Kulisse. Da kannst du vielleicht einen Film zu beliebigen Themen drehen, aber der Ort lebt ja nicht. Ich finde es eine sehr starke Metapher für das Große und Ganze, die du da zum Ausdruck gebracht hast.
Ira: Es ist wirklich für das Große und Ganze und auch für das Kleine, für deine eigene Familie hast du ja auch dieses Buch geschaffen. Das ist deinen Kindern gewidmet. Was wünscht du dir denn wie sie eines Tage mit deiner Familiengeschichte umgehen?
Irina Unruh: Ich habe keinen konkreten Wunsch wie sie damit umgehen sollen, aber was mir wichtig war, dass ich meinen Kindern erzähle, dass sie, wie wir alle, bereits in eine bestehende Geschichte geboren wurden. Wir werde nicht einfach als Menschen geboren und schreiben komplett neu eine Geschichte, sondern wir schreiben eine Geschichte weiter, wir verändern sie vielleicht durch unseren Lebensweg, durch die Entscheidung, die wir treffen, aber wir werden in eine Geschichte hineingeboren. In Deutschland bin ich es gewohnt, dass ich oft gefragt werde, warum wir nach Deutschland gekommen sind. Aber meine Kinder waren die ersten, die mich fragten: Wie seit ihr nach Kirgistan gekommen? Für sie ist es ganz klar. Ich bin da geboren, ich lebte da, ich habe meine Kindheit da verbracht und mein Sohn, der selber in Rom geboren ist, weil wir für fünf Jahre in Rom lebten, fragte dann irgendwann: Hat Opa Mitja einen befristete Arbeitsvertrag in Kirgistan gehabt und wart ihr deswegen da? Das fand ich unglaublich spannend, dass man als Kind die Dinge einfach selbstverständlich hinnimmt und sie aus der eigenen Gegenwart betrachtet. Aus dem heraus, was man kennt, was einem vertraut ist und er wusste, er ist in Rom geboren, weil sein Papa einen befristeten Arbeitsvertrag in Rom hatte, also war es wahrscheinlich bei uns ähnlich. Deswegen mussten wir, als der Vertrag auslief, zurück nach Deutschland. Das fand ich irgendwie auch süß und zugleich war es mir wichtig ihm zu erzählen, dass es Lebenswege gibt, dass es Geschichten gibt, die sehr komplex sind, die unerwartete sind, wenn man sich mit der Vergangenheit beschäftigt. Dass da Dinge hochkommen können, mit denen man gar nicht gerechnet hat, die man sich nicht vorstellen konnte und gleichzeitig auch unglaublich viel Menschlichkeit in diesen Geschichten ist. Wenn ich einen Wunsch habe, dann auf jeden Fall, dass sie diese Geschichte als eine Geschichte der Menschlichkeit verstehen und dass sie sehen, dass es immer wieder Menschen gab, die andere Menschen gesehen haben, die ihnen in ihrer Not geholfen haben, die sie einfach angenommen haben. Ich finde das unglaublich schön zu wissen, dass meine Oma zum Beispiel etwa zwei Jahre bei einer kirgisischen Familie lebte. Dass viele kirgisische Familien deutsche Kinder aufgenommen haben, weil es eine sehr schwierige Zeit war und viele Kinder komplett elternlos waren. Diese Geschichten sind mir wichtig zu erzählen. Was ich mitteilen möchte: Wir wissen alle nicht wie unser Leben verlaufen wird, in welche Situation wir mal kommen, aber das wir auf keinen Fall die Menschlichkeit verlieren. Das ist das, was uns ja alle verbindet.

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Ira: Mit deinem Fotoband schaffst du ja auch einen Anlass, um über diese Geschichte zu sprechen, über Menschlichkeit zu sprechen und all das, was es umfasst. Nicht nur bei deinen Kindern weckst du damit fragen, sondern, ich glaube auch bei ganz vielen Menschen in Deutschland, die sich auch fragen, wie sind eigentlich Deutsche nach Kirgistan gekommen. Das schöne ist, dass man deine Werke aus dem Bildband und den Bildband selbst auch im Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold seit Mai sehen kann. Ihr habt das auch feierlich eröffnet und es sind auch viele Menschen gekommen. Seitdem sind viele Besuchende des Museums vor diesen Werken von dir stehen geblieben und haben sich viele Fragen gestellt und fanden sicherlich auch Antworten. Edwin, wie beobachtest du denn die Reaktionen auf Irinas Arbeit bei euch im Museum und wie ist generelle das Feedback?
Edwin: Das Feedback durchgehend positiv und wir haben auch Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit mit dieser Ausstellung generiert. Es wurde über die Ausstellung hier in den lokalen und überlokalen Medien. Die Ausstellung ist regelmäßig als Tipp des Tages in den Kulturbereichen unserer Regionalzeitung ausgewiesen. Über sie wird immer wieder berichtet. Für uns war das auch sehr wichtig gerade in diesen Jahr zu zeigen, dass sehr viele Bezüge der russlanddeutsche Spätaussiedlerinnern und Spätaussiedler, nicht nach Russland gehen. Sondern sehr viele haben ihre Bezüge eben nach Zentralasien, nach Kasachstan und speziell nach Kirgistan. Insofern haben wir mit der Ausstellung auch erreicht, diese Ambivalenz und diese Vielfalt darzustellen. Damit die Menschen, die mit den Themen nicht tagtäglich zu tun haben, auch sehen, dass das nicht unbedingt Russland ist und dass das interessant ist. Insofern denke ich mal, dass das eine wunderbare Win-win-Situation für Irina und ihr Buch, unserer Museum und dem Gesamtanliegen ist, dass wir ja alle miteinander teilen: Zu zeigen, dass es eine große Vielfalt ist und es ohnehin relativ wenige Eindeutigkeiten gibt. Insofern bin ich sehr froh, dass wir das gerade im Museum zeigen. Was bei dem Buch neben den bildlichen Elementen und Motiven wichtig ist zu erwähnen, ist ein Text der Journalistin Viktoria Morasch. Irina, dir war das wichtig, dass eine Journalistin das schreibt. Wolltest du nicht selbst einen Text schreiben oder warum Viktoria Morasch?
Irina Unruh: Ich wollte auf jeden Fall einen Text. Es war klar, dass die Bilder alleine für sich nicht reichen, sondern dass es eine Ergänzung braucht, um den Kontext zu verstehen. Das ist übrigens oft so im Bildjournalismus. Es gibt die sogenannten Captions, die ich immer sehr wichtig finde, um Bilder einordnen zu können. Deswegen war für mich auch klar, dass ich einen Text brauche, um diese komplexe Geschichte verstehen zu können. Ich habe es zunächst selber versucht, habe aber festgestellt, dass das Schreiben nicht meine Stärke und nicht meine Begabung ist und dann habe ich überlegt, wer den Text schreiben könnte? Wen könnte ich fragen? Und Viktoria ist eine Person, deren Texte ich sehr mag. Ihre Art wie sie Texte schreibt. Ich mag ihren Schreibstil sehr. Ich habe sie dann einfach angefragt und war mega glücklich, dass sie direkt zugesagt hat und große Lust hatte, diesen Text für mich zu schreiben. Als sie mit dem Schreiben anfing, hatten wir einen sehr intensiven Austausch, haben wir telefoniert, haben uns viele Sprachnachrichten geschickt. Sie hat sich unglaublich intensiv in meine Familiengeschichte eingearbeitet. Sie hat im Vorfeld mehrere Bücher gelesen. Auch speziell zu den Deutschen in Bergtal, in Rotfront. Ich habe ihr Bücher geschickt. Dann hat sie aber auch sehr viel zu meiner Familiengeschichte gefragt. Als sie dann den Text fertig hatte, war ich unglaublich gerührt, diese Geschichte dann zu lesen. Die hat mich so berührt und ich habe mich darin komplett wiedergefunden. Ich war unglaublich dankbar, dass ich sie gewonnen habe, dass sie bereit war, sich auf diese Geschichte einzulassen, sich zu vertiefen, um den Bildern noch mal die Worte zu geben, die Bildern oft fehlen.
Ira: Ich fand den Text auch unglaublich bewegend und er rundet das Buch ganz wunderbar ab. Um nochmal auf das zurückzukommen, was Edwin über das Medienecho zu deinem Buch und der Ausstellung gesagt hat. Ich finde es immer wieder schön, dass Kultur Anlass gibt, um über Russlanddeutsche in der Öffentlichkeit zu sprechen und zwar in diesem Kontext und auch im Kontext unserer Geschichte. Nicht immer in einem politischen Kontext, wo wir in den vergangenen Jahren oft aufgetaucht sind. Deswegen schätze ich eure Arbeit sehr. Vielleicht noch abschließend zu deinem Buch, bevor wir auf das heutige Kirgistan kommen, wolltest du noch was sagen, Irina?
Irina Unruh: Ich wollte noch eine kurze Geschichte erzählen zum Echo auf die Ausstellung. Mich haben immer mal wieder Leute angeschrieben und eine Frau aus Amsterdam hatte mich angeschrieben und das fand ich unglaublich beeindruckend. Sie ist nach Detmold in das Museum gekommen, weil sie auch mennonitische Vorfahren hat. Ihr Vater war Pastor und war damals in irgendeiner Form engagiert, dass Bibeln nach Kirgistan kamen. Ihr Vater ist verstorben und sie wollte ein Stück mehr über seine Arbeit erfahren, ist nach Detmold gefahren und hat meine Ausstellung gesehen und sie plante eine Reise nach Kirgistan. Sie schrieb mich dann an und war beeindruckt von den Bildern, von dem Buch, von der Geschichte. Ich wiederrum finde das spannend, dass Menschen ins Museum finden und irgendwie ein Stückchen eines Puzzels sich einfügt. Da war jemand, der in Amsterdam lebte, der sich für die Mennoniten einsetzte. Das war ja auch ein unglaubliches Netzwerk von Kontakten und gegenseitiger Unterstützung. Und dass so neue Begegnungen stattfinden, was ich sehr schön finde. Und noch ein letzter Punkt, der mir auch ganz wichtig ist. Das Buch ist aus einer Zusammenarbeit von im Grunde drei Frauen mit russlanddeutscher Geschichte entstanden Viktoria Morasch hat eine russlanddeutsche Geschichte, was das Schreiben oder die Zusammenarbeit für sie sicherlich erleichtert hat, weil ich ihr im Detail nicht alles erklären musste. Dann aber auch Helena Melikow, die die Designerin des Buches ist. Auch sie war der Geschichte unglaublich aufgeschlossen und war dann auch bereit, das Buch so zu gestalten, dass all die Elemente, wie die Lücken und das Fehlende, dass wir das alles darstellen. Das war eine Zusammenarbeit von uns drei Frauen.
Edwin: Helena ist ja nicht nur Designerin sondern auch die Verlegerin dieses Buches. Im Shift Book-Verlag ist das Buch erschienen. Wie Ira schon angekündigt hat, wollten wir uns zum Abschluss unseres Gespräches noch kurz über das aktuelle Kirgistan unterhalten. Du bist ja häufiger da unterwegs und erlebst dieses Land ja ziemlich intensiv. Für mich scheint Kirgistan ein Land von Kontrasten zu sein. Es ist sehr reich an Natur. Da gibt es immer so ganz spannende Prospekte, die man von der spannenden Bergwelt und Landschaften des Landes sieht, aber eine extrem arme Bevölkerung. Es wird häufig als Insel der Demokratie beschrieben, gerade in den 1990ern und 2000er, aber gleichzeitig hat es auch eine ziemlich korrupte politische Elite muss man sagen und es leidet an den selben gesellschaftlichen Krankheiten wie so viele andere postsowjetischen Staaten. Mich erinnert Kirgistan immer an die Republik Moldau, wo es seit kurzem Präsidentschaftswahlen gab. Einerseits sagt man, es ist eine Demokratie, anderseits gibt es da die gleichen Herausforderungen. Wie erlebst du das moderne Kirgistan, wenn du da so unterwegs bist?
Irina Unruh: Im Grunde wie du es beschrieben hast. Sehr vielfältig und auch voller Kontraste. Ich weiß nicht, ob ich noch von einer Demokratie sprechen würde oder ob es eher schon ein autokratisches Land ist, aber da will ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich erlebe aber schon auch, dass es eine große Sorge seitens der Bevölkerung gibt. Ich habe viele kirgisische Freunde, die die Entwicklung als besorgniserregend sehen, die beschreiben, dass das Land sich verändert. Es steht vor unglaublich vielen Herausforderungen. Es ist nach wie vor unglaublich arm. Es gibt eine große Landbevölkerung, die immer wieder vor Existenzängsten steht. Gleichzeitig gibt es auch die politische Elite, die korrupt ist. Aber dann gibt wiederum eine Zivilgesellschaft. In Kirgistan gab es mehrere Revolutionen und auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Aufstände. Das ist etwas, was ich als hoffnungsvoll empfinde, dass es das noch gibt. Andererseits wie lange bleibt so etwas? Wir kennen von anderen Ländern, dass sich Entwicklungen schleichend fortsetzen.
Edwin: Ein Viertel der Wirtschaftskraft des Landes wird geschöpft aus den Überweisungen von Gastarbeitern, die meistens in Russland arbeiten. Auf der anderen Seite gibt es seit 2022, seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und speziell dann seit der Mobilisierung in Russland viele Menschen, die aus Russland nach Kirgistan geflohen sind. Das führt dann zu neuen Implikationen, zu den Ira sehr viel erzählen kann, das hat sie in Georgien auch viel erlebt. Ist es gefährlich nach Kirgisistan zu reisen? Es ist ja schon ein attraktives Ziel für Urlaub und Tourismus.
Irina Unruh: Ich sage erstmal pauschal nein. Es wird auch vom Auswärtigen Amt nicht als kritisches Reiseland gelistet. Es gibt keine Reisewarnung. Man kann in das Land vor allem als Deutscher sehr unkompliziert einreisen und solange man sich nicht auf politischer Ebene bewegt, ist es, glaube ich, gar kein Problem. Es ist nach wie vor ein sehr gastfreundliches Land. Die Menschen sind sehr offen und aufgeschlossen und man begegnet tollen Menschen in Kirgistan. Wer eine Reise nach Kirgistan plant und machen möchte, weil er das Land erleben, die Menschen kennenlernen möchte, das kann ich sehr empfehlen. Es ist ein wunderschönes Land!
Ira: Wobei du im Vorgespräch gesagt hast, dass du nicht allzu viel Werbung für Bergtal, also Rotfront, machen möchtest, weil das kürzlich nämlich passiert ist, dass ein deutscher YouTuber das angesteuert hat, weil es ja immer noch so ist, dass das Deutsche leben. Das ist ja schon was Besonderes. In meinem Geburtsdorf leben keine Deutschen mehr, nur ein einziger Mann. Das ist in Rotfront anders und er ist dahin, hat ein Video gedreht und das ist ziemlich hochgegangen auf YouTube. Und du meintest, das seitdem doch vermehrt Touristen da sind und das findest du nicht so schön, weil die Menschen sich in ihrem Alltag gestört fühlen, oder?
Irina Unruh: Das auf jeden Fall. Das gibt es nicht erst seit diesem Video. Bergtal oder Rotfront wird manchmal auch als das letzte deutsche Dorf in Zentralasien betitelt und diesen Tourismus gibt es relativ oft. Wenn deutsche aus Deutschland kommen, dann werden sogar Tagestouren nach Bergtal geplant. Manchmal sogar mit Kleinbussen mit einer Reisegruppe, die dann da hinfahren, durch das Dorf laufen und das ist kein großes Dorf. Es ist ein Dorf, in dem inzwischen auch mehrere Nationalitäten zusammenleben. Und es gibt Menschen, die da ankommen, dann durch das Dorf laufen und Ausschau nach den Deutschen halten.
Ira: Wie ein Zoo.
Edwin: Die dann natürlich als Deutsche da in diesem Dorf auffallen.
Irina Unruh: Und dann sind sie manchmal etwas überrascht, dass das Dorf nicht voller deutscher Kinder ist, die auf der Straße rumstehen. Das es gar nicht so offensichtlich manchmal ist. Bei meiner letzten Reise nach Kirgistan im Oktober, erzählte eine Verwandte, dass es Fälle gab, dass Besucher ziemlich dreist und frech in die Gärten einfach reingegangen sind und gesucht haben und ziemlich unverschämt waren. Ethik gehört auch in den Tourismusbereich. Dass man sich schon fragen sollte: Wenn ich dahinreise, was ist mein Anliegen? Möchte ich die Menschen kennenlernenden? Habe ich einen Bezug dazu oder geht es vor allem um mich, um dann sagen zu können, ich fahre zum letzten deutschen Dorf in Zentralasien. Schaut mal her! Und dann filme ich mich tolle dabei und poste das. Dann frage ich mich, was eigentlich die Intention einer solchen Reise ist. Bergtal ist schnell zu erreichen. Es sind ungefähr 60 Kilometer von Bischkek, das sind 1,5 Autostunden, und es gibt Tagestouristen, die ziemlich egoistisch sind. „Ich habe jetzt den Taxifahrer bezahlt, ich bin jetzt hier und möchte das jetzt sehen.“ Dabei vergessen sie, dass das Menschen sind, die da leben. Sie haben ihren Alltag und ihre Herausforderungen zu bewältigen. Sie haben eventuell jemanden, den sie pflegen. Sie haben eventuell jemanden, der verstorben ist. Sie befinden sich vielleicht in Trauer oder müssen zu Arbeit oder die Kinder gehen in die Schule. Die führen ihren ganz normalen Alltag. Vielleich sollte man sich fragen wenn man nach Bergtal fährt, wie man das selber fände, wenn jemand einfach in mein Leben platzen würde.
Edwin: Aber das Anziehungspotential nicht zu nutzen, würde ja auch bedeuten, dass man die Chance nicht nutzt, um auf das Kulturerbe und dieses spezielle hinzuweisen. Ich weiß, dass es in Rotfront, in Bergtal gibt es auch so etwas wie eine museale Sammlung, die organisiert wurde von einem deutsch-Deutschen, der als Lehrer dorthin gegangen ist und sich da niedergelassen hat, seit Jahren sammelt und ausstellt. Ich finde es wichtig, dass man solche Orte der Vermittlung dieser besonderen Kultur einrichtet. Ich weiß nicht, ob man von Touristenströmen sprechen kann, aber zumindest die mal dahinleitete und nicht in die Vorgärten von den Menschen, die da wohnen. Dass man das in gewisser Weise auch gestaltet. Es gibt auch das Museum, das dem Künstler Theodor Görtzen/ Herzen in seinem Geburtsort Orlowka gewidmet. Und es ist ein toller Ort auf das Kulturerbe hinzuweisen. Soweit ich weiß ist diese Museum gerade in einer prekären Lage, weil die kommunalen Behörden kein Geld mehr haben, um die Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Vielleicht findet sich jemand der Zuhörerinnen und Zuhörer, denen das deutsche Kulturerbe in Kirgisien wichtig ist und der Name Theodor Herzen auch ein Begriff ist, um da vielleicht den Behörden unter die Arme zu greifen. Es wäre schon schade, wenn das sang und klanglos untergeht und das ist wie so ein Familienalbum bleibt, wo man nicht weiß, wer auf den Bildern ist. Es gibt neben Theodor Görtzen noch den Künstler Jakob Wedel, den man auch noch erwähnen könnte. Der als ein in Kirgisien recht bekannter Bildhauer auf im allgemeinen Bewusstsein dort verankert ist. Das sind diese Möglichkeiten, die genutzt werden könnten. Jakob Wedel haben wir auch das Museum in Detmold mehr oder weniger zu verdanken. Der stand an den Ursprüngen dieses Museums. Die Werke, die er in Kirgisistan geschaffen hat – also nicht die Monumentaldenkmäler der kommunistischen Führer oder die, der kirgisischen Nationalhelden – das was er mitbringen konnte wurde zum Grundstock der Sammlung unseres Museums ausgebaut. Diese beiden Künstler – das finde ich erwähnenswert – haben sich sehr um das kirgisische Kulturerbe gekümmert. Beide haben das Nationalepos „Manas“, die Urgeschichte der Kirgisen stark bearbeitet und viele Kirgisen heute verbinden die Illustrationen und Darstellungen dieses Epos mit den Bildern dieser zwei Künstler, was eine super Symbiose, ein sehr interessantes Motiv des russlanddeutsch-kirgisischen Lebens darstellt.
Ira: Ein Grund mehr um das Museum in Detmold zu besuchen und deine Ausstellung zu „Where the poplars grow“ zu sehen. Man auch dein Buch dort kaufen und man kann es auch online bestellen.
Irina Unruh: Ich wollte noch kurz sagen, dass ich nicht dagegen bin, dass man nach Kirgistan oder Bergtal reist und das Museum besucht, das von Wilhelm Lategahn gegründet wurde. Ich war selber auch schon mehrmals da. Das ist unglaublich toll und das ist auch toll, dass es Menschen gibt, die sich engagieren, dass es diese Orte weiterhin gibt. Bei dem Museum ist es sogar so, der Wilhelm Lategahn ist oft gar nicht da, aber wenn man ihn frühzeitig anschreibt hinterlässt er sogar einen Schlüssel. Dann sagt er einem, wo man den abholen kann und man kann da alleine reingehen, was ich unglaublich spannend und toll finde. Aber genau dieses Besuchen ohne Ankündigung und dann einfach in die Privatsphäre der Menschen einzudringen, das ist etwas, was ich nicht verstehe und was ich nicht begrüße.
Edwin: Es wäre mal schön, wenn wir zusammen hinreisen, wenn du, Irina, uns quasi die Möglichkeit bietest, das aus nächster Nähe mal kennenzulernen. Vielleicht ein Reisesetting mal zusammentrommeln und gemeinsam dahinreisen.
Irina Unruh: Total gerne! Es gibt einen angeheirateten Onkel, der verbringt die Sommermonate des Jahres mit seiner Frau in Bergtal. Wenn eine Reisegruppe mit Anmeldung kommt, dann treffen die sich und dann erzählt er unglaublich viel. Er ist ein toller Geschichtenerzähler. Sowas finde ich unglaublich toll und wichtig, dass es das gibt. Ich nehme euch gerne mit nach Kirgistan.
Ira: Kirgistan steht schon sehr lange auf meiner Wunschliste und ich hoffe, dass ich bald hinkomme. Ich war noch nie dort, aber Edwin, du warst mal als Kind in Kirgistan. Welche Erinnerung hast du noch?
Edwin: Witzigerweise war ich genau in dem Jahr dort als Irina mit ihrer Familie ausgesiedelt ist. 1988 war ich mit meinen Eltern, die ja Schauspieler im Deutschen Theater in Temirtau waren. Da war das Theater auf Gastspielreisen auf Kirgisien. Kirgisien sage ich, weil es in der Sowjetunion so hieß, jetzt heißt es Kirgistan. Damals sind wir mit dem Flugzeug in Frunse, dem heutigen Bischkek, gelandet. Als wir dann gelandet und ausgestiegen sind weiß ich noch, dass das Nachts oder spät am Abend war. Ich weiß nicht, ob sich jemand noch an die Gerüche der sowjetischen Flughäfen erinnern kann. Es hat ziemlich stark nach Flugkerosin gerochen aber gleichzeitig – es war Hochsommer – hat es nach Rosen geduftete. Vielleicht war das auch Jasmin, ich weiß nicht, aber auf jeden Fall war das ein Gemisch aus Rosen und Flugkerosin. Es war sehr heiß in diesen ganzen Tagen und um die Berge – um Bischkek herum ist ja eine Hügellandschaft – brannte es ständig. Es war immer Brandgeruch, Rosen und Kerosin. Das sind meine kindlichen Erinnerungen an Kirgistan.
Irina Unruh: Edwin, was ich dir schon immer mal erzählen wollte. Ich habe meine Eltern oder meine Mutter auch schonmal gefragt, ob eine Theatergruppe mal in diese deutschen Dörfer gekommen ist, um da Aufführungen zu machen und meine Mutter sagte: Sie kann sich an nichts erinnern. Nicht in der Zeit als wir da lebten. Das passt ja ziemlich gut. Als wir dann weg waren, dann seit ihr doch gekommen.
Edwin: Absolut. Kirgistan ist ja eher ein Bergland, aber verbindest du auch Gefühle mit der Steppe?
Irina Unruh: Auf jeden Fall. Kirgistan ist ja nicht nur ein Bergland, da gibt es auch viel Steppe. Es gibt auch ein Steppenbild in meinem Bildband bei den Pappeln, wo das älteste Familienporträt eingeklebt ist. Was ich mit der Steppe verbinde? Ich habe für mein Buch ganz viel gefragt bei meinen Tanten, wie es Oma ging? Hat sie was erzählt, wie hat sie sich gefühlt, als sie nach Kirgistan gekommen sind? Sie war 14, ein Teenager. Sie hatte ja schon gute Erinnerungen. Meine Tanten erzählten, dass sie vor allem erzählt hat, dass sie aus Sibirien nach Kirgistan kam. Dass in Kirgistan alles trocken war und das sie so geschockt war über die Trockenheit. Und bei mir ist das auch ganz oft so, wenn ich nach Kirgistan fliege, fliege ich meistens so, dass ich in den Morgenstunden lande und dann hat man einen tollen Blick über die Landschaft und auch über die Steppenlandschaft. So dass ich aus dem Flugzeug immer schon sehe, ob es ein trockener oder ein regnerischer Sommer war. So dass ich die Farbe der Steppe eigentlich immer mit Kirgistan verbinde und ich mich immer wieder freue, dass man selbst in solchen Landschaften, die sehr karge Landschaften auch sind, leben kann und dass da vielfältiges Leben stattfindet.
Ira: Sehr schön! Ich schlage vor, wir sagen Tschüss mit diesem wunderschönen Bild im Kopf unserer Zuhörerinnen und Zuhörer. Es war mir ein Fest mit dir ins Gespräch zu kommen, Irina.
Irina Unruh: Ich danke euch herzlich für die Einladung und für das Interesse an dem Buch. Ich habe mich sehr gefreut.
Edwin: Danke. Bis bald!